Der nachhaltige Blitz – Erster Teil einer Interviewreihe zur Auswertung von Organizing-Erfahrungen in Deutschland

mini_expressDas Interview mit Jonas Berhe, Organizer bei der IG Metall, erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 12/2013

»Organizing« – geht es um Gewerkschaftsstrategien für Mitgliedergewinnung, Erschließung weißer Flecken auf der Tarif-Landkarte und um innergewerkschaftliche Demokratie, ist kaum eine Diskussion zu haben, in der nicht dieses Schlagwort fällt. Inzwischen ist das Konzept auch für die deutschen Gewerkschaften keine graue Theorie mehr: In den letzten zehn Jahren wurden viele Praxiserfahrungen gesammelt; ernsthafte Versuche neuer Formen und Methoden basisorientierter Gewerkschaftsarbeit haben ebenso stattgefunden wie das Servieren von altem Wein in neuen Schläuchen. Wir wollen in den nächsten Ausgaben zur Bilanzierung dieser Erfahrungen mit einer Interviewreihe beitragen. Den Anfang macht Jonas Berhe, Organizer bei der IG Metall.

express: Du arbeitest seit geraumer Zeit als Organizer. Was unterscheidet den Organizer von einem anderen Gewerkschaftssekretär bzw. Betreuungssekretär oder anders gesagt: die Arbeit des Organizings von anderer, regulärer Gewerkschaftsarbeit bei der Mitgliederbetreuung?

Jonas Berhe: Vom »normalen« Gewerkschaftssekretär mit seiner Fülle an Betrieben unterscheidet uns in erster Linie die intensive Teamarbeit. Zudem würde ich auch vorsichtig behaupten, dass die strategische Auswahl der Betriebe und Branchen ein weiteres Merkmal unserer Arbeit ist. Natürlich stellen auch die Verwaltungsstellen in ihrer Arbeit strategische Überlegungen an, aber leider müssen diese oft an den regionalen Grenzen der Verwaltungsstelle enden.

Zudem ist unsere Herangehensweise im konkreten Fall eine andere. Während GewerkschaftssekretärInnen in aller Regel eine Vielzahl von Gremien und Betrieben gleichzeitig betreuen müssen, können wir oftmals viel stärker in die Tiefe gehen. Wir fragen, was genau es ist, was der oder die Kollegin aus dem Betrieb braucht, um weitere Leute an Bord zu bekommen. Ist unsere Botschaft nicht stark genug? Überwiegt die Angst im Betrieb? Stimmt unsere Strategie? Das erfordert einen hohen Aufwand für jeden einzelnen Betrieb oder gar Beschäftigten und liegt zumeist jenseits der Möglichkeiten einer Verwaltungsstelle.

Erinnerst Du Dich noch, welches Bild Du von den deutschen Gewerkschaften hattest, als Du angefangen hast, für sie zu arbeiten? Hat sich Dein Bild der deutschen Gewerkschaften durch Deine Arbeit als Organizer verändert und wenn ja, wie?

Mein Bild hat sich immens verändert. Mir war nicht klar, was für eine große »Bildungsmaschine« eine Gewerkschaft im positiven Sinne sein kann. Zudem habe ich als junger Student Gewerkschaften als sehr behäbig und verkrustet wahrgenommen. Erst nach und nach habe ich die politischen Freiräume von gewerkschaftlicher Arbeit erkannt.

Kannst Du uns von einem gescheiterten und einem erfolgreichen Organizing-Projekt erzählen? Was waren die Gründe für das Scheitern oder den Erfolg?

Ein Projekt scheitert in dem Moment, in dem es uns über einen längeren Zeitraum nicht gelingt, genug Beschäftigte zu begeistern, um gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen. Dies habe ich damals kurz bei der Lidl-Kampagne erlebt und auch in einem Projekt aus dem Kfz-Handwerk. Beide Male würde ich sagen, dass wir als ver.di und IG Metall die falsche Strategie gewählt haben und der Arbeitgeber leider mit seiner Strategie der flächendeckenden Einschüchterung bei gleichzeitiger Verbesserung der konkreten Arbeitsbedingungen sein Ziel erreicht hat. Bei ver.di hätten wir damals vor allem mehr Organizer in der Fläche gebraucht, um effektiv arbeiten zu können, gleiches trifft auf den Kfz-Fall zu.

