Von der Betriebsintervention zum Organizing

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitIm Herbst 2021 hat die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt express-Redakteur Torsten Bewernitz mit einer Recherche zum Stand des Be-triebsaktivismus heute beauftragt. Die Ergebnisse der – vorerst internen – Studie werfen auch für uns als Redaktion die Frage auf, in welche Richtung sich unser Projekt weiter entwickeln könnte und sollte. Die Studie unseres Redakteurs schließt außerdem an das kürzlich veröffentlichte Interview mit Wolfgang Schaumberg (express 2-3/2022 und 4/2022) über linke Politik im Betrieb an. Unser Jubiläum bietet Anlass für eine solche Reflexion. Wir dokumentieren eine gekürzte und überarbeitete Fassung des Fazits der Studie. (…) Für den express und »artverwandte« Projekte ergeben sich 2022 aus dem Gesagten m.E folgende Aufgabenfelder: Zum ersten die Vernetzung jener »neuen« betriebslinken Gruppen, die aktuell entstehen und bereits relativ stark sind, wie in der Pflege und der Krankenhausbewegung, unter den Riders und in Einzelunternehmen wie amazon. Zum zweiten, und das wurde kürzlich von Berliner Rider:innen auch ausdrücklich so gewünscht, die Vernetzung von Betriebsaktiven der älteren und der jüngeren Generation. Vielfach wurde in der Befragung ein Bedürfnis nach Orten, Zeiten und Medien für einen überbetrieblichen Austausch deutlich. Die schwierigere Aufgabe bleibt es, dort Strukturen zu entdecken und zu fördern, wo diese kaum noch zu finden sind, namentlich etwa im Einzelhandel und imChemiesektor, sowie überall dort, wo es zwar renitente Einzelpersonen oder Kleinstgrüppchen gibt, denen aber bislang Rückhalt, Basis und Vernetzung fehlt…“ Überlegungen zur Rolle des express 2022 von Torsten Bewernitz im express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 5/2022:

Von der Betriebsintervention zum Organizing

Im Herbst 2021 hat die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt express-Redakteur Torsten Bewernitz mit einer Recherche zum Stand des Betriebsaktivismus heute beauftragt. Die Ergebnisse der – vorerst internen – Studie werfen auch für uns als Redaktion die Frage auf, in welche Richtung sich unser Projekt weiter entwickeln könnte und sollte. Die Studie unseres Redakteurs schließt außerdem an das kürzlich veröffentlichte Interview mit Wolfgang Schaumberg (express 2-3/2022 und 4/2022) über linke Politik im Betrieb an. Unser Jubiläum bietet Anlass für eine solche Reflexion. Wir dokumentieren eine gekürzte und überarbeitete Fassung des Fazits der Studie.

Auch wenn sich durchaus »neuer« Betriebsaktivismus entdecken lässt – vor allem in Krankenhäusern, an Hochschulen und in prekären Beschäftigungsverhältnissen (insb. Delivery Riders), so muss doch konstatiert werden, dass sich dieser in einem quantitativ recht kleinen Rahmen bewegt und auch qualitativ Unterschiede zur Betriebsintervention der 1970er Jahre aufweist: »neuer« Betriebsaktivismus ist vereinzelter und weniger zielgerichtet auf ein transformatorisches Ziel. Er findet vermehrt in prekären Bereichen statt und ihm fehlt die Anbindung an den industriellen Sektor, oftmals aber auch untereinander.

Dieser Unterschied relativiert sich jedoch, wenn man sich die Bedingungen des früheren Betriebsaktivismus betrachtet: Zu einem großen Teil resultierte dieser aus den Betriebsinterventionen der 1970er Jahre, war also durchaus von außen angestoßen. Erhalten hat er sich dort, wo diese Betriebsintervention nicht aufgegeben, sondern bis zum Ende (d.h. bis zur Rente) durchgezogen wurde, und dort, wo es jüngere betriebspolitische Traditionen gibt (namentlich in den Krankenhäusern durch die Proteste gegen die »weiße Fabrik« in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren). Den verschiedenen Modellen von Betriebsintervention fehlt so auf den ersten Blick ein entsprechendes Nachfolgeprojekt.

