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Raus aus dem Kreisverkehr. Rechts, links, gelb – woher kommt und was will die Gelbwestenbewegung?

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit„… Und dann, überraschend, seit dem 17. November erscheinen die gelben Westen landesweit auf den Straßen und besonders an den Autobahnen, in den Industriegebieten und an den Verkehrsknotenpunkten, beginnen die Straßen zu blockieren und fordern die Rücknahme der kurz zuvor beschlossenen Benzinsteuer. Schnell weitete sich der Blick der sich sammelnden gesellschaftlichen Protestbewegung, nahm die gesamte Steuerpolitik der Regierung in den Blick – vor allem die Abschaffung der Vermögenssteuer für die Reichen und Superreichen – und entdeckte die zunehmende soziale Ungleichheit im Lande. Seit diesem 17. November erleben wir eine Bewegung, die nicht nur die Regierung, sondern auch die herrschenden Medien und ihre Polizeiapparate verwirrt. Die Bewegung ist dynamisch und fantasievoll, neue alternative Medienwelten entstehen, anfangs skeptische Gewerkschafterinnen verlieren ihre Scheuklappen, SchülerInnen, Studierende genauso wie RentnerInnen schließen sich an und die Macronie beginnt zum ersten Mal Zugeständnisse zu machen, aber das reicht schon nicht mehr, inzwischen fordern viele Protestierende den Rücktritt von Macron und machen sich Gedanken über eine ganz andere demokratische Republik, in der die Delegierten jederzeit abwählbar sein sollen, keine Sonder-Privilegien mehr bekommen – und noch einiges mehr…“ Artikel von Willi Hajek, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe 1/2019, samt dem Aufruf der Gelbwesten von Commercy sowie der Antwort der Gelben Westen von Montreuil:

Raus aus dem Kreisverkehr

Rechts, links, gelb – woher kommt und was will die Gelbwestenbewegung?

Macron und sein Generalstab hatten es nach dem Präsidentschaftswahlkampf von 2016/2017 und nach dem folgenreichen Kampf gegen das neue Arbeitsgesetz verkündet: Die letzte Chance für Frankreich ist gekommen. Das Land braucht Reformen und vor allem einen »Elektroschock«, um seine gallische Widerständigkeit abzulegen. Gedacht war dabei vor allem an die widerständigen Gewerkschaften und hier besonders an die Eisenbahner und den gesamten öffentlichen Dienst. Mehr als 100.000 öffentliche Beschäftigte sollten verschwinden, dazu kamen neue Selektionsmaßnahmen für den Hochschulzugang und steuerliche Belastungen für die RentnerInnen, die zu einer realen Rentenkürzung führten. Insgesamt sollte die Macronie endlich den erhofften Durchbruch bringen, das heißt die allgemeine Prekarisierung der sozialen Ver­hältnisse und die weitere Schwächung der Gewerk­schaften, speziell von CGT, Solidaires und den kämpferischen Teilen der anderen Gewerkschaften. Dabei spielte die Durchsetzung der Bahnprivatisierung und die Schaffung eines neuen prekären Statuts der EisenbahnerInnen eine wichtige Rolle.

Die Eisenbahner streikten und erstellten einen Streikkalender über drei Monate, um die Regierung zur Rücknahme der Gesetze zu bewegen. Doch der Streikbewegung gelang es nicht, eine wirkliche gesellschaftliche Dynamik zu entwickeln. Die Regierung setzte sich durch. Weitere Streiks und Proteste folgten an den Schulen, an den Universitäten und besonders auch in den Krankenhäusern und den Altenheimen. Diese Kämpfe schufen zwar eine allgemeine Aufbruchstimmung; aber sie blieben meist getrennt voneinander und waren nicht durchsetzungsfähig.

Und dann, überraschend, seit dem 17. November erscheinen die gelben Westen landesweit auf den Straßen und besonders an den Autobahnen, in den Industriegebieten und an den Verkehrsknotenpunkten, beginnen die Straßen zu blockieren und fordern die Rücknahme der kurz zuvor beschlossenen Benzinsteuer. Schnell weitete sich der Blick der sich sammelnden gesellschaftlichen Protestbewegung, nahm die gesamte Steuerpolitik der Regierung in den Blick – vor allem die Abschaffung der Vermögenssteuer für die Reichen und Superreichen – und entdeckte die zunehmende soziale Ungleichheit im Lande.

