Kein wir ohne uns. Diskussion über eine Quote für MigrantInnen auf dem ver.di-Bundeskongress

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit„… Wenn Beispiele von MigrantInnen in politischen Ämtern für Aufsehen sorgen, geht es meist um Parteien und Institutionen, seltener um die Gewerkschaften. An die Gewerkschaftskongresse der IG Metall und ver.di im Herbst 2019 wurde weder eine Goldene Kartoffel für die Unterrepräsentation migrantischer Delegierter (bei ver.di circa 30-40 KollegInnen von 932 insgesamt) verliehen, wie sie der Verein der Neuen Deutschen MedienmacherInnen regelmäßig an verschiedene Medien vergibt, noch gab es eine öffentliche Diskussion über die Tatsache, dass bis heute niemand mit Einwanderungsgeschichte in den Bundesvorständen der beiden größten deutschen Einzelgewerkschaften sitzt. Ein Zustand, der in den Parteien kritisch kommentiert werden würde. Dies ist überraschend, angesichts dessen, dass gerade die Arbeitswelt die Realität einer Einwanderungsgesellschaft abbildet, in der jede/r vierte Beschäftigte Migrationsbezüge hat. Das drückt sich auch in stetig steigenden Mitgliederzahlen von MigrantInnen in den Gewerkschaften aus. Fast 65 Jahre, nachdem das erste Abkommen über die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte abgeschlossen wurde, hört man als Begründung kein gewerkschaftliches »wir sind noch nicht so weit«, sondern selbstverständlich: »Wir sind bunt und vielfältig und arbeiten daran«. Wenn diese Haltung nicht durch Fördermaßnahmen und politischen Willen zur Überwindung von Diskriminierung und ›gläsernen Decken‹ unterfüttert wird, hat dies auf die Entscheidungsstrukturen in den Gewerkschaften meistens den gleichen Effekt wie die Verschiebung der Frage auf den Sankt Nimmerleinstag: die fast vollständige Abwesenheit von MigrantInnen und KollegInnen mit Rassismuserfahrungen in Führungspositionen, die öffentlich wahrgenommen werden. »Unten sind wir bunt und nach oben hin immer blasser«, so fasst Erdogan Kaya, Personalrat bei der BVG in Berlin und Vorsitzender des Bundesmigrationsausschusses von ver.di, die Situation zusammen…“ Artikel von Romin Khan aus express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 01/2020:

Kein wir ohne uns

Diskussion über eine Quote für MigrantInnen auf dem ver.di-Bundeskongress

Ein neugewählter Oberbürgermeister in Hannover, der einen türkischen Namen trägt und sogleich von Rechten bedroht wird; oder ein CSU-Bürgermeisterkandidat im bayerischen Wallerstein, der seine Kandidatur wieder zurückzieht, weil ihm signalisiert wurde, dass die Menschen dort noch nicht so weit seien, einem Kandidaten die Stimme zu geben, der im gleichen Ort geboren, aufgewachsen und verankert, aber Muslim ist. Wenn Beispiele von MigrantInnen in politischen Ämtern für Aufsehen sorgen, geht es meist um Parteien und Institutionen, seltener um die Gewerkschaften.

An die Gewerkschaftskongresse der IG Metall und ver.di im Herbst 2019 wurde weder eine Goldene Kartoffel für die Unterrepräsentation migrantischer Delegierter (bei ver.di circa 30-40 KollegInnen von 932 insgesamt) verliehen, wie sie der Verein der Neuen Deutschen MedienmacherInnen regelmäßig an verschiedene Medien vergibt, noch gab es eine öffentliche Diskussion über die Tatsache, dass bis heute niemand mit Einwanderungsgeschichte in den Bundesvorständen der beiden größten deutschen Einzelgewerkschaften sitzt. Ein Zustand, der in den Parteien kritisch kommentiert werden würde. Dies ist überraschend, angesichts dessen, dass gerade die Arbeitswelt die Realität einer Einwanderungsgesellschaft abbildet, in der jede/r vierte Beschäftigte Migrationsbezüge hat. Das drückt sich auch in stetig steigenden Mitgliederzahlen von MigrantInnen in den Gewerkschaften aus.

