[SGB VII: Gesetzliche Unfallversicherung] Ein neues Gesetz könnte zehntausenden berufskranken Menschen helfen – und geht Experten doch nicht weit genug

Dossier

[Buch] Kranke Arbeitswelt. Ethische und sozialkulturelle Perspektiven [Buch] Kranke Arbeitswelt. Ethische und sozialkulturelle Perspektiven von Wolfgang Hien beim VSA-Verlag„… Menschen, die bei der Arbeit krank werden, sollen in Zukunft häufiger entschädigt werden. Das geht aus einem Entwurf für ein neues Berufskrankheitenrecht hervor, den das Bundesarbeitsministerium vor wenigen Tagen vorgelegt hat. Die geplanten Änderungen könnten zehntausenden Menschen die Chance auf eine Rente oder Reha-Maßnahmen geben, die bisher nicht für ihre beruflichen Erkrankungen entschädigt wurden. Experten kritisieren jedoch, dass die lang erwartete Reform des Berufskrankheitenrechts weit hinter Vorschlägen zurückbleibt, die zum Teil seit Jahren vorliegen. Betroffene hätten auch mit dem neuen Gesetz noch immer viel zu schlechte Chancen auf eine Entschädigung. Jedes Jahr sterben in Deutschland gut 2500 Menschen an einer Berufskrankheit, das sind fast so viele Tote wie im Straßenverkehr. 75.000 Menschen zeigen jedes Jahr eine Berufskrankheit an, nur gut ein Viertel bekommt danach eine Entschädigung. In anderen Ländern, wie Frankreich, Spanien oder Dänemark werden deutlich mehr Berufskrankheiten anerkannt. (…) Neun Berufskrankheiten, von starken Rückenschmerzen über schwere Hautkrankheiten bis hin zu chronischen Sehnenscheidenentzündungen, waren bisher von einer Entschädigung ausgeschlossen, wenn die Betroffenen weiter gearbeitet haben, der sogenannte „Unterlassungszwang“. Viele Menschen haben sich deshalb in der Vergangenheit dafür entschieden, lieber weiter zu arbeiten. Ohne Job und nur mit der geringen Entschädigung der Berufsgenossenschaften hätten sie ihr Leben nicht finanzieren können. Die Bundesregierung schreibt nun, dass dies „unangemessene Nachteile für die Versicherten“ nach sich gezogen habe. Über Jahrzehnte haben wegen des Unterlassungszwangs jedes Jahr tausende Menschen keine Entschädigung bekommen. Die von den Arbeitgebern finanzierten Berufsgenossenschaften haben so über die Jahrzehnte konservativ geschätzt mehrere hundert Millionen Euro gespart, vermutlich sogar mehrere Milliarden Euro. Jetzt wird dieser Unterlassungszwang abgeschafft…“ Beitrag von Daniel Drepper vom 10. Oktober 2019 bei BuzzFeed News externer Link – siehe dazu den Entwurf und erste Kommentare:

  • Berufskrankheiten: Neues Gesetz – ganz im Sinne der Arbeitgeber New
    „… Pflegerinnen mit Bandscheibenvorfall, Dachdecker mit Knieproblemen oder Bauarbeiter mit Lärmschwerhörigkeit: Jedes Jahr werden in Deutschland Zehntausende Menschen durch ihre Arbeit ernsthaft krank. Doch nicht einmal jeder Vierte von ihnen bekommt eine Berufskrankheit anerkannt oder wird entschädigt. In anderen Ländern wie Frankreich, Spanien oder Dänemark werden deutlich mehr Berufskrankheiten anerkannt. Das kritisieren Arbeitsschützer seit Jahren, und auch die Bundesländer fordern schon lange eine Reform des Berufskrankheitenrechts vom Bund. Die ist nun endlich in Arbeit: Das Bundesarbeitsministerium hat einen Entwurf vorgelegt, der die Anerkennung und Entschädigung von Berufskrankheiten neu regeln soll. Doch in vielen Bundesländern sind die zuständigen Fachleute nach Informationen von Süddeutscher Zeitung und Buzzfeed News alles andere als zufrieden mit dem Entwurf: Die vorgesehenen Änderungen seien unzureichend, der Bund sei viel zu sehr auf die Interessen der Arbeitgeber eingegangen. Die Bundesländer würden von der Bundesregierung ausgebootet, kritisieren im Gespräch mit SZ und Buzzfeed News mehrere Ländervertreter, die offiziell nicht mit Medien über ihre Arbeit sprechen dürfen. Das Bundesarbeitsministerium wolle das neue Berufskrankheitenrecht im Interesse der Unternehmen möglichst schnell durchwinken. Die Bundesländer fordern dagegen eine Reihe von Nachbesserungen. Eine entsprechende Stellungnahme soll am kommenden Freitag im Bundesrat verabschiedet werden. So wollen die Bundesländer erreichen, dass Betroffene mehr Rechte bekommen und die Unfallversicherungen mehr Menschen entschädigen müssen…“ Artikel von Christina Berndt und Daniel Drepper vom 11. Februar 2020 bei der Süddeutschen Zeitung online externer Link, siehe dazu auch:

    • Pech gehabt. Berufskrankheiten, die seit Jahren beklagten Defizite im Recht ihrer Anerkennung mit daraus resultierenden Leistungen – und nun ein „ungesundes Gesetz“ im Sinne der Arbeitgeber?