Seit diesem 17. November erleben wir eine Bewegung, die nicht nur die Regierung, sondern auch die herrschenden Medien und ihre Polizeiapparate verwirrt. Es gibt in dieser Anfangsphase weder Sprecher oder legitimierte Vorsitzende noch ordentliche Anmeldungen von Kundgebungen, Versammlungen und Aktionen.

Die Blockaden finden landesweit statt, sind teilweise sehr wirksam und es nehmen immer mehr Menschen teil. Passive Wahlbürger werden zu aufständischen und mutigen BürgerInnen, die eine andere Republik wollen, sich an vergangene Bürgerrevolutionen erinnern und beginnen, sich gegen die brutale Gewaltpolitik des Regimes zu verteidigen.

Die Bewegung ist dynamisch und fantasievoll, neue alternative Medienwelten entstehen, anfangs skeptische Gewerkschafterinnen verlieren ihre Scheuklappen, SchülerInnen, Studierende genauso wie RentnerInnen schließen sich an und die Macronie beginnt zum ersten Mal Zugeständnisse zu machen, aber das reicht schon nicht mehr, inzwischen fordern viele Protestierende den Rücktritt von Macron und machen sich Gedanken über eine ganz andere demokratische Republik, in der die Delegierten jederzeit abwählbar sein sollen, keine Sonder-Privilegien mehr bekommen – und noch einiges mehr.

Willi Hajek

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Versammlung der Versammlungen

In Commercy, einer 6.000 EinwohnerInnen zählenden Stadt in Lothringen, haben die Gelbwesten einen Appell lanciert. Sie rufen zu einer landesweiten Koordinierung der lokalen Versammlungen auf, um die Bewegung zu vereinen und ihr zugleich eine Struktur zu geben. Das Treffen soll am 26. und 27. Januar stattfinden. Wir dokumentieren den Aufruf sowie die Antwort der Gelben Westen von Montreuil. Beide Aurufe sind als Videos auf labournet.tv dokumentiert und wurden für den express von Anna Leder transkribiert. Wir danken.

Aufruf der Gelbwesten von Commercy

»Unser … Appell richtet sich an alle Gelbwesten, an alle, die die Westen noch nicht tragen, die aber auch Wut im Bauch tragen. Seit nunmehr sechs Wochen besetzen wir die Kreisverkehre, die Mautstellen, die öffentlichen Plätze und Straßen. Wir sind präsent in allen Köpfen und Gesprächen. Wir halten uns gut! Seit Langem gab es keinen Kampf mehr, der so erfolgreich war, so nachhaltig und ermutigend!

Ermutigend, weil die Regierenden gezittert haben und immer noch zittern auf ihrem Podest! Ermutigend, weil sie anfangen, uns ein paar Krümel zuzugestehen. Ermutigend, weil wir uns nicht länger mit ein paar Knochen zufriedengeben. Ermutigend, weil wir alle lernen, einander zu respektieren, zu verstehen und unsere Verschiedenheit zu schätzen. Verbindungen sind geknüpft worden, Vorgehensweisen sind erprobt worden. Das können sie uns nicht mehr wegnehmen.

Ermutigend ist auch, dass wir verstanden haben, dass wir uns nicht spalten lassen, wenn es Probleme gibt. Wir haben begriffen, dass unsere wahren Feinde jene sind, die einen immensen Reichtum haben, den sie nicht teilen: Die 500 reichsten Personen in Frankreich haben ihr Vermögen seit 2008 verdreifacht, zusammen haben sie 600 Milliarden Euro. Die Steuergeschenke an große Unternehmen belaufen sich auf hunderte Milliarden Euro pro Jahr. Das ist nicht tolerierbar. Ermutigend ist auch, dass wir verstanden haben, dass wir in der Lage sind, uns selbst zu repräsentieren ohne Puffer zwischen den Mächtigen und den Leuten. Ohne Parteien, die die Ideen zu ihrem eigenen Profit leiten; ohne Vermittler, die eher Stöße abfedern und das System ölen sollen, als uns zu verteidigen.

Heute trauern wir um die Opfer der Repression: Mehrere Tote und dutzende Schwerverletzte. Verflucht seien jene, die das erlaubt haben. Aber sie wissen: Unsere Entschlossenheit ist intakt. Wir sind stolz. Auf den Weg, den wir so schnell zurückgelegt haben, und die Bewusstwerdungsprozesse, von denen jeder einzelne zugleich ein Sieg über dieses erdrückende System ist. Wir wissen genau, dass dieser Stolz von sehr vielen Leuten geteilt wird. Wie könnte es anders sein, da dieses System und die Regierung, die es repräsentiert, nicht aufhören, die sozialen Errungenschaften und die Bindungen zwischen den Menschen und unseren teuren Planeten zu zerstören. Wir müssen also weitermachen. Wir müssen diese ersten Erfolge erweitern ohne Eile, ohne uns aufzureiben, aber auch ohne uns entmutigen zu lassen. Nehmen wir uns die Zeit, denken wir genau so viel nach, wie wir agieren.