Das hat Gründe, die auch im Wandel der Arbeitsgesellschaft liegen: Jan Ole Arps hat vor einem Jahrzehnt in seinem Buch »Frühschicht« die Betriebsintervention der 1970er ausführlich analysiert. Über seine Ergebnisse hinaus ist zu konstatieren, dass in den 1970er Jahren der Eintritt in ein Großunternehmen aufgrund der Arbeitsmarktsituation viel einfacher war, hinzu kam die Bedrohung der akademischen Perspektive durch Berufsverbote und Radikalenerlass (siehe Martin Hornung in express 4/2022). Kurz: Über die damalige Perspektive einer baldigen revolutionären Veränderung hinaus war die Betriebsintervention auch einfach eine ökonomische Perspektive. Die prekären Bereiche, in denen heute Aktivismus besonders (d.h. mehr als woanders) bemerkbar ist, sind oft ebenso akademisch geprägt, aber deswegen, weil die Akademiker:innen keine andere Wahl haben.

Ich würde die These vertreten, dass das Organizing die Rolle, die militanten oder subversiven Elemente aufzuspüren und zu organisieren, durchaus übernommen hat. Jenseits der Traditionen des Community Organizings nach Saul Alinsky oder auch der US-amerikanischen professionell-gewerkschaftlichen Organizing-Konzeptionen ließe sich durchaus eine spezifisch deutsche Geschichte des Organizings aus den Traditionen des Betriebsinterventionismus heraus schreiben. Mit der Orientierung auf die Organizing-Perspektive geht allerdings auch ein mit dieser Melange verbundenes Problem einher:

Bei allem Interesse an Organisationskonzepten gibt es in der Linken eine anhaltende Aversion gegen langfristige Pläne, bedingt auch durch die Reproduktionsbedingungen im zeitgenössischen Kapitalismus. Es gibt aber eine vermeintliche Lösung, die in meiner Recherche mehrfach anklingt: »Organizing« zum Beruf zu machen. Damit stellt sich die ursprüngliche betriebsinterventionistische Konzeption von den Füßen auf den Kopf: Wo einst die eigentliche Profession ­gegen eine durchaus langfristige Arbeit im Betrieb getauscht wurde, um von »innen« zu intervenieren, wird nun diese Organisierung selber zur Profession, kommt damit aber fast zwangsläufig von »außen«: Die Betriebspolitik wird »offiziell« und institutionalisiert – man verdingt sich entweder im Nebenjob bei Start-ups wie organizi.ng oder langfristig und finanziell gesichert direkt bei den Gewerkschaften. Sichtbar wird dies etwa im Klima-aktivismus (express 12/2021) oder aber auch bei der Abwanderung von Mitgliedern der FAU (Freie Arbeiter:innen-Union) in die professionellen Strukturen der DGB-Gewerkschaften.

Der Preis dafür ist nicht selten die Aufgabe des Inhalts zugunsten eines technischen oder technokratischen Verständnisses von Organizing. Man hat zwar im Idealfall zwei Ziele erreicht: die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts, im besten Fall sogar auf einem recht akzeptablen bis hohen Niveau, und den Zugang zu den Betrieben. Doch die Bedingungen werden von außen, von den Auftraggebern des Organizing, diktiert. Eine beruflich bedingt sich verstärkende Entfremdung von der Arbeite­r:innenklasse und ökonomische Rahmenbedingungen lassen Organizing dann letztlich in einem ganz anderen Licht erscheinen als die Idee, politisches Engagement mit einer sinnhaften Beschäftigung zu verbinden. Diskussionen um eine »transformative« Version der Konzeption finden nur noch in der Theorie statt oder aber im Rahmen parteinahen Engagements für die Partei Die Linke und die Rosa Luxemburg Stiftung.

Ein solches Konzept von Organizing lässt sich dann eben auch auf einen SPD-Wahlkampf[1] oder für neoliberale Gentrifizierung (wie in Projekten des Deutschen Instituts für Community Organizing DICO) verwenden. Zugang zu »den Arbeiter:innen« (von Beginn an als »andere« eingeplant) findet man so nur noch über Gewerkschaften und Gewerkschaftssekretär:innen oder aufgeschlossene Betriebsräte (die eben nicht selten Überreste aus der Betriebsintervention sind oder bis dato waren). Das spüren auch der express bzw. seine Leser:innen: Die betrieblichen Informationen in dieser Zeitung werden nur noch selten von Betriebsgruppen verfasst, sondern sind Beiträge von oder Interviews mit Hauptamtlichen bzw. basieren auf deren Informationen (wofür wir sehr dankbar sind!).

