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Transportstreik in Frankreich dauert fort, zentrale Aktionstage der Streik- und Sozialprotestbewegung am Dienstag und Donnerstag dieser Woche

Demo in Paris am 5.12.2019 - Foto von Bernard SchmidNeue zentrale Aktionstage der Streik- und Sozialprotestbewegung am Dienstag und Donnerstag dieser Woche – Der Verkehrsstreik beginnt Wirkungen zu zeitigen – Die Regierung will erstmals Klartext in den bisherigen Nebel ihrer Ankündigungen bringen. (…) In einer Reihe von Branchen und Sektoren wird gestreikt: in den Transportmitteln, im öffentlichen Bildungswesen, in Krankenhäusern, in der chemischen und petrochemischen Industrie. Nein, ein Generalstreik im Wortsinne – ihn bräuchte es –  ist es derzeit nicht. Oder auch „noch nicht“, wie der Generalsekretär der Union syndicale Solidaires – Zusamenschluss der SUD-Gewerkschaften – am Freitag mittag im Fernsehen erklärte. Um dann hinzuzufügen: „Allmählich sieht die Sache ihm aber ähnlich!“, unter Verweis auf die weitere Entwicklung der Mobilisierung (…) Unterdessen will die Regierung, die bislang die genauen Inhalte der Reform nur scheibchenweise und über Monate hinweg enthüllen wollte, jedoch die Wucht der Protestmobilisierung unterschätzt hatte – bereits zum Auftakt-Tag am vorigen Donnerstag, 05. Dezember 19 konnten frankreichweit über eine Million Menschen mobilisiert werden -, nun „endlich“ den Nebel um ihre Pläne ein wenig lüften…“ Artikel von Bernard Schmid vom 9.12.2019 – wir danken!

Transportstreik in Frankreich dauert fort, zentrale Aktionstage der Streik- und Sozialprotestbewegung
am Dienstag und Donnerstag dieser Woche

Neue zentrale Aktionstage der Streik- und Sozialprotestbewegung am Dienstag und Donnerstag dieser Woche – Der Verkehrsstreik beginnt Wirkungen zu zeitigen – Die Regierung will erstmals Klartext in den bisherigen Nebel ihrer Ankündigungen bringen

Über 250 Kilometer Staus rund um Paris waren an diesem Montag bereits um 06.30 Uhr zu verzeichnen; um sieben Uhr, kurz vor Abschluss dieses Artikels waren bereits die 400 Kilometer überschritten (vgl. bspw. im Ticker: https://www.lci.fr/social/en-direct-greve-sncf-ratp-air-france-les-infos-sur-les-perturbations-et-les-previsions-de-trafic-lundi-9-decembre-2139696.html externer Link). Um 07.34 Uhr fiel die Meldung, es seien 500 Kilometer Staulänge (unterschiedliche Stellen zusammengerechnet) erreicht. Um punkt 08.00 Uhr waren dann die 600 Kilometer voll.

Der fortdauernde Transportstreik in den öffentlichen Verkehrsmitteln beginnt nun, konkrete Auswirkungen zu zeitigen. Beim Streikbeginn am vorigen Donnerstag, den 05. Dezember 19 wurden diese Folgewirkungen noch dadurch zurückgehalten, dass viel Einwohner/innen des Großraums Paris (wie wir am vorigen Freitag an dieser Stelle berichteten externer Link) zunächst Urlaubstage oder Freizeitausgleich genommen hatten und ihre Mobilität am ersten Streiktag oft auf den eigenen Stadtteil reduzierten. Diese Phase ist nun vorüber. Dadurch dürften sich nun auch Auswirkungen auf die „Produktivität“ anderer Wirtschaftszweige abzeichnen.