Wir rufen alle auf, die an dieser Wut teilhaben und nach Veränderung suchen, ihre Gelbe Weste entweder weiterhin stolz zu tragen oder sie ohne Angst anzuziehen. Wir müssen überall zusammenkommen und Bürgerversammlungen bilden. Populäre, übersichtliche Zusammenkünfte, in denen es ums Reden und Zuhören geht. Versammlungen, in denen wie hier in Commercy jede Entscheidung kollektiv getroffen wird und Delegierte ernannt werden, um diese Entscheidungen zu vertonen und umzusetzen – nicht umgekehrt! Nicht wie im aktuellen System. Durch diese Versammlungen werden unsere egalitären, sozialen und ökologischen Forderungen erhoben.

Zurzeit ernennen sich manche zu nationalen Vertretern, oder sie erstellen Listen für kommende Wahlen. Unserer Ansicht nach ist das nicht das richtige Verfahren. Alle ahnen es doch: In diesem Labyrinth wird das Wort, unser Wort, verloren gehen oder instrumentalisiert werden, genau wie im derzeitigen System. Wir bekräftigen hier noch einmal die absolute Notwendigkeit, niemandem zu erlauben, uns das Wort zu stehlen. Sobald an möglichst vielen Orten demokratische Versammlungen entstanden sind, werden Forderungsbücher erstellt.

Die Regierung hat die Bürgermeister gebeten, Beschwerdebücher in den Rathäusern einzurichten. Doch ist zu befürchten, dass dadurch unsere Forderungen wieder in einer Weise vereinnahmt und instrumentalisiert werden, die unserer Vielfalt nicht mehr entspricht. Die Ausdrucksmittel des Volkes müssen wir unbedingt in unseren eigenen Händen behalten! Daher rufen wir die Volksversammlungen dazu auf, solche Bücher selber zu erstellen und zu führen! Vom Volk und für das Volk!

Von Commercy aus laden wir nun ein zu einem großen landesweiten Treffen der lokalen Versammlungen. Aufgrund des Erfolgs unseres ersten Appells schlagen wir vor, das Treffen hier in Commercy demokratisch zu organisieren, im Januar, mit Delegierten aus ganz Frankreich, damit Beschwerdebücher gesammelt und zusammengeführt werden. Außerdem schlagen wir vor, gemeinsam über die weiteren Folgen unserer Bewegung zu beraten. Schließlich schlagen wir vor, gemeinsam über eine kollektive Organisationsform der Gelbwesten zu entscheiden, die authentisch demokratisch und populär ist und das Delegiertensystem respektiert. Gemeinsam schaffen wir die Versammlung der Versammlungen, die Kommune der Kommunen! Das ist der Sinn der Geschichte, das ist unser Vorschlag. Alle Macht dem Volk, vom Volk und für das Volk!«

Aufruf der Gelbwesten von Montreuil

Die Versammlung der Gelbwesten von Montreuil antwortet auf den Aufruf von Commercy.

»Die Gelbwesten von Montreuil haben den Aufruf der Gelbwesten von Commercy gehört, sich in einer großen Versammlung der Versammlungen, Commune der Communen am 26. Januar zu treffen. Wir danken ihnen und antworten, dass wir anwesend sein werden. Auch in Montreuil haben wir gelbe Westen angezogen und haben uns vor dem Kreisverkehr Croix de Chavaux aufgebaut – wie überall in Frankreich. Dadurch konnten wir uns um eine Suppe herum treffen, diskutieren, Solidarität herstellen, trotz unterschiedlicher Horizonte, und wir konnten aus der Isolation herauskommen. Es hat uns daran erinnert, dass die Banlieues von Paris, wie Pantin, Saint-Denis, Ivry, Aulnay sich der Bewegung angeschlossen haben.

Die Gelbe Weste ist das Symbol eines Aufstandes. Es ist viel zu früh, um nach Hause zu gehen, und nicht zu spät, um aufzubrechen! Wir sind aufgestanden wegen der Demütigung und der Verachtung. Der extreme Reichtum einiger, der Machtdurst der Politiker, die Plünderung des Planeten durch die Reichsten, und die Gewalt des Staates sind zu weit gegangen.

