Ein rotes Tuch. Das Bedingungslose Grundeinkommen und die Gewerkschaften

Was würden Sie arbeiten, wenn für Ihr Einkommen gesorgt wäre?Während das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) in Gesellschaft und Politik heiß diskutiert wird, immer mehr Parteien es in ihr Programm aufnehmen, und sich viele Gewerkschaftsmitglieder damit beschäftigen, tun sich die  Gewerkschaftsführungen nicht nur schwer mit der Idee, sondern auch mit der ehrlichen Auseinandersetzung. Dieser Beitrag will mögliche Gründe und Auswege aus der Diskussionsblockade bieten. Denn mit oder ohne Grundeinkommen – in einer veränderten Arbeitswelt müssen sich auch die Gewerkschaften neu erfinden…“ Artikel von Olga Masur als erweiterte Fassung des Artikels im ak Nr. 630 vom 19. September 2017 – wir danken!

Ein rotes Tuch. Das Bedingungslose Grundeinkommen und die Gewerkschaften

Während das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) in Gesellschaft und Politik heiß diskutiert wird, immer mehr Parteien es in ihr Programm aufnehmen, und sich viele Gewerkschaftsmitglieder damit beschäftigen, tun sich die Gewerkschaftsführungen nicht nur schwer mit der Idee, sondern auch mit der ehrlichen Auseinandersetzung. Dieser Beitrag will mögliche Gründe und Auswege aus der Diskussionsblockade bieten. Denn mit oder ohne Grundeinkommen – in einer veränderten Arbeitswelt müssen sich auch die Gewerkschaften neu erfinden.

In der MDR-Sendung »Fakt ist!« spricht Bernhard Jirku, Bereichsleiter Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik bei ver.di, vom Hartz IV Arbeitslosengeld ALG II als „einem Grundeinkommen“ und vom Grundeinkommen als einem „Kombilohnmodell“. Eine Zuordnung, die Katja Kipping, Bundesvorsitzende DIE LINKE, als „unredlich“ bezeichnet, was er wiederum „Begriffsklauberei“ nennt.(1) Diese Begriffsverdrehung ist symptomatisch für die Diskussion des BGE bei Gewerkschaftsfunktionären. Auch Ralf Krämer, Mitglied im Parteivorstand der LINKEN und Gewerkschafter im ver.di Bundesvorstand im Bereich Wirtschaftspolitik spricht in ak 627 vom Grundeinkommen als „Universellem Kombilohn“.
Es ist schwierig, ein neues System mit alten Begriffen erfassen zu wollen, aber diese Vermischung ist mutwillig. Zumal die Gewerkschaften den „Kombilohn“ erst möglich gemacht haben, indem sie den Mindestlohn blockierten, den die SPD parallel zu Hartz IV einführen wollte. Sie fanden ihn „undifferenziert“, wollten nicht, dass einzelne Gruppen ausgenommen werden – und sprachen dann lieber gleich ganz dagegen. Und sie fürchteten wohl auch, an Bedeutung zu verlieren. Die Folge waren Aufstockdesaster und Milliarden Steuersubventionierungen für skrupellose Unternehmen, die Menschen Vollzeit zu Löhnen beschäftigten, von denen sie nicht leben können – und die diese trotzdem nicht ablehnen konnten.

Für ein Grundeinkommen nach klaren Kriterien

Heute fürchten sie, dass das BGE den Sozialstaat zerstört. Ralf Krämer gibt zu bedenken, dass Neoliberale dafür plädieren. Und er tut gut daran, Modelle, die nicht mal zum Leben reichen, kritisch zu sehen. Menschen wären damit den Konzerninteressen sogar noch hilfloser ausgesetzt als bisher. Ein Bürgergeld à la FDP – weder bedingungslos noch existenzsichernd – würde zu einer noch schlimmeren Situation führen als Hartz IV.
Wenn sich Gewerkschaften jedoch der Diskussion um ein echtes Grundeinkommen versperren, machen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit denselben Fehler wie beim Mindestlohn.

Zumal die Kriterien für ein Grundeinkommen klar sind:

  1. Bedingungslos
  2. Sanktionslos
  3. Als individueller Rechtsanspruch (unabhängig von „Bedarfsgemeinschaften“)
  4. in einer Höhe, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht.

Und da etwa ein Blinder andere Leistungen braucht, damit er kulturell teilhaben kann, wird es auch entsprechende Zusatzleistungen für besondere Bedarfe geben. Wie auch immer Detailfragen in Bezug auf Renten-, Pflege- und Krankenversicherung geregelt werden, dieses Mindestmaß, das gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe ermöglicht, darf nicht unterschritten werden, damit von einem echten Grundeinkommen geredet werden kann.

