[Vorbeugen!] Während Betriebsänderung gewählter Betriebsrat kann keinen Sozialplan erzwingen

Erfüllt Eure Pflicht - wählt einen gewerkschaftlichen BetriebsratWählen Arbeitnehmer erst während der Umsetzung einer Betriebsänderung einen Betriebsrat, kann dieser keinen Sozialplan zur Abmilderung der wirtschaftlichen Nachteile für die Belegschaft (mehr) erzwingen. Das geht aus einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts externer Link (BAG) hervor (Az.: 1 ABR 2/21). In dem Fall hatte ein Arbeitgeber, der an zwei Betriebsstätten Dienstleistungen im Dialogmarketing anbietet, im Sommer 2018 angekündigt, den Betrieb zu Ende August des Jahres stilllegen zu wollen. Wenige Tage später erhielt das Gros der Belegschaft die Kündigung; den örtlichen Arbeitsagenturen wurden parallel vorsorglich Massenentlassungsanzeigen zugestellt. Im Verlauf des Juli wählte die Belegschaft daraufhin erstmalig einen Betriebsrat. Nachdem das Gremium dann im Winter gerichtlich erfolgreich “eine Einigungsstelle zur Verhandlung über einen Sozialplan anlässlich der Betriebsstilllegung” beantragt hatte, erklärte sich diese im Mai 2019 für unzuständig. Dagegen wandten sich die Arbeitnehmervertreter, forderten Mitsprache ein – und unterlagen…“ Beitrag von Frank Strankmann vom 7.06.2022 bei betriebsratspraxis24.de externer Link und dazu:

  • BAG und Sozialplan: Mitbestimmung nur für künftige Betriebsänderungen – und ein Kommentar von Armin Kammrad New
    • BAG und Sozialplan: Mitbestimmung nur für künftige Betriebsänderungen
      „Hat der Arbeitgeber in einem zunächst betriebsratslosen Unternehmen mit einer Betriebsänderung bereits begonnen, soll ein kurzfristig gewählter Betriebsrat dabei keine Mitbestimmungsrechte mehr haben. Das Gremium könne keinen Sozialplan rückwirkend erzwingen – so nun das BAG in einer wichtigen Entscheidung. (…) Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG kann der Betriebsrat eines bislang betriebsratslosen Betriebs, der erst nach (!) Beginn der Durchführung der Betriebsänderung gewählt wird, das Aufstellen eines Sozialplans nicht mehr verlangen. Die Begründung des BAG lautet wie folgt: Bei den Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats nach §§ 111 ff. BetrVG kommt es – laut BAG – auf die beabsichtigte und damit noch in der Zukunft liegende Betriebsänderung an. Sie bildet sowohl bei einem Interessenausgleich als auch – bezogen auf ihre Folgen – bei einem Sozialplan den Gegenstand der Mitbestimmung. Solange der Arbeitgeber noch nicht mit der Betriebsänderung angefangen hat, besteht – so das BAG in der Begründung – noch die Möglichkeit für den Betriebsrat, auf die Willensbildung des Arbeitgebers Einfluss zu nehmen. Die Konzeption des Betriebsverfassungsgesetzes – so das BAG – ginge erkennbar auch für das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats beim Aufstellen eines Sozialplans (genauso wie beim Interessenausgleich) davon aus, dass dieser regelmäßig bereits vor Beginn der Betriebsänderung vereinbart wird. Nur dann könne er seiner Befriedungs- und Ausgleichsfunktion in vollem Umfang gerecht werden. (…) Diese seit langem etablierte BAG-Rechtsprechung ist heftig umstritten. Viele Rechtsexperten und auch einige Landesarbeitsgerichte stemmen sich seit langem gegen die BAG-Rechtsprechung. Prof. Wolfgang Däubler führt dazu im BetrVG-Kommentar für die Praxis, 18. Auflage 2022 aus: Die Auffassung des BAG überzeuge nicht, vor allem wenn es mit dem Vertrauensschutz des Arbeitgebers argumentiert, denn der müsse wissen, woran er sei. Betriebsratslose Betriebe seien – so Däubler – vom BetrVG nicht gewollt. Ein Vertrauen des Arbeitgebers darauf, dass ein gesetzliches Programm wie das Auftreten eines Betriebsrats auch in Zukunft weiter unerfüllt bleibt, werde ansonsten nicht geschützt. Zudem verweist Däubler darauf, dass der Sinn der Sozialplanmitbestimmung nicht in der Einflussnahme auf die