Erfolgreich waren aus meiner Sicht die damaligen Organizing-Kampagnen beim Hamburger Wach- und Sicherheitsgewerbe und die Arbeit bei dem Windenergieanlagenhersteller REpower. Beides waren Tarifkampagnen. Erfolgreich waren beide Kampagne nicht nur wegen des entsprechenden Tarifvertrags und des Mitgliederzuwachses. Es ist in beiden Fällen gelungen, Strukturen aufzubauen, also nicht nur von Gewerkschaft im Betrieb zu reden, sondern dieses auch mit den Kolleginnen und Kollegen zu leben. Dies war nicht nur möglich, weil genügend Organizer im Einsatz waren, sondern auch, weil die Unterstützung aus Politik und weiterer Öffentlichkeit von Anfang an fester Bestandteil der Kampagne war.

Interessant ist ja nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA als Mutterland des Begriffs und Konzepts, dass Organizing innerhalb der Gewerkschaften sowohl von rechts wie von links kritisiert wird: Den einen ist das Ganze zu sehr mit ›Demokratie von unten‹ assoziiert, den anderen zu wenig. Wie siehst Du das Verhältnis von Organizing und gewerkschaftlicher Demokratisierung?

Ich nehme wahr, dass Organizing in den USA und auch in den Anfängen hierzulande als beides gesehen wurde. Als Mittel, eine Art von Gewerkschaftsarbeit zu machen, die vielerorts in Vergessenheit geraten war, und diese Arbeit so zu gestalten, dass über die intensivere Einbindung von Ehrenamtlichen mehr Beteiligung und mehr praktizierte Demokratie stattfindet, als die Gewerkschaften dies ohnehin schon machen. Mittlerweile denke ich, dass Organizing in viel größerem Maßstab stattfinden müsste, um ernsthaft kritisiert zu werden, und den Projektcharakter, den dies augenblicklich oft hat und den ich gewerkschaftsübergreifend sehe, zu verändern. Sprich: Es müssten noch mehr Ressourcen bereitgestellt werden.

Zudem ist mir klar geworden, dass die Herausforderungen in der hiesigen Gewerkschaftslandschaft nicht fehlende Räume für Demokratie von unten sind. Es geht nicht nur darum, Abstimmungsprozesse durchzuführen, sondern darum, tatsächliche Beteiligung zu organisieren. Da müsste sich mehr bewegen. Mit dem Ortsvorstand, den Delegiertenversammlungen, so genannten B-Teams und diversen Ausschüssen gibt es ja schon Räume, um über die Einbindung in Organizing-Kontexte nachzudenken.

Ein weiterer Kritikpunkt, an dem rechte ebenso wie linke KritikerInnen des Organizing ansetzen, ist die Frage der Mitgliedergewinnung. Für die einen stehen die Mitgliedererfolge des Organizing in keinem Verhältnis zum finanziellen und personellen Aufwand, für die anderen wiederum ist Organizing zu sehr auf Mitgliedergewinnung fokussiert. Auch hier würde uns Deine Einschätzung interessieren.

Die Diskussion über den Zusammenhang von Mitgliedergewinnung und Organizing führt meines Erachtens in eine Sackgasse. Da Gewerkschaften ohne Mitgliedergewinnung nicht überleben können, ist die Frage hiernach grundsätzlich notwendig und muss Bestandteil jeder Organizing-Kampagne sein. Gleichzeitig lässt sich mit dem alleinigen Kriterium »Mitgliederzahlen« nicht alles beantworten. Derzeit arbeiten wir an einem großen Projekt bei einem Branchenführer. Dieser hat sich in den letzten Jahrzehnten unter anderem über seine krasse Gewerkschaftsfeindlichkeit definiert. Es ist für uns klar, dass es nicht sofort einen rekordverdächtigen Mitgliedergewinn geben kann, sondern dass es erstmal um den Abbau eines Angstklimas, Vertrauensgewinnung bei den Kolleginnen und Kollegen im Betrieb und um stabile Strukturen gehen muss. Zudem habe ich leider in der Vergangenheit auch Organizing-Kampagnen erlebt, die zwar in der Frage der Mitgliederzahlen sehr erfolgreich waren, aber nicht zu wirklichen Veränderungen in der Arbeit geführt haben. Um keine Strohfeuer zu entfachen, sondern nachhaltig zu wirken, braucht es sowohl Veränderungen in der Arbeit vor Ort als auch strategische Weichenstellungen in der Organisation, die Organizing dauerhaft zu einem wichtigen Bestandteil der Gewerkschaftsarbeit machen.

Selbst da, wo Organizing-Kampagnen in Deutschland erfolgreich waren, scheint es leider immer wieder Probleme mit der Nachhaltigkeit dieser Erfolge zu geben, d.h., die entstandenen Strukturen schlafen ein, gewonnene Mitglieder treten wieder aus usw. Woran liegt das Deiner Ansicht nach?