Wir finden also zwar Betriebsaktive, aber nicht viele. Wir finden aber zunehmend kritische und linke Gewerkschaftssekretär:innen und sogar einen Wandel der Strukturen innerhalb des DGB. Das entspricht der Struktur etwa der Förderer:innen z.B. von LabourNet oder den Neu-Abonnent:innen des express: Die Basis unserer Projekte besteht zunehmend nicht mehr aus im Betrieb Aktiven, sondern aus einem durchaus gewandelten Milieu von Gewerkschafts-Offiziellen.

Bei aller Anerkennung des kritischen Potentials und auch der praktischen Arbeit dieses Milieus ist zumindest kritisch zu fragen, ob es sich dabei tatsächlich um ein Näherrücken einer akademisch geprägten Linken an »die Arbeiter:innenklasse« handelt oder nicht vielmehr um eine schleichende Entfremdung des sich so erneuernden Gewerkschaftsapparats von eben dieser. Das Gegenargument kann allerdings gleich mitgeliefert werden: Letztlich nicht unähnlich zu den Rahmenbedingungen der globalen Revolte von 1968 »proletarisieren« sich die Hochschulen, insbesondere die dortigen Beschäftigungsverhältnisse, während gleichzeitig zahlreiche Beschäftigungsverhältnisse in der Ausbildung akademisiert werden und wir begleitend dazu viele gymnasiale und akademische Biografien in prekären Beschäftigungsverhältnissen vorfinden (vgl. Gohlke 2021).

Gemeinsam Grünkohl essen

In der Gesamtschau gibt es nicht mehr viele emanzipatorische Betriebsgruppen, in einigen Branchen (Chemie, Einzelhandel) sind sie nahezu vollständig zusammengebrochen. Aber immerhin: Es gibt noch welche, und es gibt sogar neue. Und einige von ihnen sind, zumindest was die öffentliche Wahrnehmung angeht, sogar relativ erfolgreich (Amazon, Delivery Riders). Sie von der reinen Quantität her mit der Hoch-Zeit der Betriebsgruppen zu vergleichen, bleibt aus mehreren Gründen schwierig:

Zum einen gibt es auch aus jener Zeit keine verlässlichen Zahlen, der Eindruck von mehr Quantität entsteht eher aus medialer Konzentration: Verschiedene Gruppen nutzten die gleichen Medien – wie etwa den express –, und auch wo sie dies nicht taten, produzierten sie Bücher und Zeitungen, die heute quantitativ in den Weiten des Internets untergehen würden. In Zeiten von »social media«, Blogs und Homepages brauche es ein solches Projekt nicht mehr, wird oftmals geunkt. Das allerdings unterstützt die aus anderen Gründen sowieso schon vorhandene Fragmentierung einer linken Betriebslandkarte. Der express bekommt zwar nach wie vor Informationen aus den Betrieben – und vermutlich auch mehr als andere –, aber wir müssen uns sehr aktiv um diese bemühen, wir müssen sie suchen, die entsprechenden Personen interviewen, neueren Betriebsgruppen aus weniger traditionell strukturierten Branchen erst erklären, warum wir ein spezifisches Interesse an ihnen haben, dass wir uns praktisch als »ihr« Medium verstehen. Warum sollten – konkret – in Berlin lebende Rider:innen, möglicherweise von einem anderen Kontinent geflüchtet, beruflich immer das Smartphone zu Hand, eine Zeitung wie den express als »ihr« Medium wahrnehmen?

Kurz: Möglicherweise gibt es genauso viele Betriebsgruppen und -aktivist:innen wie eh und je. Sie sind nur völlig anders strukturiert: Ihnen fehlt oftmals der überbetriebliche Zusammenhalt, weil ihnen ‒ neben vielen anderen Gründen ‒ sowohl eine gemeinsame Diskussionsplattform fehlt als auch eine gemeinsame Zielsetzung, die über die Bewältigung des betrieblichen Alltags hinausreicht. Es fehlen Ort und Zeit für einen überbetrieblichen Austausch und eben hier liegt eine der wesentlichen Aufgaben des express und ähnlicher Projekte.