Fast 65 Jahre, nachdem das erste Abkommen über die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte abgeschlossen wurde, hört man als Begründung kein gewerkschaftliches »wir sind noch nicht so weit«, sondern selbstverständlich: »Wir sind bunt und vielfältig und arbeiten daran«. Wenn diese Haltung nicht durch Fördermaßnahmen und politischen Willen zur Überwindung von Diskriminierung und ›gläsernen Decken‹ unterfüttert wird, hat dies auf die Entscheidungsstrukturen in den Gewerkschaften meistens den gleichen Effekt wie die Verschiebung der Frage auf den Sankt Nimmerleinstag: die fast vollständige Abwesenheit von MigrantInnen und KollegInnen mit Rassismuserfahrungen in Führungspositionen, die öffentlich wahrgenommen werden. »Unten sind wir bunt und nach oben hin immer blasser«, so fasst Erdogan Kaya, Personalrat bei der BVG in Berlin und Vorsitzender des Bundesmigrationsausschusses von ver.di, die Situation zusammen.

Dass über diese Diskrepanz anhand eines Antrags für die Förderung der MigrantInnen in ver.di auf dem Bundeskongress eine Debatte geführt wurde, die mit einer Änderung der Empfehlung der Antragskommission (Ursprüngliche Empfehlung: Ablehnung) endete, war ein großer Erfolg der Personengruppe. In dem Antrag zur Änderung der Satzung (S 045) mit dem Titel »Vielfalt und Teilhabe in ver.di fördern und absichern« hieß es: »VertreterInnen der Mitglieder mit Migrationshintergrund müssen in den ehrenamtlichen Organen und Beschlussgremien grundsätzlich entsprechend ihrem jeweiligen Anteil vertreten sein.« Der Bundesmigrationsausschuss bezog sich in seinem Antrag ausdrücklich positiv auf die Erfolge der verbindlichen Fördermaßnahmen und Quoten für Frauen und JugendvertreterInnen in der Organisation, die ver.di »gerechter, solidarischer und vielfältiger gemacht haben«. Weiter hieß es: »Für die Zukunft von ver.di ist es von zentraler Bedeutung, dass der Kontrast zwischen der Vielfalt in den Belegschaften und den Gremien der Gewerkschaft überwunden wird. Wenn Migrantinnen und Migranten nicht an zentralen Entscheidungen teilhaben, wird der gewerkschaftliche Anspruch, für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu sprechen, unglaubwürdig

Ein wichtiges Ziel der Satzungsänderung für ver.di sei es gerade vor dem Hintergrund des Rechtsrucks in der Gesellschaft, deutlich zu machen, »dass die Realität der Einwanderungsgesellschaft in der Mitgliedschaft schon lange angekommen ist und wir der Diskriminierung und Zurückdrängung von MigrantInnen aktiv entgegenarbeiten«. 

Die Antragskommission zeigte zwar Verständnis für das Antragsbegehren, empfahl aber in Unkenntnis der ver.di-Richtlinie zur Migrationsarbeit die Ablehnung des Antrags als zu unbestimmt aufgrund der Annahme, dass es keine Möglichkeit gäbe, den Migrationshintergrund zu definieren. Die Richtlinie nennt allerdings klare Kriterien. Zu den MigrantInnen zählen demnach »(1) Mitglieder nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, (2) Migrantinnen/Migranten, die die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben, (3) Kinder von Migrantinnen/Migranten, von denen mindestens ein Elternteil nicht in Deutschland geboren wurde, (4) Migrantinnen/Migranten, denen nach Gesetz die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt worden ist«. Dennoch war die Ablehnung eines Antrags, der weitere verbindliche Regelungen für die ver.di-Gremien bedeuten würde, kaum überraschend.