      „… Das nun ist ein ganz besonderer Zweig der Sozialversicherung, denn anders als die anderen großen Systeme wie Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung wird die Unfallversicherung eben nicht (wenigstens auf dem Papier) paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert, sondern sie speist sich ausschließlich aus Arbeitgeber-Beiträgen. Und die sind auch noch risikogestaffelt, also Unternehmen aus Branchen mit einem höheren Schadensaufkommen müssen auch mehr abdrücken als andere. Vor diesem Hintergrund erschließt es sich relativ schnell, dass man im Arbeitgeberlager – unabhängig von der real existierenden grundsätzlichen Nachweisproblematik – kein großes Interesse an einer Ausweitung der Schadensfälle hat. (…) Vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick auf die grundsätzliche Problematik des Themas. Dazu der Beitrag zur anstehenden Reform des Berufskrankheitenrechts von Hans-Jürgen Urban vom Vorstand der IG Metall in der Zeitschrift „Soziale Sicherheit“ (Heft 7/2019, S. 275 ff.): „Blick zurück und nach vorn“, so ist der überschrieben: »Die Kluft zwischen Verdachtsfällen und Anerkennungen einer Berufskrankheit ist groß und die Hürden auf dem Weg zu einer Leistung sind hoch – für viele Betroffene zu hoch. Seit Jahren drängt die IG Metall den Gesetzgeber, die bestehenden Defizite im Berufskrankheitenrecht zu beseitigen. (…) Die Arbeitgeber »allein finanzieren die Berufsgenossenschaften mit ihren Beiträgen. Aus geringen Anerkennungsquoten und Leistungen resultieren niedrigere Beiträge und damit niedrigere Lohnnebenkosten, was wiederum die preisliche Wettbewerbsfähigkeit fördert«, so Urban. (…) Aber das, was bislang aus dem BMAS zu hören ist, deutet nicht darauf hin, dass man den Vorschlägen der IG Metall und auch anderer Parteien, Organisationen und Einzelpersonen folgen möchte.“ Beitrag von Stefan Sell vom 11. Februar 2020 auf seiner Homepage externer Link
    • Es handelt sich hier vor allem um eine Versicherung der AG. Letztere Zahlen einen geringen Versicherungsbeitrag und können dann nicht mehr nach dem BGB-Schadensersatzrecht haftbar gemacht werden. Möglichst kostengünstiger gesundheitlicher Verschleiß der Arbeitskraft ist der hauptsächlich Sinn von SGB VII. Und die Urteile dazu sind entsprechend meist auch eine Frechheit (selbst der Toilettengang während der Arbeit sei nicht versichert!). Die Sozialgerichte tun fast immer alles, damit die Betroffenen AN kein Geld bekommen.