Am Montag früh kam es zu Auseinandersetzungen vor Busdepots, bei denen Streikende versuchten, Nichtstreikende an der Arbeitsaufnahme zu verhindern. Der Streik schlägt bei den Nahverkehrszügen der Eisenbahngesellschaft SNCF, aber auch bei den Métro-Linien des Pariser Transportbetreibers RATP durch (mit Ausnahme der Linien 1 und 14, die seit Jahren vollautomatisiert fuhren, also ohne Fahrer/in), jedoch verkehrten bis dato circa zwei Drittel der Buslinien. Die Zusammensetzung des Personals dort ist jeweils eine andere. Die Belegschaft bei den Métro-Linien ist stärker räumlich konzentriert und hat einen höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Seitdem 2003 die bis dato bestehende, diskriminierende Staatsbürgerschaftsklausel bei der RATP fiel – zuvor konnten nur französische Staatsangehörige dort eingestellt werden -, ist vor allem bei den Bus-Linien ein neu zusammengesetztes Publikum angestellt worden. Das ist grundsätzlich positiv, jedoch erreichten die Gewerkschaften die neuen Personalschichten dort bislang anscheinend nur unzureichend. Überdies sind die Busfahrer/innen geographisch wesentlich stärker verteilt.

In einer Reihe von Branchen und Sektoren wird gestreikt: in den Transportmitteln, im öffentlichen Bildungswesen, in Krankenhäusern, in der chemischen und petrochemischen Industrie. Nein, ein Generalstreik im Wortsinne – ihn bräuchte es – ist es derzeit nicht. Oder auch „noch nicht“, wie der Generalsekretär der Union syndicale Solidaires – Zusamenschluss der SUD-Gewerkschaften – am Freitag mittag im Fernsehen erklärte. Um dann hinzuzufügen: „Allmählich sieht die Sache ihm aber ähnlich!“, unter Verweis auf die weitere Entwicklung der Mobilisierung (vgl. dazu im nächsten Abschnitt). Am selben Tag forderte CGT-Generalsekretär Philippe Martinez zu einer „Generalisierung von Streiks“ in den unterschiedlichen Branchen auf. (Vgl. bspw. https://www.lci.fr/politique/reforme-des-retraites-philippe-martinez-cgt-appelle-a-generaliser-les-greves-dans-toutes-les-entreprises-2139640.html externer Link)

Neue Mobilisierungs-Höhepunkte

Neue zentrale Aktionstage mit Streiks und Demonstrationen wurden durch die Versammlung der intersyndicale, des Zusammenschlusses mehrerer Gewerkschaftsverbände – unter ihnen die CGT, SUD und Force Ouvrière –, am Freitag um die Mittagszeit auf den Dienstag und Donnerstag dieser Woche, also 10. und 12. Dezember 19, angesetzt. Auch in den Raffinerien wurde, etwa im Raum Marseille, am Freitag früh eine Fortführung des Arbeitskampfs beschlossen. Am Freitag mittag befanden sich sieben von acht Raffinerien in Frankreich im Streik.

Unterdessen will die Regierung, die bislang die genauen Inhalte der Reform nur scheibchenweise und über Monate hinweg enthüllen wollte, jedoch die Wucht der Protestmobilisierung unterschätzt hatte – bereits zum Auftakt-Tag am vorigen Donnerstag, 05. Dezember 19 konnten frankreichweit über eine Million Menschen mobilisiert werden -, nun „endlich“ den Nebel um ihre Pläne ein wenig lüften.

Am Montag und Dienstag, 09./10. Dezember, will bzw. soll ihr Sonderbeauftragter für die Renten„reform“, Jean-Paul Delevoye, nunmehr nochmals die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu „Konzertierungsgesprächen“ treffen. Bislang wurden diese zwar offiziell in die Vorbereitung der Renten„reform“ eingebunden; dies bedeutete jedoch nur, dass sie mit den durch die Regierung als opportun betrachteten, durch diese publizierten Informationen abgespeist wurden. Nunmehr soll es etwas konkreter werden.

