Trickserei oder Demokratie? Quo vadis, ver.di-Handel, fragt Anton Kobel

Artikel von Anton Kobel, erschienen in, express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 09/2013

Im Januar 2013 hatten die Arbeitgeber des Einzelhandels bundesweit alle Entgelttarifverträge und, mit Ausnahme von Hamburg und Schleswig-Holstein, auch alle Manteltarifverträge gekündigt. (S. express, 6/2013) Mit diesem Rundumschlag wollten sie eine »Modernisierung der Tarifverträge« einleiten, so ihre öffentlichen Verkündungen. Tatsächlich ging es um tarifliche Abgruppierungen einiger Tätigkeiten wie z.B. an den Kassen und in der Warenpräsentation, um weitere Möglichkeiten zur Flexibilisierung der persönlichen Arbeitszeiten durch den Abbau tariflicher Regelungen zur Lage der betrieblichen Arbeitszeiten und der damit gewährleisteten Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte, um die Streichung von Nachtarbeitszuschlägen für Nichtverkaufstätigkeiten wie Auffüllen, Inventuren u.ä.

ver.di nannte dies einen »Generalangriff auf die sozialen Besitzstände der Beschäftigten«. So sahen es auch die meisten Beschäftigten. Seit Februar traten im Einzelhandel ca. 25 000 neue Mitglieder in ver.di ein. Sie stärkten die Erwartungshaltung der Aktiven und das Versprechen der Organisation: Wir verteidigen die bestehenden Manteltarife ohne jegliche Verschlechterung und erkämpfen eine spürbare Erhöhung der Gehälter mit sozialer Komponente. Nur darum sollte es gehen! Dies war nach entsprechenden Diskus­sionen und Entscheidungen in den Großen Tarifkommissionen der einzelnen Bundesländer auch der einstimmige Beschluss der bundesweiten »Tarifkoordinierungskonferenz« am 10. April 2013. Die Forderungen zur Erhöhung der Gehälter, Löhne und Azubi-Vergütungen sind unterschiedlich, je nach Landesbezirk: Ein Euro mehr pro Stunde (das ist faktisch ein Festbetrag von 163 Euro pro Monat für Vollzeitkräfte) oder 6,5 Prozent bzw. mindestens 140 Euro.

Die aktuelle Lage im Sommer

Inzwischen gab es in allen Bundesländern Tarifverhandlungen, ohne dass ernsthaft verhandelt wurde. Die Arbeitgeber beharrten bis Anfang Juli auf ihren Forderungen. Wohl auch in Folge der teilweise massiven Streiks boten sie dann als Kompromiss eine Erhöhung der Entgelte mit zweijähriger Laufzeit sowie eine Inkraftsetzung der Manteltarifverträge an, wenn ver.di mindestens eine der Arbeitgeberforderungen – z.B. eine erstmals zu vereinbarende Niedriglohngruppe für Warenverräumung, AuffüllerInnen u.ä. – sofort per Tarifvertrag erfülle und eine Verpflichtung zur Verhandlung der anderen Forderungsteile eingehe.

Mit der Begründung »keine Tarifreform light« lehnte ver.di dies ab und bot im Gegenzug an, nach einem Entgeltabschluss und der Wiederinkraftsetzung der Manteltarife über alle von den Arbeitgebern gestellten Forderungen, insbesondere auch bezüglich der Manteltarife, ernsthaft zu verhandeln. In diese Verhandlungen wollte ver.di eigene Forderungen einbringen. Dazu sagten die Händler in allen Tarifgesprächen Nein. Wohl zur Eindämmung der Streikaktivitäten erhöhten die Arbeitgeber nach drei Nullmonaten (in BaWü sind dies April bis Juni) die Entgelte einseitig, ohne Tarifvertrag, um 2,5 Prozent.

