Schattenbericht 2025 und Destatis zeigen ein Fünftel der Bevölkerung – auch mit Einkommen – armutsgefährdet
Dossier
„Nur wer die Lebenssituation von Menschen in Einkommensarmut kennt, kann sie verbessern. Das ist eine zentrale Erkenntnis des heute von der Diakonie Deutschland und der Nationalen Armutskonferenz (nak) vorgelegten „Schattenbericht – Armut in Deutschland“. Der Bericht gibt tiefen Einblick in die Lebenslagen von Menschen mit Armutserfahrungen. Wegen der vorgezogenen Neuwahlen hat die Bundesregierung keinen eigenen Armuts- und Reichtumsbericht mehr veröffentlicht. Diakonie und nak wollen mit dem Schattenbericht diese Lücke füllen und gleichzeitig dem oft populistischen Diskurs in der Bürgergeld-Debatte Fakten entgegensetzen…“ Pressemitteilung von Diakonie Deutschland und Nationale Armutskonferenz vom 27. Januar 2025
– siehe mehr daraus, dazu und den Schattenbericht sowie Destatis:
- Politische Erklärung zum Treffen der Menschen mit Armutserfahrung 2025: Respekt, Würde und Anerkennung: Ermutigung statt Armen-Bashing!
„Menschen mit Armutserfahrung werden gesellschaftlich abgewertet. Dabei ist Armut Ausdruck struktureller Not und Ungleichheit. Gesellschaftliche Aufstiegsversprechen werden nicht mehr eingelöst. Der Armutsbericht der Bundesregierung zeigt: Arm bleibt arm, Reich bleibt reich. Auf dem Treffen der Menschen mit Armutserfahrung schließen sich bundesweit Engagierte zusammen. Wir machen auf dringende Handlungsnotwendigkeiten aufmerksam:
Psychische Erkrankungen und Belastungen überwinden!
Etwa ein Drittel der Menschen im Leistungsbezug können als arbeitslos angesehen werden. Die restlichen Personen sind entweder zu jung oder zu alt, zu krank, pflegen Angehörige oder betreuen Kinder, sind trotz Arbeit Aufstocker oder sind schlichtweg zu krank zum Arbeiten. Aber nur wer drei Stunden täglich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, ist theoretisch arbeitsfähig. Das Kontroll-System der Jobcenter ist für viele Menschen schwer auszuhalten. Wer drei Stunden täglich theoretisch arbeitsfähig ist, soll dem vollen Druck standhalten, sich am Arbeitsmarkt zu präsentieren. Sonst drohen Sanktionen. Das belastet. (…)
Gesunde Ernährung zugänglich machen!
Der Regelsatz muss gesunde Ernährung ermöglichen. Nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sind pro Tag 10 Euro für ein gesunde Ernährung nötig. Der Regelsatz in der Grundsicherung sieht dafür nur 6,50 Euro für alleinstehende Erwachsene vor – Kinder und leistungsberechtigte Personen in einer Bedarfsgemeinschaft bekommen noch weniger. Um diese Lücke zu füllen, sind mindestens 100 Euro im Monat nötig!…“ und weitere Forderungen in der Erklärung
(docx-Datei) – siehe auch:
- Informationen zum Programm
bei der Nationalen Armutskonferenz (nak) - Berichte des Treffens
der Menschen mit Armutserfahrung samt Pressespiegel bei der Nationalen Armutskonferenz (nak) - #TMA25 und #Armutswende
- »Ich kann mich wehren« Über 100 Menschen, die von Armut betroffen sind oder waren, vernetzen sich in Berlin
„»Stellt euch vor, ihr seid ein Kind und wollt ins Schwimmbad, aber ihr habt kein Geld. Wie fühlt ihr euch?« Mit dieser gedanklichen Aufgabe für die Teilnehmer*innen beginnt Yvonne Schulze einen unter anderem von ihr geplanten Workshop zu Kinder- und Jugendarmut. Er ist nur einer von vielen Workshops auf dem Treffen der Menschen mit Armutserfahrung, das von Donnerstag bis Samstag in der Diakonie Berlin stattfindet. Über 100 Menschen, die von Armut betroffen sind oder waren, kommen hier zusammen, um für ihre Rechte einzustehen und sich im Kampf gegen soziale Ungleichheit zu vernetzen. Organisatorin ist die Nationale Armutskonferenz (nak), ein Verbund verschiedener Verbände und Initiativen. Die Antworten auf die Frage von Schulze fallen sehr unterschiedlich aus: »Minderwertig«, »ausgegrenzt« und »Scham« antworten manche. Eine andere Teilnehmerin nennt »Wut« als Reaktion: »Warum ich und nicht die, würde ich mich fragen.