Zum zweiten sorgten die Umstände für eine höhere Aufmerksamkeit: Gruppen wie die GoG bei Opel Bochum, plakat bei Daimler-Benz Untertürkheim, linke Akti­vist:innen bei VW und in anderen Auto- und Chemieunternehmen waren von Gewerkschaftsausschlüssen bedroht – dagegen sind die Gewerkschaften heute dankbar um jedes Mitglied. Aus der Studie ließen sich Fälle benennen, die früher ein Fall für einen Gewerkschaftsausschluss gewesen wären, heute dagegen Anlass für eine gewerkschaftliche Solidaritätskampagne. Das ist nun kein Indiz dafür, dass die Einzelgewerkschaften sich radikalisiert hätten. Vielmehr hat dies mit schwindender Mitgliederstärke und damit auch mit schwindender Organisationsmacht zu tun. Die Strategien dagegen – die strategische Wahl (zwischen bürokratischem und mitgliederorientiertem Ansatz), die die Gewerkschaften laut Klaus Dörre (2008) haben – können durchaus eine gewisse Radikalisierung beinhalten. Und mehr noch: Es schwindet nicht nur das quantitative Mitgliederpotential, es schwindet auch das quantitative Potential an möglichen Hauptamtlichen, was wiederum einige »radikale Elemente« in den Gewerkschaftsapparat schwemmt (ob sie dort auch tatsächlich »radikal« bleiben, ist allerdings eine andere Frage). Verstärkt wird dieser Prozess noch dadurch, dass es in den Betrieben einfach nicht schön ist.

Ein exemplarisches Beispiel sind die Tarifstreiter:innen der cebeef in Frankfurt um 2007, aus denen sich z.T. die erste Generation von Organizer:innen der IG Metall rekrutiert hat. Das Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht paradigmatisch: Wir haben es erstens mit einem durchaus akademisch geprägten Milieu zu tun, zweitens mit prekärer Beschäftigung, drittens aber auch mit einer Tätigkeit mit einem ethisch-inhaltlichen Anspruch an sich selber. Ich vermute mal, niemand bei cebeef hat jemals an eine »Betriebsintervention« gedacht. Nichtsdestotrotz haben wir es viertens mit einem linken – und auch in Klassenkategorien denkenden – Milieu zu tun. Und fünftens gehen die Akteur:innen dann einen durchaus typischen Weg: Auf der Basis ihres politischen und betrieblichen Engagements nutzen sie diese Ressource für einen anderen beruflichen Weg – in diesem Beispiel das von Gewerk­schafts­sekretär:innen, in anderen ­Fällen den Rückzug in den hochschulischen Elfenbeinturm oder die sozialarbeiterische Passion (etwa in der Fleischindustrie des Oldenburger Münsterlands). Diese Biografien haben eine Gemeinsamkeit: Sie suchen nicht nur einen Beruf mit besseren Lohnaussichten, sondern gleichzeitig auch eine Berufung mit einem inhaltlichen Anspruch an das Arbeitsleben.

Insofern ist es hoch aufschlussreich, wo gegenwärtig »Cluster« des Betriebsaktivismus zu finden sind: in der Pflege und in der Bildung – also dort, wo ein inhaltlicher Anspruch an die eigene Arbeit tendenziell eher verwirklicht ist als in der Industrie bzw. industrienahen Dienstleistungen. Es wundert eigentlich wenig (und ist auch nichts Neues), dass man in diesen Bereichen engagierte Personen findet, auch deshalb, weil hier zwar Handlungsräume schwinden, aber immer noch in einem relativ größeren Rahmen als woanders vorhanden sind. Das Neue, oder zumindest Neuere, daran ist, dass sich dieses Engagement vermehrt auf die eigene Klassenposition und betriebliche Rolle bezieht und dass auch eine Beziehung zu anderen Klassenpositionen und betrieblichen Rollen gesehen wird. Das weist auf etwas Wesentliches hin: Die Aktualität der Idee des Erfahrungsaustauschs, die unter den Vorzeichen von Fragmentierung und Individualisierung noch relevanter wird.

Krankenhaus und Pflege sind in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung: Sie sind nicht ganz so prekär wie Callcenter, Onlineversand oder Delivery Services. Deshalb finden wir hier mehr Kontinuität, sowohl was einzelne berufliche Lebenswege ­angeht als auch, was betriebliche Widerstandstraditionen angeht. Verstärkt wird dieser Aspekt durch drei weitere Tendenzen: Erstens ist die Öffentlichkeit voll und ganz auf der Seite der Beschäftigten (das gilt auch für andere, neuerdings als »systemrelevant« bezeichnete Berufe in der Ernährungsindu­strie, dem Öffentlichen Nahverkehr oder im Bereich Soziales und Erziehung); zweitens ergibt sich eine Verbindung mit der erneuerten feministischen Bewegung und drittens ist das Organizing hier intensiv und erfolgreich.