Am Mittwoch, den 11. Dezember d.J. will dann Premierminister Edouard Philippe vor die Presse treten und die von ihm beschlossenen Richtlinien verkünden. Bis dato wollte Philippe solche Ankündigungen zur Renten„reform“ über die Länge bis Juni 2020 strecken, wohl in der Vorstellung, die Öffentlichkeit werden sich schon irgendwie daran gewöhnen und Protest werde über die Wochen hinweg verpuffen. Nun will er die Dinge also einmal konkretisieren, und wird sicherlich ein paar Zugeständnisse oder jedenfalls Pseudo-Zugeständnisse einbauen müssen. Es hatte sich herausgestellt, dass der nebulöse Charakter, der die genauen „Reform“pläne der Regierung jedenfalls bisher umgibt (von einigen bekannten Grundkonstanten abgesehen), die Befürchtungen und also auch den Zorn eher steigerte denn abschwächte. Bürgerliche Journalisten sprechen nun, etwa in den Studiorunden bei den privaten TV-Sendern, von „Kommunikationsfehlern“ und psychologischen Mängeln im bisher an den Tag gelegten Regierungsvorgehen.

Und wie ist die Stimmung vor Ort…?

Die Diskussion in der überfüllten Straßenbahn, die einen Teil des Passagieraufkommens der bestreikten Métro auffangen muss, amüsiert die Umstehenden. Die nette Dame um die vierzig mit algerischem Migrationshintergrund arbeitet für das staatliche Energieversorgungsunternehmen EDF. Sie habe am vorigen Donnerstag an der Protestdemonstration gegen die Renten„reform“ teilgenommen, erzählt sie, doch nur einen Teil des Tages gestreikt. „Wir müssen derzeit die Stromversorgung für Tausende von Haushalten, die wegen Extremwetterlagen unterbrochen wurde, wiederherstellen. (Vgl. dazu: https://www.lefigaro.fr/actualite-france/vastes-coupures-de-courant-a-paris-et-en-ile-de-france-20191127 externer Link) Mein soziales Gewissen veranlasst mich, die Leute nicht hängen zu lassen. Gleichzeitig wollen auch wir den Streik unterstützen“. Deswegen habe sie zwei Stunden gestreikt, dann wieder gearbeitet, dann demonstriert.

Der Einwand vom Verfasser, man könne doch auch gezielt bei Regierungsstellen den Saft abdrehen, erheitert die Umstehenden und erntet Kopfnicken.

Kurze Zeit später meldet übrigens die Nachrichtenagentur AFP, dass tatsächlich am selben Tag – Freitag voriger Woche – zeitweilig im Elyséepalast, wo Frankreichs Präsidenten residieren, vorübergehend der Strom ausfiel, wofür Streikende gesorgt hatten.

Von Unmut gegen die Streikenden ist hier im Tramway nicht zu spüren, während zahlreiche Fernsehsender Tag für Tag ein dunkles Bild zeichnen. Vom „schwarzen Tag im Personenverkehr“ ist da mit ermüdender Regelmäßigkeit die Rede, von „als Geiseln genommenen Fahrgästen“. Die Leute, die sich hier an der Station porte de Montreuil mit Mühe in die Straßenbahn quetschen, weil andere Verkehrsmittel ausfielen, schimpfen jedenfalls auf die Regierung und nicht auf die Streikenden. Glaubt man den Umfragen etablierte Institute, teilten am vorigen Donnerstag zu Beginn des Streiks in vielen Branchen – je nach Befragung – 58 bis 69 Prozent eine solche Position und erklärten dem Arbeitskampf ihre Unterstützung. Das sind ähnliche Propositionen wie im Herbst 1995. Damals konnte ein Streik in den öffentlichen Diensten von vierwöchiger Dauer eine geplante „Reform“ des Rentensystems verhindern und die seinerzeitige Regierung unter Alain Juppé zu ihrer Rücknahme zwingen.

