Didier Eribon: „Ihr könnt nicht glauben, ihr wärt das Volk“

Für Nation und Heimat, gegen Oligarchie und Finanzelite: Linke Bewegungen wie Podemos und Nuit Debout klingen oft wie Rechtsradikale, sagt der Soziologe Didier Eribon. Interview von Felix Stephan, Paris, vom 4. Juli 2016 bei der Zeit online externer Link, weitere Infos und neu dazu: Die Instrumentalisierung der „Rückkehr nach Reims“:

  • Das Vorwort zum Interview: „Didier Eribon ist etwas gelungen, was nicht nur in Frankreich eher selten vorkommt: Obwohl er 1953 in eine Fabrikarbeiterfamilie in Frankreichs Nordosten hineingeboren wurde, ist er heute ein renommierter Soziologe, Foucault-Biograf, LGBT-Aktivist und öffentlicher Intellektueller. Im Jahr 2009 hat er in Frankreich das Buch „Retour à Reims“ (Rückkehr nach Reims) veröffentlicht, in dem es unter anderem um die Frage geht, warum bis heute so wenigen Arbeiterkindern der soziale Aufstieg gelingt. Das Buch ist gleichzeitig ein Roman und eine soziologische Studie: Eribon hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, als ihn die Nachricht vom nahen Tod seines Vaters erreichte. Er kehrte zurück und stellte fest, dass aus seiner ehemals zutiefst kommunistischen Familie in der Zwischenzeit Wähler des rechtsextremen Front National (FN) geworden waren. Jetzt ist das Buch auf Deutsch erschienen (Edition Suhrkamp) und es entwickelt sich gerade zu einem Überraschungserfolg…“
  • Aus dem Interview: „… Das Problem ist, dass Europa von einer Klasse regiert wird, die der britische Autor Tariq Ali einmal die „extreme Mitte“ genannt hat: Diese Leute glauben, dass das, was den gut ausgebildeten Menschen in den Metropolen nützt, automatisch gut für alle ist. Das ist offensichtlich falsch: Es gibt in Europa sehr viele Menschen, die marginalisiert sind, die verzweifelt sind, die über das, was in ihrem Leben vor sich geht, wütend sind. Die nicht nur keine Arbeit haben, sondern die sich auch nicht mehr vorstellen können, dass sie jemals wieder einen Job bekommen werden oder dass es ihren Kindern eines Tages besser gehen wird. Und diese Leute haben kaum eine Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen: Wenn man keine Arbeit hat, kann man nicht streiken. Und wenn man einen Job hat, riskiert man, dass der befristete Vertrag nicht verlängert wird oder man während des Streiks nicht bezahlt wird, was sich viele schlicht nicht leisten können. Und wenn sie dann demonstrieren, wissen sie, dass das keinerlei Effekt haben wird, selbst wenn sie wie in Frankreich eine sogenannte linke Regierung haben. (…) Wie ist es möglich, so viele Menschen im politischen Alltag zu ignorieren? In Europa wissen die Eliten nicht einmal, dass es in ihren Ländern echte Armut gibt. Ich sage seit Jahrzehnten, dass der FN eines Tages mehr als 20 Prozent erreichen wird. Aber immer hieß es, ich würde übertreiben. Dabei ist es offensichtlich: Auch wenn man den Menschen fast jede Möglichkeit nimmt, sich politisch auszudrücken, werden sie immer eine andere Möglichkeit finden, sich Gehör zu verschaffen. In den Sechzigern und Siebzigern gab es noch eine Linke, zumindest in Frankreich, in Italien und Spanien, die der Arbeiterklasse einen Rahmen gegeben hat, in dem sie sich selbst denken konnte. In diesem Rahmen war klar, was in ihrem Interesse liegt, was sie einfordern muss, was sie verteidigen muss. (…) Sobald man Begriffe wie Vaterland oder Nation im europäischen Diskurs von der Leine lässt, weiß man nicht, wohin sie einen tragen werden. Begriffe wie Globalisierung und Internationalismus hingegen sind heute eng mit dem Neoliberalismus verbunden, deshalb glauben viele Linke, man heiße automatisch den Neoliberalismus gut, wenn man sich für Internationalisierung ausspricht. Auf nationaler Ebene können wir dem, was der Neoliberalismus in unseren Ländern anrichtet, aber nicht entgegentreten…“

Siehe auch:

  • Die Instrumentalisierung der „Rückkehr nach Reims“
    Das deutsche Feuilleton- und Talk-Show-Wesen hat es hingekriegt, das Buch Rückkehr nach Reims von Didier Eribon vollkommen zu verfälschen und für politische Nebenzwecke zu instrumentalisieren…“ Artikel von Rudolf Walther vom 06.01.2017  bei Carta externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=109195
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