Das bisher Gesagte hat aber noch eine weitere Implikation. Es ist ein wenig paradox, dass vermehrt von »Machtressourcen« die Rede ist, Organisierung aber hauptsächlich dort stattfindet, wo diese gering sind: In Bildung, Pflege und prekären Beschäftigungsverhältnissen im Allgemeinen, dazu aufgrund der prekären Grundstruktur dieser Branchen und Sektoren, stark fluktuierend. Just in dem Moment, wo die soziologische Klassenanalyse die »Macht« wiederentdeckt, organisieren sich Linke hauptsächlich da, wo diese Macht vergleichsweise gering ist.

Das hat verschiedene Gründe: Zunächst einmal ist es völlig plausibel und sinnvoll, sich dort zu organisieren, wo man eben selbst betroffen ist und unmittelbar etwas verändern kann. Dass betriebliches Engagement sich ganz offensichtlich dahin verschoben hat, wo die Machtressourcen geringer sind (der lange Atem von Amazon gegen die Streiks der Arbeiter:innen weist etwa darauf hin), ist insofern schlicht ein Spiegel der veränderten (dienstleistisierten, digitalisierten sowie migrantisierten und feminisierten) ­Arbeitsverhältnisse. Die Betriebsinterventionist:innen der 1970er Jahre setzten dort an, wo sie möglichst viel Macht zu finden glaubten: einerseits in der Großindustrie, andererseits bei den sog. Massenarbeiter:innen. Das Stichwort der Stunde war entsprechend: Autonomie. Autonomie, also Unabhängigkeit und Freiheit, setzt ein Mindestmaß an Macht voraus.

Der entscheidende Begriff betrieblichen Engagements heute dagegen ist Prekarität, also gegenseitige Abhängigkeit und Unsicherheit. Das entspricht der identitätspolitischen (bereits langjährigen) Mode, sich an einem passivierenden »Opferstatus« zu orientieren, statt Potentiale (also Handlungsmöglichkeiten) auszuloten: Wer sind die am meisten (Über)Ausgebeuteten? Welches Arbeitsverhältnis ruft am meisten Empörung hervor? Wo können wir am besten moralisch argumentieren? Aber auch: Wo wirken die Kämpfe am militantesten, am wildesten? Diese Orientierung auf Prekarität muss gegenüber der »autonomen« Sichtweise überhaupt kein Nachteil sein, vielleicht ist es auch nur schlicht die realistischere, auch die dem Betriebsalltag näher Kommende. Sie erklärt nur einen wesentlichen Unterschied.

Und vielleicht kann gerade diese Bewusstheit der gegenseitigen Abhängigkeit voneinander, richtig gewendet, Ausgangspunkt von betrieblicher und überbetrieblicher medialer Vernetzung und Organisierung sein.

Das sei abschließend noch einmal am eigenen biografischen Beispiel erläutert: Die in Münster von 2005 bis 2010 in verschiedenen Callcentern aktive Gruppe »Telefonzelle« war zwar keine Betriebsintervention, sie war aber beeinflusst von dem Vorgehen von kolinko und trat offensiv – und auch erfolgreich – auf. Sie repräsentierte in gewissem Sinne die Idee der »Autonomie« durch Betriebszellenaufbau. Es hat Jahre gedauert zu bemerken, dass es durchaus noch andere Kreise gab, die innerbetriebliche Opposition organisierten: Diese trafen sich nicht in einem linken Zentrum zum »Plenum«, sondern privat zum »Grünkohlessen« und repräsentierten die »Prekarität«. Stark zugespitzt: In der »Telefonzelle« sammelte sich die linksradikale und teilweise hochschulpolitische Szene (von Uni-GAL bis Antifa) aus der Stadt Münster, beim Grünkohlessen trafen sich die alleinerziehenden Mütter aus dem Münsterland.

Die »Grünkohl«-Kreise sind kaum zu entdecken, denn sie wollen auch einfach nicht entdeckt werden. Sie doch zu finden, bedarf eines jahrelangen Vertrauensaufbaus. Wenn sie mutig oder »verrückt« genug (Artus 2008) sind, werden sie irgendwann aktive Gewerkschafter:innen, gründen aber nicht unbedingt politisch linke Gruppen im Betrieb. Ihre Themen und Kämpfe haben dann oft »kollektiv-individuelle Formen, die nicht per se oppositionell sind, die nicht automatisch zum Streik und zur Organisierung führen, aber doch Sand ins Getriebe streuen« (Birke 2022: S. 360f.).