Unerbetene „Unterstützung“

Unterdessen wurde ein ungewollter Gast, der sich mehr oder minder angekündigt hatte, nicht gesichtet: Auf der extremen Rechten hatte zwar Marine Le Pen – stets um soziale Demagogie bemüht – ihre angebliche „volle Unterstützung“ behauptet. Sie hatte angekündigt, selbst nicht zu demonstriert, jedoch den Mitgliedern ihrer Partei, in deren Reihen dieses Vorgehen umstritten ist und von wirtschaftsliberalen Flügelkräften angeprangert wird „eine Teilnahme freigestellt“. Ihre Partei, der Rassemblement National (RN, „Nationale Sammlung“), wurde jedoch absolut nicht gesichtet; jedenfalls nicht in Paris. Später wurde bekannt, dass einer ihrer Abgeordneten, der frühere Konservative Sébastian Chenu, versucht hatte, zu demonstrieren. Er zeigte sich im Internet auf Photos mit Bildern vom Protestzug. Was er nicht erwähnte, jedoch alsbald publik wurde, war, dass er nach kurzer Zeit durch die CGT hinausgeworfen wurde.

Der RN sammelt nun Unterschriften unter eine Petition für eine „Volksabstimmung zur Rentenreform“ (vgl. https://www.lefigaro.fr/flash-actu/retraites-le-rn-lance-une-petition-pour-reclamer-un-referendum-sur-la-reforme-20191205 externer Link) – Als “Alternative” zu den sozialen Kämpfen?!?

Unglücklicherweise ließ sich der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon Ende vergangener Woche dazu verleiten, öffentlich zu behaupten, Marine Le Pens (von sozialer Demagogie geleitete) Positonierung sei “ein Schritt in Richtung Humanismus” von ihrer Seite, und ihre Parteigänger/innen seien in der Mobilisierung willkommen. (Vgl. dazu: http://www.leparisien.fr/politique/marine-le-pen-et-l-humanisme-ce-qu-a-dit-melenchon-06-12-2019-8211225.php externer Link – und in einer explizit rechten Quelle: https://www.valeursactuelles.com/politique/melenchon-salue-les-progres-humanistes-du-rn-et-fait-un-tolle-113765 externer Link) Gelinde ausgedrückt: Dies hätte nun wirklich nicht sein müssen! Echt nicht! Hinterher will der Mann es dann nicht so gemeint haben (vgl. https://www.laprovence.com/actu/en-direct/5794163/progres-en-direction-de-lhumanisme-de-le-pen-melenchon-revendique-une-pique.html externer Link).

Oder: Bitte nicht noch mal die Dummheiten der KPD gegenüber den Nazis beim Berliner Verkehrsstreik im November 1932 wiederholen…

Pop, Stolizei, ähm: Stei – Polizop

Innenminister Christophe Castaner verkündete am vorigen Mittw., den 04. Dezember 19, die Polizisten jedenfalls würde ihre eigene Sonderregelung für die Rente bewahren – während alle anderen Sonderregelungen, sofern sie günstiger ausfallen als die gesetzliche Regelrente, eingestampft werden sollen. Natürlich ging es dabei auch darum, Personal für ein eventuelles repressives Vorgehen gegen „ausufernde“ Proteste bei der Hand zu haben, nachdem auch Polizistengewerkschaften und Personalvertreter zuvor eine Beteiligung an den Protesten in Aussicht gestellt hatten. Die Personalvertreter der gerichtsmedizinischen Labore der Polizei hatten etwa ihre Demonstrationsbeteiligung angekündigt (vgl. dazu eine AFP-Meldung: https://www.lefigaro.fr/flash-actu/reforme-des-retraites-des-policiers-scientifiques-rejoignent-la-contestation-1-20191204 externer Link)

Am Donnerstag waren allein in Paris 6.000 Polizisten und Gendarmen mobilisiert. In ganz Frankreich hatte die Regierung ursprünglich geplant, die Hälfte aller überhaupt vorhandenen Polizeieinheiten – es gibt in Frankreich knapp 150.000 Polizisten – zu mobilisieren. Die Zeitschrift Marianne berichtete darüber; ihren Angaben wurde die Zahl gegenüber ersten Plänen leicht eingedampft, auf 55 von 120 bis 130 existierenden Großverbänden, die am Einsatz teilnahmen.

Artikel von Bernard Schmid vom 9.12.2019 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=158942
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