Keine Altersarmut, keine Kinderarmut und die Möglichkeit, Nein zu sagen zu schlecht bezahlter oder sonstwie entwürdigender Arbeit. Gesicherte Übergänge in einer stark hybridisierten Arbeitswelt, in der unterschiedliche Erwerbsformen, Arbeit und Freizeit immer stärker verschmelzen, und die – etwa durch Projektarbeit und Fortbildung – von Brüchen geprägt ist. Das BGE würde das auffangen und könnte so zur Stärkung von Löhnen und schließlich zur Stärkung der Gewerkschaften führen, deren Mitglieder ohne Existenzangst für ihre Interessen eintreten könnten. Letztlich könnte ein echtes, gewerkschaftsgetragenes Grundeinkommen den Sozialstaat retten.

Ralf Krämer schreibt (a.o.a.O.): „Die emanzipatorische Alternative liegt in der humanen Gestaltung, Demokratisierung, Verkürzung und gerechten Verteilung aller gesellschaftlich notwendigen Erwerbsarbeit wie der unbezahlten Arbeit auf alle arbeitsfähigen Mitglieder der Gesellschaft.“ Und man fragt sich: Wo ist der Widerspruch zum Grundeinkommen?! Richtig, die bezahlte Arbeit ist ebenso ungerecht verteilt wie die Unbezahlte: Zwei Drittel aller Arbeiten werden unbezahlt bzw. freiwillig geleistet; und zwei Drittel davon wiederum von Frauen. (Ob Männer, die gegen ein BGE sprechen insofern besonders glaubwürdig und emanzipatorisch einzustufen sind, sei dahingestellt. Was fehlt, sind Studien und Umfragen, wie viele Frauen dafür sind im Vergleich zu Männern.) Und gerade notwendige und unangenehme Arbeiten werden oft gar nicht oder schlecht bezahlt. Auch leistungslose Einkommen durch Erbschaft oder Subventionen sind Teil dieser Ungerechtigkeit. Das muss sich ändern – und das BGE wäre ein Anfang. Selbst die familienfreundliche 30-Stunden Woche, für die die Gewerkschaften streiten – oder vielmehr eigentlich aufgegeben haben, offensiv einzutreten – würde sich en passent ergeben.

Ralf Krämer führt aus, dass „zur Bekämpfung von Armut und Unterversorgung verbesserte bedarfsabhängige Leistungen viel naheliegender wären und geeigneter, als ein pauschales BGE für alle. […] Verdeckte Armut könnte weitgehend abgebaut werden, wenn auf gefährdete Bevölkerungsgruppen aktiv zugegangen würde.“ Wäre es nicht besser, es gäbe keine „verdeckte“ Armut, weil es keine Armut gibt?
Weiter verkennt Krämer, dass jene oft nicht die Kraft haben, Leistungen zu beantragen. Das hat das „Bildungspaket“ Ursula von der Leyens gezeigt: Es wurde kaum abgefordert. Und das belegt auch die Zahl von ALG II-Berechtigten, die es nicht beantragen: Laut Claus Schäfer, DGB, die Hälfte der Berechtigten! Ganz abgesehen davon, dass man sich grundsätzlich fragen kann, wieviel Lebenszeit legitimerweise in das Ausfüllen von Anträgen und Formularen fließen sollte.
Es wäre auch kein Geschenk für Reiche, wie der ver.di Vorsitzende Frank Bsirske insinuiert: „Das Grundeinkommen ist kein Thema fur eine Gewerkschaft. Oder wollt ihr etwa Millionaren noch Geld geben?“ (2) Bei der Steuer würde es natürlich angerechnet. Wer so redet, müsste auch gegen Steuerfreibeträge bei der Einkommensteuer sprechen, die ebenfalls – zurecht – für alle gelten.

Finanzierbar? Schon heute.

Bevor wir uns den Zahlen zuwenden, muss ein Denkfehler behoben werden: Ralf Krämer schreibt: „Alle Einkommen beruhen letztlich auf Wertschöpfung durch Erwerbsarbeit.“ Nein. Wohlstand beruht auf Wertschöpfung! Weder das eine noch das andere muss etwas mit Einkommen oder Erwerbsarbeit zu tun haben. (Und im Grunde ist es schon finanziert: Denn offenbar leben wir alle schon von etwas.)
Im Rahmen der Abstimmung zum Grundeinkommen in der Schweiz wurden bei Gesamtkosten von 208 Mrd Schweizer Franken, nur 25 Mrd Euro zusätzliche Kosten berechnet. Die Lücke kann leicht gefüllt werden durch Einsparungen bei Bürokratie, Verwaltungswasserköpfen und fragwürdigen Subventionen, Umverteilung mittels Begrenzung von Managergehältern und -Boni , Vermögens- und Finanztransaktionssteuern sowie die längst überfällige Besteuerung von Internetgiganten in den Ländern, in denen Sie ihren Umsatz machen.