Wenn wir auf eine neue – oder erneuerte – Arbeiter:innenbewegung hoffen, in der »die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiter selbst« sein soll, so ist es unvermeidlich, den Blick hierauf zu konzentrieren, ohne transformatorische oder emanzipatorische Projektionen. Grünkohl muss keineswegs Grünkohl bleiben. Aber ebenso wie Peter Birke schreibt, dass es »ziemlich lange« dauert, »bevor man solche Geschichten erzählt bekommt« (ebd., S. 362), so ­dauerte es auch ziemlich lange, bis die ­Grünkohl-Kreise den linken Betriebszellen trauten. Das wussten die Betriebsinterventionist:innen der 1970er Jahre häufig sehr genau (aber auch erst, nachdem sie es im Betrieb gelernt hatten).

Wenn die folgenden abschließenden Thesen zum »Betriebsaktivismus heute« immer noch optimistisch anmuten, dann vor diesem Hintergrund eines »langen Atems«. Erst einmal kommt es darauf an, überhaupt »Poren des Arbeitstags« (MEW 23, S. 432) zu finden, um »Luft zum Atmen« zu haben.

Thesen zur Betriebslinken heute

  1. Die Branchenschwerpunkte haben sich verlagert.

In den 1970er und auch noch bis in die 1990er Jahre fanden wir betriebslinke Or­ganisationen und aktive Einzelpersonen mehrheitlich in der Metallindustrie, etwas weniger, aber durchaus auch, im Organisa­tionsbereich der IG BCE. Dass der Aktivismus hier schwächer wird und in anderen ­Bereichen stärker, ist zum einen völlig plausibel, weil es mit den Veränderungen der Beschäftigungsverhältnisse allgemein (Stichwort Tertiarisierung) genauso harmoniert wie mit der Veränderung des wirtschaftlich-sozialen Konfliktgeschehens. Der Aktivismus wandert von den festen Burgen der Sozialpartnerschaft (existierende BR, relativ gute Tarifverträge, relativ gute Tarifbindung) zu den prekären, konflikthaften Randzonen.

Aus verschiedenen Gründen ist das zu problematisieren: Erstens liegt die wirtschaftliche Hauptmacht trotz strukturellen Wandels immer noch in der M+E-Industrie und in der Chemie – auch versammeln diese Branchen immer noch einen Großteil von Beschäftigten. Folglich wäre hier, zweitens, die Arbeiter:innenmacht immer noch am größten, während sie in den prekären, konflikthaften Randzonen eher klein ist. Und drittens haben hier die Gewerkschaften einen ganz anderen Status, was Vor-, aber auch Nachteil sein kann: Einerseits ist es für die Gewerkschaften deutlich schwerer, in die Betriebe hineinzukommen und Unterstützung zu leisten (mangels Organisiertheit im Betrieb), andererseits aber sind die Start-Ups häufig so unerfahren in Sachen Arbeitsrecht, dass sie oftmals recht einfach zu überrumpeln sind, bis sie sich selber Rechtsbeistand (oftmals dann einer großen Union Busting-Kanzlei) holen.

  1. Eine neue und andere Betriebslinke entwickelt sich.

Eine Chance dieser kleineren »neuen« Betriebsgruppen liegt allerdings in ihrer anderen Konzeption. Ursächlich hängt dies mit einem Trend zum Organizing zusammen, der zum einen durchaus in der Tradition der älteren Betriebsintervention steht und in diesem Sinne eine erneuerte Basisorientierung und Demokratiepraxis aufweist. Durch das professionelle Organizing seitens der Gewerkschaften einerseits und durch das wachsende Interesse am Organizing durch Stadtteilgruppen und soziale Bewegungen andererseits (wie bei Deutsche Wohnen & Co Enteignen!) sowie durch linke Organisationen, die Betrieb und Klasse neu entdeckt ­haben, sind hier neue Formen von Betriebsarbeit erkennbar (vor allem in den Krankenhäusern). An die Stelle einer bewussten und ideell geprägten Intervention von außen (einer Organisierung nach »Köpfen«) tritt nun tatsächlich eine Selbstorganisation nach Interessen (Negt 1973). Dieser Prozess beginnt gerade erst. Er ist aber weitgehend traditionslos und hat daher nur wenig Bezug zu Medien und Organisationen der früheren Betriebslinken: Branchen, Themen und po­litische Verbundenheiten haben eine neue betriebliche Basis von den Medien der Betriebslinken wie dem express entfremdet. Es bedarf eines aktiven Prozesses, um diese Verbindung herzustellen.