Die abgerissenen Hände, die geblendeten Demonstranten, die auf die Knie gezwungenen Jugendlichen. Tausende von Angeklagten und Hunderte von Gefangenen summieren sich mit der täglichen Polizeirepression in den armen Vierteln, die seit Jahren anhält. Wir vergessen kein Opfer der ›Law und Order‹-Politik und wir bekräftigen unsere Solidarität – heute und morgen! Wie immer versucht man, die ›guten Gelbwesten‹ von den ›gewaltbereiten‹ zu trennen. 300 Leute, die sich der Polizei entgegenstellen, um einen Kreisverkehr zu verteidigen, das ist proletarische Selbstverteidigung. 3.000 Leute, die Banken oder Ministerien angreifen, das ist der Aufstand eines Volkes, das zornig ist.

Wir dürfen nicht in die Falle der Medien und der Mächtigen tappen, die Grenzen für diese Bewegung definieren wollen. Weder die von der Regierung vorgeschlagenen Krümel noch eine von ihr selbst geführte ›nationale Debatte‹ oder das Referendum werden diesen wunderbaren Moment, der sich gerade öffnet, zerstören. Einige zweifeln und haben Angst, vor der Unsicherheit des Danach. Wir antworten, dass in der Art und Weise, wie der Aufstand der Gelbwesten bisher gelaufen ist, sich schon viele Pfade in eine wünschenswerte Welt aufgetan haben.

Angesichts des Aufstandes besteht die älteste Technik der Macht darin, uns zu spalten. Wir dürfen nicht in diese Falle tappen. Statt des Egoismus, des Individualismus und der Geldgier, die diese Macht aufrechterhalten, müssen wir die Solidarität und das Teilen entwickeln. Wir haben gesehen, dass wir zusammen viel stärker sind. Wir wissen genau: jene, die Leuten ein würdevolles Leben vorenthalten, sind weder die Eingewanderten noch die Verbannten, sondern der Reichtum einiger und ein ungerechtes System!

Deshalb glauben wir, dass die Unterschiedlichkeit keine Grenze sein darf. Weder die Hautfarbe, noch der Geburtsort, noch das Geschlecht, die sexuelle Orientierung oder die Religion werden einen Vorwand bieten, uns zu spalten. Wir müssen vereint sein in unserer Unterschiedlichkeit, wenn wir eine gerechtere und schönere Welt aufbauen wollen. Im Irak, Tunesien, Belgien, Kurdistan, Syrien, Japan, Ungarn, Spanien, Burkina Faso, Ägypten, England, Marokko, Italien und an vielen anderen Orten tragen die Menschen gelbe Westen, um ihren Ärger zu zeigen: Unser Aufstand hat keine Grenzen!

Wir werden niemanden, ob Präsident, Bürgermeister oder ›Repräsentant‹, über unsere Existenz entscheiden lassen. Die Organisation nach Kreisverkehr, Bezirk, Dorf und Gemeinde ermöglicht es uns, die Kontrolle zurück zu erlangen – über unsere Gebiete und unser Leben. Das ist es, was wir fortsetzen müssen, wenn wir wollen, dass sich die Dinge wirklich ändern.

In Montreuil gründen wir einen ›Club der Gelben Westen‹, nach dem Vorbild der Französischen Revolution, als man sich in Clubs für die Volksbildung getroffen hat. Uns Wissen anzueignen macht uns weniger manipulierbar und ermöglicht es uns, unsere kollektive Intelligenz in den Dienst konkreter Handlungen zu stellen, um unseren Alltag zu verbessern. Wir rufen dazu auf, überall solche Clubs zu gründen!

Ohne die Vielfalt und Autonomie unserer lokalen Organisationen und Initiativen zu beeinträchtigen, denken wir, dass es wichtig ist, uns zu verbinden und zu treffen – um die Bewegung zu stärken. Deshalb werden wir in Commercy dabei sein und rufen dazu auf, dass alle Gelben Westen an der Versammlung der Versammlungen teilnehmen.

Das ist der Beginn einer Revolution, die eine würdigere und gerechtere Gesellschaft für uns und unsere Kinder aufbauen will. Wir werden nicht aufhören, auch wenn es 100 Jahre dauert. Damit die Leute selbst entscheiden, wie sie leben wollen. Höre diesen Ruf: Lass uns den Anfang fortsetzen, lasst uns den Weg der Revolution gehen!«

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=143522
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