« Die Antworten sind so unterschiedlich wie die Perspektiven der Teilnehmer*innen selbst. Tim Seywert berichtet, dass ihn das Jugendamt mit nur 17 Jahren auf die Straße setzte. Zurzeit gründet er eine Initiative für Kinder- und Jugendrecht. Eine andere Teilnehmerin arbeitet ehrenamtlich in einer Gruppe mit psychisch Kranken. Erika Heine ist wohnungslos und setzt sich in der Öffentlichkeit für die Vertretung von Menschen mit dieser Perspektive ein. Als »Lobbyistin der Straße« bezeichnet sie die Zeitschrift »Fluter«. »Ich fühle mich mittlerweile so stark, dass ich mich wehren kann«, erzählt Heine. Sie berichtet, dass sie auf der Straße auf Jugendliche trifft, die von der Psychiatrie und den Eltern aufgegeben wurden, die »krank gemacht wurden vom System«. Sie selbst versuche, diese jungen Leute mit kreativen und gewaltfreien Methoden zu stärken, hört ihnen nachts zu. »Ich bediene sozusagen das Systemfreie«, meint sie. (…) Die nak möchte Armut entindividualisieren, sie betrachtet sie als »Ausdruck struktureller Not und Ungleichheit«. Die politische Erklärung des diesjährigen Treffens lautet »Wir fordern: Fördern first!« Denn wer nur in Jobs vermittele, deren Bezahlung nicht zum Leben ausreichen, erzeuge »Drehtüreffekte«. Damit setzt sich die nak auch für eine zuverlässige armutsfeste Grundsicherung und gegen die geplante Bürgergeldreform ein. Die Debatten um letztere seien vielfach durch die Diskriminierung von Betroffenen geprägt, heißt es dazu im »Schattenbericht« der nak aus diesem Jahr. Die in Armut lebenden Menschen würden häufig als dafür selbst verantwortlich beschuldigt, weil sie faul oder arbeitsunwillig seien, so die Unterstellung. Der Bericht kritisiert, dass gleichzeitig aber nicht gefragt werde, »ob der Erwerb von Erbschaften oder Vermögen mit persönlicher Leistung verbunden ist. Dieser offene Widerspruch prägt nach wie vor die gesellschaftlichen Debatten und Machtdiskurse.« Auch die Teilnehmer*innen in Schulzes Workshop kritisieren die Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen, die aus Familien mit Armutserfahrung stammen. Sie bekämen schnell den Stempel »Problemkinder« aufgedrückt. Das System ziehe sie mit, habe sie aber längst eigentlich aufgegeben. Laut Schulze wäre eine Gesellschaft ohne Kinder- und Jugendarmut deswegen eine »stärkere und gesündere Gesellschaft«. In dieser würden die Ideen und Talente von viel mehr Kindern einfließen. Schulze betont den positiven Ausblick: Aus einem stärkeren sozialen Zusammenhalt würden sich auch weniger gesellschaftliche Spannungen ergeben. »Es ist eine Investition, von der alle einen Vorteil haben«, meint sie.“ Artikel von Ruta Dreyer vom 7. November 2025 in Neues Deutschland online
- Informationen zum Programm
- Im Jahr 2024 weiterhin ein Fünftel der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht
„17,6 Millionen Betroffene in Deutschland im Jahr 2024; 15,5 % der Bevölkerung waren armutsgefährdet, 6,0 % waren von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen, 9,8 % der Menschen lebten in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung
In Deutschland waren im Jahr 2024 rund 17,6 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das waren 20,9 % der Bevölkerung, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) anhand von Erstergebnissen der Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) mitteilt. Damit lagen die Werte geringfügig niedriger als im Vorjahr. So waren im Jahr 2023 rund 17,9 Millionen Menschen oder 21,3 % der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Der Anteil hatte sich auch in den vorangegangenen Jahren kaum verändert: Im Jahr 2021 hatte der Anteil bei 21,0 % der Bevölkerung gelegen und 2022 bei 21,1 %. (…)
13,1 Millionen Menschen mit Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze
Im Jahr 2024 waren 15,5 % der Bevölkerung oder rund 13,1 Millionen Menschen in Deutschland armutsgefährdet. Im Jahr 2023 hatte die Armutsgefährdungsquote bei 14,4 % (12,1 Millionen Personen) gelegen…“ Destatis-Pressemitteilung vom 29. Januar 2025
- Schattenbericht 2025: Armut in Deutschland
„Der Schattenbericht wurde in einer gemeinsamen Schreibgruppe von Menschen mit Armutserfahrung und Aktiven aus Organisationen und Verbänden erarbeitet. Er bündelt die Sicht von Menschen mit Armutserfahrung auf dieses Thema und ihre Erfahrungen. Mit dem Schattenbericht liegt eine Darstellung vor, was Armut in Deutschland bedeutet und wie sie erlebt wird. Der Bericht möchte aufklären und erklären. Die Debatte über Armut und den Bezug von existenzsichernden Leistungen ist in den letzten Monaten hochgekocht und durch Unsachlichkeit geprägt. Dieser Bericht soll der aufgeheizten Stimmung eine klare und nüchterne Darstellung gegenüberstellen…“ Die Sonderseite der Nationalen Armutskonferenz