  1. Die Ausdifferenzierung der Arbeitswelt macht Organisierung unwahrscheinlicher

Die Veränderung der wirtschaftlichen Strukturen bedeutet nicht nur Prekarisierung, sondern auch Zerstückelung (z.B. Betriebsstrukturen, Lieferketten, Outsourcing, Leiharbeit und Werkverträge…). Neue Betriebsgruppen sind einerseits unwahrscheinlicher und andererseits komplexer, weil die Zusammensetzung in den Betrieben multipler ist: Im Fokus der Betriebsintervention der 1970er standen Facharbeiter und Angelernte, interveniert wurde vor allem aus einem akademischen Zusammenhang. Milieu und Habitus der Facharbeiter:innen waren im jeweiligen Betrieb tendenziell ähnlicher, als es heute der Fall ist. Sprache, Habitus und Beschäftigungsform divergieren in heutigen Betrieben erheblicher. Diese verschiedenen Milieus, Lohngruppierungen etc. machen eine gemeinsame Klassen- oder Arbeitsbewusstheit (WSI 2016) und damit auch eine Organisierungsbasis unwahrscheinlicher, obwohl sich die ökonomischen Bedingungen – z.B. auch zwischen akademischen und anderen Berufsfeldern – durchaus angleichen. Die Folge sind eher vereinzelte Organisierungen, die sich in der Form und Widerstandsweise durchaus ähneln und durchaus zueinander finden können. Dies setzt jedoch Foren für den Erfahrungsaustausch dieser Bewegungen/Initiativen voraus – dies definiert das Aufgabenfeld von Medien wie dem express. Die multiplen Milieus (verschiedene Klassen und Klassenfraktionen nach Dörre 2019) erschweren aber auch die gemeinsame Ansprache durch ein kollektives Medium.

  1. Neue Betriebsgruppen haben neue Themen

Gewisse Themen – Arbeitszeit und Gesundheit vor allem, Letzteres nicht erst seit Corona – bleiben dauerhaft aktuell. In aktuellen betrieblichen Debatten sind es aber vor allem drei Themen, die (teils erneut) durch soziale Bewegungen an Relevanz zu gewinnen, wenn auch auf verschiedene Weise. Das Thema Migration scheint vor allem durch Selbstorganisation auf der Tagesordnung zu stehen. Das Thema Geschlechterverhältnisse drängt von zwei Seiten auf die betriebspolitische Bühne: einerseits durch den wachsenden Dienstleistungssektor (CareWork, SuE, Krankenhaus-Bewegung), andererseits durch die globale Frauenstreik-Bewegung. Nicht zuletzt aber auch das Thema Ökologie, vorangetrieben durch die junge Klimabewegung, die seit Kurzem den Kontakt in die Betriebe, ausgerüstet mit Organizing-Know-How, bewusst sucht.

  1. Die existierende Lücke wird teilweise durch gewerkschaftliches Organizing geschlossen.

Neue Betriebsgruppen sind zwar ein zartes Pflänzchen und bei Weitem keine »kritische Masse«. Verschiedene alte Strukturen brechen völlig zusammen. Die Zusammenarbeit der neuen feministischen Gruppen oder der jungen Klimagerechtigkeitsbewegung mit Gewerkschaften und betrieblichen Gruppen beschränkt sich auf sehr wenige Beispiele. Das von den großen Gewerkschaften etablierte Organizing kann zwar kein Ersatz für linke Betriebsgruppen und Basisarbeit sein, es gibt aber einige Aspekte, die dieses in den Fokus rücken lassen: Erstens besteht die Möglichkeit, dass sich die Gewerkschaften selber durch das Organizing zu demokratischeren Organisationen verändern. Zweitens sind die Organizer:innen oftmals aus sozialen Bewegungen rekrutiert oder stehen diesen nahe: In der Hauptamtlichenstruktur der großen Gewerkschaften steht damit ein Generationenwechsel an (bzw. ist schon gelaufen), der Gewerkschaften und soziale Bewegungen näher zusammenrücken lassen kann und gleichzeitig das Interesse von Hauptamtlichen an übergreifender Verständigung und etwa Projekten wie dem express wachsen lässt.

Zu guter Letzt findet das Organizing aktuell aus seiner »gewerkschaftlichen Nische«: Das Interesse sozialer und politischer Bewegungen am Organizing wächst, in der Frauenstreik- und Klimastreikbewegung sowie bei Stadtteilgruppen. Diese erstmal nur methodisch-technische Gemeinsamkeit führt auch dazu, dass sich die relativ fremden Milieus bzw. Bubbles näherkommen und dass somit auch in den sozialen und politischen Bewegungen das Interesse an betrieblichen Themen und Bewegungen wächst.