Auch wenn dies in vielen Fällen so war, so teile ich diese Einschätzung nicht grundsätzlich, sprich: Ich kenne auch Projekte, in denen nachhaltige Gewerkschaftsarbeit gut umgesetzt wurde. Leider gibt es aber noch nicht so viele Gewerkschaften, die in der Projektplanung mitbedenken, dass es nach der Zusammenarbeit mit dem Organizing-Team auch weiterhin Personalressourcen braucht, um mit den aufgebauten Strukturen weiterzumachen.

Wie nimmst Du die ArbeitnehmerInnen bei Deinen Organizing-Aktivitäten wahr? Gibt es da verallgemeinerbare Merkmale, die Deine Arbeit erleichtern bzw. erschweren? Und auch hier die Frage: Hat sich Dein Bild von den ArbeitnehmerInnen seither geändert?

Egal ob es Beschäftigte im Handel, im Wach- und Sicherheitsbereich, in der Windenergiebranche oder anderen Bereichen waren: Früher oder später fällt meistens der Satz »So habe ich die Gewerkschaft noch nie wahrgenommen«.

Mein Bild selbst hat sich nicht wirklich geändert. Ich bin immer noch von dem Mut vieler Kolleginnen und Kollegen begeistert, und gleichzeitig holt mich die immense Angst, die viele um ihren Arbeitsplatz haben, immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Viel mehr hat mich über die Jahre eher entsetzt zu sehen, mit welch perfiden Strategien mancher Arbeitgeber die Beschäftigten regelrecht fertig macht.

Ein weiterer Diskussionspunkt beim Organizing in Deutschland ist die Rolle von Betriebsräten im Rahmen von Organizing-Kampagnen. Behindern sie Deiner Ansicht nach solche Aktivitäten eher, oder spielen sie doch eine positive Rolle?

Dieses Verhältnis war in meiner Anfangszeit als Organizer ein regelrechter weißer Fleck in meinem eigenen Bewusstsein, da ich Betriebsräte »nur« als weitere Aktive wahrgenommen habe. Die Struktur »Betriebsrat« kann meiner Meinung nach einen immens positiven Einfluss auf eine Organizing-Kampagne haben. Darum gilt es, dieses Instrument auch dringend strategisch einzuplanen. Beispielsweise kann es sich lohnen, Kampagnen zielgerichtet rund um BR-Wahlen zu planen.

Wieso ist eine Kampagne zur Betriebsratswahl hilfreich, wenn es doch vorrangig darum geht, Mitglieder zu gewinnen und sie dazu zu bringen, selbst aktiv zu werden? Und wie sollte die Zusammenarbeit mit dem BR im Idealfall aussehen?

Gewerkschaftsnahe Betriebsräte können aufgrund ihrer besonderen Rolle im Betrieb während ihrer Arbeitszeit 1:1 oder durch Gruppengespräche Diskussionen zur Aktivierung von Beschäftigten initiieren und zudem auch in der Mitgliederwerbung eine wichtige Rolle spielen. Wir machen hierbei gerade sehr gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit diesen Schlüsselpersonen. Das BR-Wahljahr 2014 wird da sicher noch sehr hilfreich sein.

Wir vermuten, dass Du Dich mit politisch Aktiven außerhalb der Gewerkschaften über Deine Arbeit austauschst. Wie nehmen die eigentlich die Organizing-Bemühungen der deutschen Gewerkschaften wahr? Wo gibt es Applaus, und wo schütteln sie den Kopf, wenn Du darüber berichtest?

In meinem Umfeld wundern sich viele über das aus ihrer Sicht eher langsame Tempo, mit dem Organizing in der Gewerkschaftslandschaft angekommen ist und vor allem umgesetzt wird. Viele erstaunt auch, dass es bisher noch keine gewerkschaftsübergreifenden Kampagnen gibt. Begeistert aufgenommen wurden die wiederholten Möglichkeiten, bei dem einen oder anderen Ansprache-»Blitz« teilzunehmen. So ein »Blitz«, also die konzertierte Ansprache  von Beschäftigten durch viele haupt- und ehrenamtliche OrganizerInnen zu einem strategisch wichtigen Zeitpunkt einer Kampagne ist wohl die unmittelbarste Möglichkeit zu erleben, was Organizing meint.

Zum Schluss: Glaubst Du, dass Organizing in den bundesdeutschen Gewerkschaften auch in 20 Jahren noch eine Rolle spielen wird?

Ja, davon gehe ich aus – auch wenn das Kind dann eventuell einen anderen Namen haben wird, denke ich, dass eine erfolgreiche Gewerkschaftsarbeit um bestimmte Organizing-Elemente nicht herum kommen wird. Dabei denke ich insbesondere an eine starke Einbeziehung und Beteiligung der Beschäftigten selbst.

Vielen Dank für das Gespräch.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=49922
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