Und es sind beachtliche Einsparungen, insbesondere im Gesundheitswesen, zu erwarten: Die Ökonomin Evelyn Forget stellte fest, dass während des BGE-Projekts MINCOME die Krankenhausbesuche um 8.5 Prozent sanken. Es gab weniger Arbeitsunfälle, häusliche Gewalt und Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Ronald Blaschke vom Netzwerk Grundeinkommen führt zwölf durchgerechnete Finanzierungsmodelle auf. Und gerade Ralf Krämer muss als Vorstandsmitglied der LINKEN nicht lang suchen, um ein Finanzierungsmodel zu finden, bei dem alle bis zu einem monatlichen Einkommen von 7000 Euro brutto profitieren würden: Die BAG Grundeinkommen DIE LINKE hat es vorgelegt.(3)
Offenbar ist es im Kern keine Geldfrage, sondern eine Bewusstseins- und Verteilungsfrage, ob das BGE „finanzierbar“ ist. Denn niemand von uns trägt Geldscheine und isst Münzen. Wir tragen Kleidung und essen Lebensmittel. Die Frage ist also bestenfalls, ob dann noch genug produziert wird.

Zwischen 1970 und 1995 stieg in Deutschland das Sozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung um 60 Prozent, gleichzeitig sank die dafür notwendige Arbeitszeit um über 20 Prozent. 1900 erzeugte ein Landwirt in Deutschland Nahrungsmittel für etwa vier Menschen, im Jahr 2010 waren es 133. Zugleich sank der Anteil der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft in diesem Zeitraum von 38 Prozent auf knapp 2 Prozent. Eine Untersuchung der Unversität Oxford (4) aus dem Jahr 2013 geht davon aus, dass bis 2030 rund 47 Prozent aller Arbeitsplätze in den USA durch Automatisierung entfallen könnten. Es ist vermehrt mit lückenhaften Erwerbsbiographien und weiterer Hybridisierung zu rechnen. Ein demokratisches Teilhabe-Tool wie das BGE wäre eine pragmatische Antwort auf massiv steigende Produktivität. Denn in durch Robotisierung geprägten, hochproduktiven Ökonomien kann aussterbende Erwerbsarbeit nicht die Bedingung für Einkommen sein.

Wir brauchen Gewerkschaften, die sich besinnen.

Zumal Lohnarbeit ohnehin nie Kernziel der Gewerkschaftsbewegung war: Beim Genfer Kongress 1866 hieß es: „die gesetzliche Beschränkung des Arbeitstages [ist] eine Vorbedingung, ohne welche alle weiteren sozialen Verbesserungen unmöglich sind„. Mehr noch: Allein dass wir unter Arbeit nurmehr Lohnarbeit verstehen, ist an sich schon ein Teil kapitalistischer Ideologie; hierzu hat der Philosoph und Künstler Timothy Speed ausführlich gearbeitet.(5) Auch wichtig in diesem Zusammenhang: Der Aufbau von „Firmenzugehörigkeit“ und „-identität“ war bewusst eingesetztes psychologisches Marketing, um alte Bindungen, auch gewerkschaftliche, und Klassenbewusstsein zu aufzulösen, wie Professor Rainer Mausfeld herausarbeitete.(6)

Ralf Krämer glaubt, das BGE beruhe auf einer „Logik des ‚Wünsch dir was‘“, und dass „neoliberal geprägte Modelle eines BGE die einzigen“ seien, die eine „Aussicht auf Realisierung“ haben. Woher auch immer er diese Gewissheit hat. Ist es nicht höchst erstaunlich, dass ausgerechnet ein Gewerkschafter nicht in der Lage ist, in Alternativen zu denken, wo doch jede einzelne gewerkschaftliche Errungenschaft vor gar nicht allzu langer Zeit als absolut illusorisch bezeichnet wurde?! Sobald aber Menschen aufstanden und sich Kündigungsschutz, Kranken- und Urlaubsgeld usw. vorstellen konnten, war es möglich, das auch zu fordern. Und heute ist es eine Selbstverständlichkeit. So ist das mit neuen Ideen.