Dieser Trend wird noch unterstützt durch eine »diskursive« Wiederkehr des Streiks: Einerseits rekurrieren Klima- und feministische Bewegung zentral auf den Begriff Streik, andererseits erfahren so verschiedene Streiks wie der Streik der GDL, der »wilde« Streik bei Gorillas Berlin, die Krankenhaus- und Carework-Bewegung eine mediale und öffentliche Aufmerksamkeit, die mindestens als steigend beschrieben werden kann. Dazu kommen internationale Entwicklungen wie etwa die relativ breit beachtete Streikwelle in den USA (siehe express 11/2021). Kurz: Der Streik gerät verstärkt in den Fokus sozialer und politischer Bewegungen und verstärkt den beschriebenen Trend.

Für den express und »artverwandte« Projekte ergeben sich 2022 aus dem Gesagten m.E folgende Aufgabenfelder: Zum ersten die Vernetzung jener »neuen« betriebslinken Gruppen, die aktuell entstehen und bereits relativ stark sind, wie in der Pflege und der Krankenhausbewegung, unter den Riders und in Einzelunternehmen wie amazon. Zum zweiten, und das wurde kürzlich von Berliner Rider:innen auch ausdrücklich so gewünscht, die Vernetzung von Betriebsaktiven der älteren und der jüngeren Generation. Vielfach wurde in der Befragung ein Bedürfnis nach Orten, Zeiten und Medien für einen überbetrieblichen Austausch deutlich.

Die schwierigere Aufgabe bleibt es, dort Strukturen zu entdecken und zu fördern, wo diese kaum noch zu finden sind, namentlich etwa im Einzelhandel und imChemiesektor, sowie überall dort, wo es zwar renitente Einzelpersonen oder Kleinstgrüppchen gibt, denen aber bislang Rückhalt, Basis und Vernetzung fehlt.

Überflüssig ist der express also auch nach 60 Jahren bei Weitem nicht. Im Gegenteil: Für eine Schildkröte ist 60 Jahre kein Alter, wir fangen gerade erst an.

Überlegungen zur Rolle des express 2022 von Torsten Bewernitz im express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 5/2022

Literatur:

Arps. Jan-Ole: Frühschicht. Linke Betriebsintervention in den 70er Jahren. Berlin/Hamburg 2011.

Artus, Ingrid: Prekäre Vergemeinschaftung und verrückte Kämpfe. Repressive Integration als Herrschaftsmodus im prekären Dienstleistungsbereich. In: Prokla 150/2008. S. 27 – 48.

Birke, Peter: Grenzen aus Glas. Arbeit Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland. Wien 2022.

Dörre, Klaus: Die strategische Wahl der Gewerkschaften. Erneuerung durch Organizing, in: WSI-Mitteilungen 1/2008, S. 3–10.

Dörre, Klaus: Umkämpfte Globalisierung und soziale Klassen. 20 Thesen für eine demokratische Klassenpolitik. In: Mario Candeias, Klaus Dörre und Thomas Goes: Demobilisierte Klassengesellschaft und Potenziale verbindender Klassenpolitik. Berlin 2019. S. 11 – 56.

Gohlke, Nicole: Klassenpolitik in Zeiten von Akademisierung und neuer Unsicherheit. Plädoyer für eine zeitgemäße Betrachtung von Akademiker*innen. https://legacy.zeitschrift-luxemburg.de/lux/wp-content/uploads/2021/03/rls_lux_mini_2021_final_es-1-1.pdf externer Link

Negt, Oskar: Nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen organisieren! Aktuelle Fragen der Organisation. In: Sozialistisches Büro (Hrsg.): Für eine neue sozialistische Linke. Analysen, Strategien, Modelle. Frankfurt a.M. 1973. S. 216 – 226.

Silver, Beverly J.: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin/Hamburg 2005.

Wolf, Yanira: Streikpraxis. Feminist*innen aus Bewegung und Gewerkschaft berichten. Berlin 2021.

WSI-Mitteilungen 7/2016. Schwerpunktheft Gerechtigkeitsansprüche und Arbeitnehmerbewussstein heute.

Anmerkung:

1        https://www.spdbwnewsarchiv.de/dl/20180724_MITMACHT_Engagement_Organizing.pdf externer Link

Die von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt beauftragte (und noch nicht veröffentlichte) Studie bezog sich auf den express und das LabourNet Germany – siehe unseren Aufruf: [Wir bitten um Teilnahme an der Befragung] Wo sind die Betriebsaktivist:innen von heute?

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=201091
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