Entkernte Demokratie

„…Kapitalismus und Partizipation stehen generell in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander. Die Verordnungen der Europäischen Union höhlen aber selbst die bürgerlich-parlamentarischen Verfahrensformen immer weiter aus. (…) Nimmt man einen emphatischen Begriff zum Maßstab, gab es in der Bundesrepublik oder in den kapitalistischen Staaten nie wirkliche Demokratie. Anders gesagt: So verstandene Demokratie und Kapitalismus sind unvereinbar, weil im Kapitalismus das Wirtschaften und Ökonomie der Sphäre des Privaten zugeordnet wird und von der Sphäre des Politischen getrennt bleiben muss – hebt man diese Trennung auf, handelt es sich nicht mehr um eine bürgerliche Gesellschaft. (…) Die Beziehung zwischen Demokratie und kapitalistischer Ökonomie bleibt instabil und ist ambivalent. Sie wird letztlich bestimmt durch konkrete gesellschaftliche Kräfteverhältnisse. (…) Im neoliberalen Kapitalismus hat sich diese Form der Kooperation durch asymmetrische Beteiligung der »Tarifpartner« weitgehend erledigt. Entscheidungsstrukturen im weiteren Umfeld des Staates werden so umgebaut, dass die sozialen Eliten unter sich bleiben. (…) Mit der europäischen Wirtschaftsverfassung, die mit dem Maastrichtvertrag von 1993 ihre Ausprägung erlangte, wurden soziale Auseinandersetzungen in der EU und in den Nationalstaaten um die richtige Wirtschafts- und Sozialpolitik weitgehend stillgelegt. Die Europäischen Verträge sind auf eine bestimmte, nämlich eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialordnung festgelegt, die im demokratischen Prozess nicht mehr zur Disposition steht. (…) Die neoliberale Konstitutionalisierung entkernt zunächst die Demokratie, weil sie zu einer weitgehenden Stilllegung der demokratischen Auseinandersetzung um die Form der Wirtschafts- und Sozialpolitik geführt hat. Sie vergrößerte die Anfälligkeit für ökonomische Krisen, in deren Folge sich eine spezifisch europäische Form einer autoritären Wirtschaftsregierung durchsetzt. Schließlich untergräbt sie die eigenen, liberalen Voraussetzungen der europäischen Einigung und mit ihr den politischen Liberalismus als Voraussetzung demokratischer Auseinandersetzungen in einer heterogenen Gesellschaftsordnung.“ Vorabdruck des Beitrags von Andreas Fisah von der Uni Bielefeld bei der jungen Welt vom 5. Juni 2016 externer Link (der komplette Originalbeitrag erscheint mit dem Titel „Krise der Demokratie“ bei den Marxistischen Blättern)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=100719
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