  • Die „Reform“: Was eigentlich passieren müsste bei der Gesetzlichen Unfallversicherung
    „… Gutachter müssen offenlegen, für wen sie arbeiten, wie oft, – mit welchem Ergebnis, und wie die finanzielle Entlohnung aussieht. Außerdem: die Gutachten müssen grundsätzlich einsehbar sein, damit man sie jederzeit gegenchecken kann. Persönliche Sozialdaten und anderes kann man heutzutage auf einfache Weise schwärzen. (…) Umkehr der Beweislast (…) Im Sozialrecht gelten sehr viel strengere Beweisanforderungen als im gesamten übrigen Zivilrecht. Nur das Strafrecht kann da – aus nachvollziehbaren Gründen – mithalten. Die Sozialgerichtsbarkeit stellt – aus welchen Gründen auch immer – auf den „Vollbeweis“ ab. Der ist allerdings nirgendwo definiert oder kodifiziert. Die Vollbeweis-Theorie scheint sich – ganz offenbar – im Lauf der Zeit herausgebildet zu haben. Weil niemand widersprochen oder diesen Zusammenhang hinterfragt hat, gilt er – derzeit – als herrschende Meinung. Und wird so praktiziert, weshalb es in sehr vielen Fällen oft nicht mehr möglich ist, einen Kausalzusammenhang zwischen Einwirkung von Schadstoffen und gesundheitlichen Folgen „im Vollbeweis“ darzustellen. Zu Lasten der am Arbeitsplatz Geschädigten…“ Wichtige Verbesserungsvorschläge von und bei ansTageslicht.de vom 16. Oktober 2019 externer Link
  • Nach der Reform ist vor der Reform: das System Berufskrankheit ist krank
    „… Das System „Gesetzliche Unfallversicherung“ krankt. Davon zeugen die weiter unten 6 in Kurzform dargestellten Beispiele von Betroffenen. Und das hat konkrete Gründe. Denn das System versagt auf vier Ebenen: 1. Es funktioniert als unreguliertes Monopol, 2. zeichnet sich durch strukturelle Ungleichgewichte zwischen Versicherung und Versicherungsnehmer aus, 3. ist geprägt von systemischen Interessenskonflikten und 4. arbeitet praktisch ohne Kontrolle. Stattdessen: politische Apathie. (…) Das Monopol besteht – formaljuristisch – aus einem eingetragenen Verein namens „Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V.,, abgekürzt DGUV. Sie ist das zentrale Dach aller Berufsgenossenschaften, die als öffentlich-rechtliche Körperschaft konstituiert sind. Über das zentrale Dach läuft die politische Lobbyarbeit, die Zuarbeit bzw. die gezielte Einflussnahme auf entscheidungsrelevante Gremien im Vorfeld der Politik sowie die zentrale Strategie und Steuerung in allen juristischen Fragen, wenn Betroffene sich mit Ablehnungsbescheiden nicht zufrieden geben wollen oder können und vor den Sozialgerichten klagen. Als „Verein“ entzieht sich dieses zentrale Dach jeglicher politischer Kontrolle. Auch wenn der Bundesrechnungshof inzwischen und grundsätzlich das Finanzgebaren überprüfen darf: Es betrifft ausschließlich die Funktion Nr. 4. Nicht die Funktionen 1 bis 3. (…) Was als berufsbedingte Krankheit mit grundsätzlicher Entschädigungspflicht anerkannt werden soll, entscheidet im politischen Vorfeld der „Ärztliche Sachverständigenbeirat ‚Berufskrankheiten'“, abgekürzt ÄSVBR BK, der beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) angesiedelt ist und Empfehlungen ausspricht. Sie werden im Rahmen einer Verordnung übernommen, so dass der Bundestag als höchstes gesetzgeberisches Organ in Deutschland außen vorbleibt. Lediglich der Bundesrat muss zustimmen. (…) Wer seine selbst gesetzten Regeln auch selbst interpretieren und danach umsetzen kann, verfügt über Macht. (…) Das war ursprünglich die Idee: die Haftung der Unternehmen und die damit verbundenen Kosten im Ernstfall auf eine zentrale Versicherung zu übertragen, die dann immer einspringt, wenn es notwendig wird. Der erste Teil der Idee ist bis heute existent: Die gesamten Aufwendungen für Arbeitsunfälle und anerkannte Berufskrankheiten werden im Wege einer Umlage von den Unternehmen erhoben, die dafür einen Zwangsbeitrag in die GUV einzahlen, dessen Höhe nach Gefahrenklassen differenziert wird. Im Durchschnitt liegt dieser Betrag bie etwa 25 Euro pro versichertem Arbeitnehmer und Monat. (…) Der zweite Teil der Idee funktioniert wie hier skizziert: Nur in den wenigsten Fällen kommt es zu einer Anerkennung einer BK: in 27% der Fälle generell, aber nur in 7% aller Anträge wird beispielsweise eine BK-Rente gezahlt. (…) So ist dieses System für die Betroffenen, die am und durch ihren Arbeitsplatz erkranken und ggfs. berunfähig werden, kein gutes Konzept, aber für die Unternehmen eine „billige Versicherung, die in hoheitlichem Gewand“ einherkommt, wie dies ein Ehemaliger aus dem System formuliert hat. Ideal für die Wirtschaft schon deswegen, weil man mit den monopolisierten Funktionen Nr. 1 bis 3 die Funktion der Kostenträgerschaft optimieren kann. Sprich: minimieren kann. Die Betroffenen bleiben dabei im „Sozialen Rechtsstaat“ Bundesrepublik Deutschland im Regelfall auf der Strecke…“ Beitrag von und bei ansTageslicht.de vom 15.Oktober 2019 externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=156001
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