(nak) zum 27-seitigen nak-Schattenbericht

- Weiter aus der Pressemitteilung von Diakonie Deutschland und Nationale Armutskonferenz vom 27. Januar 2025
: „… Rüdiger Schuch: „Die Debatte über Armut und den Bezug von existenzsichernden Mindestleistungen ist in den letzten Monaten von Unsachlichkeit geprägt. Dieser Bericht soll der aufgeheizten Stimmung eine klare und nüchterne Darstellung entgegensetzen: Wir müssen bei den strukturellen Ursachen von Armut ansetzen. Menschen müssen die Chance bekommen, ihre Potentiale zu entwickeln und ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern. Viel zu oft werden oder bleiben Menschen arm, weil unsere Gesellschaft nicht alle Möglichkeiten ausschöpft, um Armut zu überwinden. Menschen, die in Armut leben, fehlt es an Ermutigung und Möglichkeiten, selbstbestimmt ihren eigenen Weg zu gehen. Sie sind weder ausreichend in demokratischen Prozessen vertreten, noch haben sie Perspektiven auf existenzsichernde Erwerbsarbeit, guten Wohnraum und tragfähige wirtschaftliche Netzwerke. Das öffentlich vermittelte Bild der vermeintlich großen Zahl an „faulen Arbeitslosen“ wird der Realität in Deutschland nicht gerecht. Denn Millionen von Armut betroffene Menschen wünschen sich nichts sehnlicher, als durch ihren Beitrag, ihr Engagement und ihre Arbeit ein anerkannter Teil der Gesellschaft zu sein.“ Marcel Fratzscher, Präsident Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), äußert sich in einem Interview im Schattenbericht: „Ein starker Sozialstaat ist wichtig. (…) Wir brauchen jedoch einen proaktiven Sozialstaat. Dieser versucht, Schäden zu verhindern, indem er etwa Probleme bei der Qualifizierung erkennt und Menschen so fit macht, dass sie in Arbeit bleiben können und erfüllende Aufgaben finden. Gleiches gilt für die Gesundheit: Wir brauchen mehr Vorsorge und mehr Überlegungen, was tut Menschen gut und was sie brauchen.“ Gisela Breuhaus, Vertreterin der Nationalen Armutskonferenz: „Als Alleinerziehende und pflegende Angehörige mit chronischen Erkrankungen habe ich ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko, dabei habe ich mein ganzes Leben lang gearbeitet, gepflegt, erzogen und mich für die Demokratie engagiert. Armut bedeutet fehlende Chancen, sich zu beteiligen. Das ist kein individuelles Versagen. Es ist ein gesellschaftliches Versagen.“
- Siehe ebd. auch das 4-seitige Interview mit Marcel Fratzscher

- Siehe ebd. auch das 4-seitige Interview mit Marcel Fratzscher
- Bericht zu sozialer Ungleichheit: Armut macht unsichtbar
„Zuhause bleiben, weil fürs Café das Geld nicht reicht – auch das ist Armut. 17,7 Millionen Menschen sind von sozialer Ausgrenzung bedroht. Was muss sich ändern? Im Bericht der Armutskonferenz kommen Betroffene zu Wort…“ Beitrag von Nigjar Marduchaeva, WDR, vom 27.01.2025 in tagesschau.de
- Schattenbericht Armut: Armut wirft ihre Schatten. Mikrozensus offenbart verbreitetes Elend. Betroffene berichten
„Eine kapitalistische Volkswirtschaft braucht sie dringend, die durchorganisierte Armut in der Bevölkerung. Derzeit spricht die Tagespolitik von den Armen wieder offener als Produktionsfaktor; Leistungskürzungen und Arbeitszwang werden als notwendige Übel verkauft. Die Betroffenen kommen selten zu Wort und finden noch seltener Gehör. Darum haben Aktive der Nationalen Armutskonferenz gemeinsam mit Forschungsinstitutionen und Sozialverbänden am Montag einen »Schattenbericht« über Armut in Deutschland vorgestellt. Dieser wertet Daten des Mikrozensus 2022 anhand europäischer Vergleichsmaßstäbe aus und ergänzt die Erfahrungen armer Menschen. (…) Die Autoren fordern: »auskömmliche Finanzierung« der sozialen Daseinsvorsorge, ein inklusiveres Bildungssystem, »armutsfeste« Löhne, das Übliche. Im beigefügten Interview mit Marcel Fratzscher kommentiert der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung: »Zu viele der Sozialsysteme greifen erst dann, wenn ein Schaden entstanden ist, wenn Menschen krank geworden sind, wenn sie arbeitslos geworden sind, wenn sie soziale Probleme haben.« Statt dessen soll der Sozialstaat proaktiv ausbilden und vorsorgen. Tatsächlich passiert gerade das Gegenteil. »Der Sozialstaat steht unter Beschuss«, weiß auch der Schattenbericht.“ Artikel von Niki Uhlmann in der jungen Welt vom 28.01.2025
Siehe zuletzt: Paritätischer Armutsbericht 2024: Armut in der Inflation – betrifft 16,8 Prozent der Bevölkerung