Gegen diese Empfehlung gingen nacheinander mehrere KollegInnen ans Rednerpult: Erdogan Kaya verwies auf die gute Mitgliederentwicklung bei migrantischen KollegInnen in seinem Betrieb, die sich aber in den Gremien nicht abbilde. Er ging auf die Kritikpunkte an dem Antrag ein: »Wir wollen nicht, dass die Migrantinnen und Migranten einen Sonderstatus bekommen. Sondern wir wollen dadurch die Einheit, die Kampfkraft stärken und unsere Organisation für viele Menschen und Migrantinnen und Migranten aktiv und interessant machen. Außerdem kann ein effektiver Kampf gegen Rassismus nur erreicht werden, wenn man die Menschen, die in erster Linie von Rassismus betroffen sind, aktiv in die Verantwortung einbindet. Denn: Kein Wir ohne uns

Die Gesamtpersonalratsvorsitzende der Stadt Kassel Aydan Karakas-Blutte machte deutlich, dass sie mit ihrem Amt eine absolute Ausnahme sei und in der Bundestarifkommission lange Zeit die einzige Kollegin war, die einen Migrationshintergrund hatte. »Wer bei den Streiks dabei ist, sieht, wie viele der MigrantInnen dabei sind«. An den Vertreter der Senioren gerichtet, der vorher seine Delegierten gebeten hatte aufzustehen, um die Größe der Gruppe sichtbar zu machen: »Ich würde mir wünschen, ich könnte hier sagen, stehen mal die 150 auf. Die sind heute nicht hier. Aber sie müssten eigentlich, was die Anzahl der Mitglieder anbelangt, da sein.« Sie unterstrich, dass es auf Basis der Freiwilligkeit kein Datenschutz-Problem sei, den Migrationshintergrund zu erheben und ein Projekt der interkulturellen Öffnung in ihrer Verwaltung sehr erfolgreich verlaufen sei. »Selbst wenn es hier in der Satzung keine Änderung geben kann, so hoffe ich, dass der Bundesvorstand sich dieses Themas ernsthaft annimmt, Mentoring-Projekte entwickelt, um Migrantinnen und Migranten zu fördern, zu unterstützen. Wenn ich die nicht gehabt hätte, wäre ich heute nicht hier

Ein weiterer, in seinen Worten ›bio-deutscher‹ Kollege stellte heraus, dass es zwei verschiedene Dinge seien, »Rassismus zu erleben oder nur darüber zu sprechen. Die Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben, die Rassismus erleben, die müssen verstärkt auch in unseren Gremien sein. Eine Ablehnung fände ich in der aktuellen politischen Situation das falsche Signal.« Es gab aber auch andere Stimmen in der Diskussion. Der Vertreter der ver.di-Jugend, der erwähnte, dass sein Vater aus der Türkei stamme, wehrte sich dagegen, dass erfasst wird, wer einen Migrationshintergrund habe, weil es gegen das Gleichheitsprinzip in der Gewerkschaft verstoße: »Wenn wir damit anfangen, ist das nicht mehr meine Gewerkschaft.« Er wurde wiederum von einem anderen Kollegen darauf hingewiesen, dass es für die Überwindung struktureller Diskriminierung unerlässlich sei, ethnische Kategorien sichtbar zu machen: »Wir brauchen Zahlen, wir brauchen einfach Fakten, eine Quote. Bei den Frauen gab es ja auch eine riesige Diskussion, als die Frauenquote eingeführt wurde. Da waren auch viele Frauen dagegen. Niemand will Quotenfrau oder Quotenmigrant sein. Aber wenn es keinen anderen Weg gibt? Vor vier Jahren waren wir genauso weit oder nicht so weit oder am gleichen Platz wie jetzt. Und wir sind nicht weitergekommen. Und wenn dann die Quote hilft oder sowas, dann muss man die halt einfach nehmen. Tut mir leid. Wir können nicht die ganze Zeit Wasser predigen und ordentlich Wein trinken

Die neu gewählte Vorsitzende des Gewerkschaftsrats Martina Rößmann-Wolf versicherte, dass sie bei der Frage einen großen Nachholbedarf sehe und im Gewerkschaftsrat und dem Bundesvorstand daran gearbeitet werden müsse, die Beteiligung und Repräsentation von MigrantInnen in den ­ver.di-Gremien zu erhöhen.

Zum Abschluss der Debatte beschloss der Kongress den Antrag in der geänderten Empfehlung der Antragskommission zur Weiterleitung an den Gewerkschaftsrat. »Kein wir ohne uns« bleibt somit auf der Tagesordnung.

Artikel von Romin Khan aus express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 01/2020

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