Arbeitgeberentscheidung liege, sondern im Ausgleich von Nachteilen, so dass sie auch noch zu einem späteren Zeitpunkt ausgeübt werden könne (…) Diese umstrittene BAG-Rechtsprechung wird letztlich hinfällig, wenn ein neuer Reformvorschlag zum BetrVG künftig eventuell Realität wird. Dieser sieht mit einem neuen § 113a BetrVG eine neue Regelung für den Betriebsrat in Gründung vor. Danach ist das Mitbestimmungsrecht bzgl. des Interessensausgleichs ausgeschlossen, wenn der Betriebsrat nicht vorher bestand, während die Aufstellung eines Sozialplans möglich bleibt, wenn der Betriebsrat während der Betriebsänderung entsteht…“ Mitteilung des Bund-Verlags vom 20. Juli 2022 externer Link zu BAG Az 1 ABR 2/21 vom 8. Februar 2022 externer Link
    • Kurzkommentar von Armin Kammrad
      In der Tat ist diese restriktive Auslegung des BAG von Mitbestimmungsrechten nicht neu. Däublers oben zitierte Kritik zeigt jedoch überzeugend, dass die Gesetzesinterpretation des BAG nicht nur nicht die einzig mögliche, sondern auch normativ fragwürdig ist. Die Interpretation des BAG verbietet sich allein schon, wenn davon ausgegangen wird, dass die Mitbestimmung des BetrVG im Sinne einer – wenn auch stark reglementierten – demokratischen Betriebspolitik zu interpretieren ist. Denn wenn die Mitbestimmung nach §§ 111 BetrVG zu Betriebsänderungen überhaupt einen Sinn ergeben soll, ist die Vernachlässigung von Arbeitnehmerinteressen im Fall von Betriebsänderungen immer ein Angriff auf demokratische Grundsätze. Denn die Ausrede des BAG, dass im Gesetz zur Mitbestimmung bei Betriebsänderungen von „geplanten Betriebsänderungen“ die Rede ist, geht nicht nur sachlich am Thema vorbei, sondern ist auch ohne normative Not parteiisch: Natürlich lässt sich Mitbestimmung bei den Plänen zur Betriebsänderung – zumindest in der Regel – nur solange realisieren, wie die Änderung nicht bereits schon aktiv von der Arbeitgeberseite betrieben wird. Die Existenz eines Betriebsrates ist in diesem Stadium hilfreich, aber nicht zwingend. Denn was die Realisierung von Arbeitnehmerinteressen betrifft, ist der gewählte Betriebsrat nicht Inhalt, sondern Ausdruck von genau dem „Wohl“, was nach § 2 BetrVG der Vorstellung der AG-Seite vom Betriebswohl an die Seite gestellt wird (obwohl der Gegensatz Betriebswohl vs Arbeitnehmerwohl im Gesetz sehr verräterisch ist). Dieses Arbeitnehmerwohl hat die Arbeitgeberseite hier ganz offensichtlich rechtswidrig verletzt. Denn es lässt sich bezweifeln, dass die Geschäftsleitung die Belegschaft von ihren Änderungsplänen so unterrichtet hat, dass diese noch rechtzeitig überhaupt eine Interessenvertretung bilden konnte.
      Das BAG legt die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ von § 2 BetrVG also so aus, dass es auf das Verhalten der Geschäftsleitung beim hohen gesetzlichen Anspruch des Vertrauens gar nicht immer ankommt. Aber auch was das Streikverbot nach § 2 BertVG betrifft, kann dies folglich nicht immer gelten – trotz nun gebildetem Betriebsrat. Soll sich die Mitbestimmung nur auf zukünftige betriebliche Entscheidungen beschränken, kann logischerweise auch das Streikverbot von § 2 BertVG nicht jetzt schon gelten. Überhaupt können durch solidarische Arbeitsniederlegung durchgesetzte Forderungen, wie Kämpfe in anderen Staaten bei ähnlichen Situationen zeigen, im Ergebnis viel effektiver sein als verzwackte Gesetzesinterpretation im Rahmen richterlicher Rechtsfortbildung. Was die Demokratie betrifft, stellt sich anlässlich der BAG-Entscheidung so nicht nur die Frage, nach dessen Bestand im Betrieb, sondern zusätzlich auch bezüglich der Rechtsprechung: Ist die parteiische Haltung des BAG nicht auch Ausdruck davon, dass die Besetzung des Gerichts vielleicht zu wenig demokratisch erfolgt?“ Kommentar vom 28.7.2022 – wir danken!
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=201488
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