Seit Ende Mai entwickelte sich im Einzelhandel eine kaum für möglich gehaltene, bundesweite Streikbewegung, die lokal und regional durch phantasievolle Aktionen ergänzt wurde. Diese Streiks sind in ihrer Form sehr unterschiedlich: stundenweise Warnstreiks, Halb- und Ganztagesstreiks, Streiks aus dem laufenden Verkauf, mehrtägige Streiks, Streiks von Freitag bis Dienstag, also an umsatzstarken und für die Logistik wichtigen Tagen. Ein Problem dabei ist, dass dafür eine abgesprochene Strategie weitgehend fehlt. (S. express6/2013)Dabei ist nicht so sehr die örtlich unterschiedliche Intensität der Streiks ein Problem als vielmehr die fehlende Fokussierung auf einzelne Unternehmen bzw. Konzerne sowie einzelne Regionen und Landesbezirke. In den Streikhochburgen wie z.B. in Mannheim/Heidelberg und Stuttgart forderten die Aktiven wiederholt entsprechendes Vorgehen in ver.di. Dabei vertreten diese Aktiven Belegschaften von real, Kaufhof, Kaufland, Ikea und H&M, die alle über 30, teilweise schon über 50 (!) Tage im Streik sind. Dies erhöht den Druck auf die Arbeitgeber, aber auch auf ver.di.

Putsch oder Demokratie als Ausweg für ver.di?

In dieser, auch innergewerkschaftlich nicht einfachen Tarifsituation kommt es – offi­ziell – am 30. Juli zu einer im wahrsten Sinne merkwürdigen Situation. Bei einem Sondierungsgespräch in Bayern schlug ver.di den Arbeitgebern einen »Tarifvertrag zur Weiterentwicklung der Tarifverträge im Einzelhandel« vor. Dieser inzwischen als »Prozessvereinbarung« bezeichnete Vorschlag beinhaltet die beidseitige Verpflichtung zu Verhandlungen über »Entgeltstruktur« und »demographische Entwicklung«. Konkret soll es bei den Verhandlungen über eine neue Entgeltstruktur um folgende Themen
gehen: »Vereinheitlichung Gehalts- und Lohnregelungen … Grundsätze der Entgeltfindung, Gewichtung der Ausbildung und Verantwortung, Bewertung der Tätigkeiten in der Warenverräumung, im Bereich Kasse und Verkauf, im administra­tiven Bereich, im Versandhandel, in der Handelslogistik…« Ebenfalls vereinbart werden sollen »Regelungen für Betriebe ohne Betriebsrat und Besitzstandsregelungen«.

Unter der Überschrift »demographische Entwicklung« fordert (?) bzw. bietet ver.di Verhandlungen über folgende Themen an: »Arbeitszeit, Arbeitszeitverteilung und Arbeitszeitkonten, Vereinbarkeit beruflichen und privaten Lebens, Ausbildung und Übernahme, Arbeits- und Gesundheitsschutz …, Gesundheitsförderung, alternsgerechte Berufsverläufe, Weiterbildung/Qualifizierung, Rentenübergang/Wissenstransfer, Umgang mit leistungsgeminderten Beschäftigten und Altersvorsorge«.

Zusätzlich sollen konkrete Verhandlungsmodalitäten sowie ein Zeitplan Bestandteil dieses Tarifvertrages sein. Als dieser Vertragsentwurf in ver.di bekannt wurde, kam es zu unterschiedlichen Reaktionen: Neben allgemeiner, mancherorts vielleicht nur gespielter Überraschung gab es massive Kritik, z.B. aus den Bezirken Stuttgart und Mannheim/Heidelberg. Besänftigend sollte die Tatsache wirken, dass ver.di bei der Sondierung den Text des Vertragsentwurfes nicht übergeben, sondern nur mündlich vorgetragen hatte. Wie nicht anders zu erwarten, ließ diese Übergabe jedoch nicht lange auf sich warten. Zwei Tage später, bei dem Sondierungsgespräch am 1. August 2013 in Hamburg, übergab ver.di die inhaltsgleiche Hamburger Version. Damit war der Damm in ver.di gebrochen. Auch bei Tarifgesprächen in Hessen und Mecklenburg-Vorpommern versuchten die ver.di-VertreterInnen, auf diesem Wege den Tarifkonflikt zu beenden.

Anhaltender Widerstand gegen diesen Weg kommt bisher vor allem aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Andere Landesbezirke beraten noch. Viele der Aktiven kritisieren sowohl das Zustandekommen und den Weg, den ver.di einschlagen will bzw. soll, als auch die Inhalte dieses Angebotes oder gar: dieser Forderung an die Arbeitgeber.