Viele Mitglieder von Gewerkschaften können sich das BGE vorstellen: Bei der IG-Metall Kampagne „Gemeinsam für ein gutes Leben“ bekam diese bei der Frage ‚Meine persönliche Forderung an die Politik lautet’ neben „Leiharbeit verbieten/ gerechter gestalten“ oder „Reglementierung/Überwachung des Finanz- und Bankensektors“ auch das „Bedingungsloses Grundeinkommen für alle“ ins Stammbuch geschrieben. Aus der Mehrheit der ver.di Landesbezirke kamen Anträge, die das BGE bzw. die die Diskussion und wohlwollende Befassung damit fordern. Der ver.di- Vorstand wurde 2015 dazu verpflichtet, sich damit zu beschäftigen.

Insofern ist Krämers Einlassung, es sei „verständlich, dass Teile der Bevölkerung solche Vorstellungen attraktiv finden. Insbesondere viele Langzeiterwerbslose, die unter dem Hartz-IV-Regime leiden, und unter prekären Einkommensverhältnissen lebende Solo-Selbstständige erhoffen sich davon eine Lösung ihrer Probleme“ befremdlich. Wer auf dieser Ebene argumentieren möchte, muss auch ben(k)ennen, dass gut dotierte Gewerkschaftsfunktionäre und unkündbare Betriebsräte solche Vorstellungen womöglich bedrohlich finden, weil sie Angst um ihre Definitionsmacht über den Arbeitsbegriff, ihre Posten und ihre Daseinsberechtigung an sich haben.

Insofern mag es auch eine Überlebensfrage für die Gewerkschaften sein. Sie müssen sich neu erfinden – mit oder ohne das BGE. Denn man wird immer wieder für ein gewerkschaftskompatibles BGE kämpfen müssen, eines, das den Mindestlohn, Rentenansprüche und besondere Bedarfe berücksichtigt. Ein BGE macht Gewerkschaft nicht überflüssig, genauso wenig, wie es der Mindestlohn tat. Im Gegenteil: Sie bekommen Kapazitäten freigeschaufelt, um grundsätzlich zu denken, um das Geldsystem und Verteilungsdynamiken jenseits von Tarifverhandlungen ins Visier zunehmen.

Wenn sie allerdings entgegen ihrer eigenen Werte oder nur zugunsten der sinkenden Zahl der abhängig Beschäftigten handeln, würden sie – zurecht – in der Bedeutungslosigkeit versinken. Dabei wäre es das Schlimmste für die Menschen, den großen Umwälzungen der Industrialisierung 4.0 ohne Gewerkschaften ausgesetzt zu sein! Sie sollten ihre geballte Erfahrung in neue gesellschaftliche Zusammenhänge einspeisen und so auch zu ihrer eigenen Renaissance beitragen.

Olga Masur

Olga Masur ist Mediatorin, Coach, Heilerin und Autorin. Als ver.di-Gewerkschaftsmitglied war sie lange aktiv im AK Selbstständige in Hamburg und ist es derzeit im Hamburger Branchenarbeitskreis Beratung, Coaching, Training und Seminarleitung sowie im bundesweiten ver.di-BGE-Team. Kontakt: om@olga-masur.de

Anmerkungen:

1) MDR »Fakt ist«, 2.7.2012.

2) Bundeskonferenz der Selbstständigen, Mai 2015.

3) www.die-linke-grundeinkommen.de externer Link

4) www.oxfordmartin.ox.ac.uk externer Link

5) http://working-on.org externer Link

6) Über die Atomisierung des Selbst“ https://www.youtube.com/watch?v=pY7BwL2cvfo externer Link

Siehe dazu: Treffen von Gewerkschafter/innen zum Grundeinkommen am 14. April in Hannover. „Gewerkschafter/innen laden zu einem bundesweiten Arbeits- und Vernetzungstreffen zum Thema Grundeinkommen ein. Das Treffen soll vorrangig dazu dienen, die in den Einzelgewerkschaften gemachten Erfahrungen zum bedingungslosen Grundeinkommen auszutauschen und eine Vernetzung zu ermöglichen. Wann? 14. April 2018, Beginn 12:30 Uhr, Ende 16:00 Uhr. Wo? Pavillon Hannover, Lister Meile 4, 30161 Hannover (5 Minuten zu Fuß vom Hbf. Hannover)…“ Einladung von Mathias Schweitzer vom 21. Februar 2018 beim Netzwerk Grundeinkommen externer Link mit weiteren Details zum Treffen

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=130189
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