Niemand glaubt, dass die bayrische Tarif­idee nicht intern mit der Bundesspitze von ver.di-Handel und anderen abgesprochen war. Darauf lässt auch ein ausführliches Interview der im ver.di-Bundesvorstand für den Handel zuständigen Stefanie Nutzenberger schließen. Am 18. Juli wirft sie in der Süddeutschen Zeitung den Arbeitgebern vor, dass diese »zwei große Reformprojekte verhindert« haben: »Das eine ist das Demografie-Tarifprojekt, das unter anderem zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Leben führen sollte. Das andere ist die Entgeltstrukturreform, also die Übertragung veränderter Arbeitsanforderungen ins System der tariflichen Gehaltsgruppen.« Dieser Vorwurf ist insofern besonders bemerkenswert, als relevante ver.di-Landesfachbereiche wie Baden-Württemberg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen den Ausstieg aus dem Projekt Entgeltstrukturreform beschlossen haben! Auch haben die Gesamtbetriebsräte von Kaufhof und real die Ideen zur Entgeltstrukturreform wegen der negativen Folgen für ihre Beschäftigten abgelehnt. (Der expresshat dazu 2012 ausführlich in den Nummern 1, 3, 5, 6-7 berichtet.)

Erstaunlich ist, wie unbeirrt von innergewerkschaftlicher Willensbildung einige im Organisationsbereich ver.di-Handel ihre Vorhaben ohne ausreichende Mehrheiten voranzutreiben versuchen. Bitter aufstoßen könnte ihnen dieser Versuch, umstrittene Tarifziele in einer laufenden Tarifrunde, in der Zigtausende schon für eine ganz andere Forderung gestreikt und gekämpft haben, an den Streikenden und ihren Tarifkommissionen vorbei auf den Verhandlungstisch zu bringen. Inzwischen hat in Baden-Württemberg am 13. August – ergebnislos – ein Sondierungsgespräch ohne diese nicht diskutierte und nicht beschlossene Tarifidee stattgefunden.

An der Basis werden dazu folgende Fragen gestellt – und kritisch beantwortet: Warum hat die ver.di-Spitze diese Tarifidee auf der eigens angesichts der kritischen Tarifsituation am 17. Juli in Göttingen tagenden Tarifkoordinierungskonferenz mit Vertretern aller Landestarifkommissionen nicht vorgetragen und zur Diskussion gestellt? Warum dann dieses SZ-Interview einen Tag darauf am 18. Juli? Warum spielte diese Tarifidee auf der bundesweiten Tagung der Hauptamtlichen im Fachbereich Handel am 18. und 19. Juli – ebenfalls in Göttingen – keine Rolle? Welcher Kreis in ver.di bestimmt eigentlich? Welche Rolle haben dann noch die Streikenden und ihre VertreterInnen in einer Tarifrunde?

Eine zugespitzte Schlussfolgerung von Aktiven: Das ist ein versuchter Putsch von oben! Das ist nicht unsere Demokratie in ver.di. Das lassen wir nicht mit uns machen. Diese Aktiven formulieren neben der Forderung nach Einhaltung innergewerkschaftlicher Demokratie auch ganz konkrete Anforderungen an die ver.di-Verantwortlichen: endlich Bündelung und Fokussierung der ungebrochen auch in und nach der Urlaubszeit weiter vorhandenen Kampfkraft zu einer bundesweit wirksamen Arbeitskampfstrategie, eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit über die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen, Schwarze Listen mit Unternehmen ohne Tarifvertrag, Aktivitäten mit Gruppen aus den sozialen Bewegungen, Einbeziehung von Kunden und Prominenten. Gegen den »Generalangriff der Arbeitgeber« sollte nach vier Monaten Tarifkampf endlich eine Generalverteidigung organisiert werden.

Als Farce könnte sich in dieser harten und wichtigen Tarifrunde erweisen, dass die Arbeitgeber mit ihrer ablehnenden Haltung die von ver.di-Verantwortlichen mit der bayrischen Tarifidee aufgeworfene, gewerkschaftsintern wichtige Frage zu Gunsten der Mitglieder und ihrer Aktiven zu beantworten helfen: Trickserei oder Demokratie? Avantgarde oder Mitgliederwille?

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=44468
nach oben