Billiglohnland BRD: Organisierungsversuche und Kämpfe von Truckern gegen Lohndumping

Die Mai-Ausgabe (Nr. 456) der Zeitschrift ila - das Lateinamerika-Magazin - zum Thema "Logistik"Bei den Recherchen zu diesem ila-Schwerpunkt merkten wir, dass zwar häufig von den vielen LKWs auf deutschen Autobahnen geredet wird, aber sehr wenig über das hiesige Logistiksystem bekannt ist. Die deutsche Verkehrspolitik ist von Lobbyismus geprägt ohne ein Fünkchen Weitsicht. Die Transportpreise werden gedrückt. Hohe Unfallzahlen werden ebenso hingenommen wie die wachsende Brüchigkeit der Lieferketten durch die Just-in-time-Strategie in Produktion und Logistik. Man ließ das Bahnnetz schrumpfen, während das Autobahnnetz weiter ausgebaut wird. Autobahnen werden privatisiert, ansonsten bröselt der Beton, und mehr als 13000 Autobahnbrücken müssen saniert werden. Neoliberale Politik in Reinkultur. Doch es gibt auch Gegenwehr…“ Artikel von Karsten Weber aus der ila 465 – wir danken!

Billiglohnland BRD

Organisierungsversuche und Kämpfe von Truckern gegen Lohndumping

Die Mai-Ausgabe (Nr. 456) der Zeitschrift ila - das Lateinamerika-Magazin - zum Thema "Logistik"Bei den Recherchen zu diesem ila-Schwerpunkt merkten wir, dass zwar häufig von den vielen LKWs auf deutschen Autobahnen geredet wird, aber sehr wenig über das hiesige Logistiksystem bekannt ist. Die deutsche Verkehrspolitik ist von Lobbyismus geprägt ohne ein Fünkchen Weitsicht. Die Transportpreise werden gedrückt. Hohe Unfallzahlen werden ebenso hingenommen wie die wachsende Brüchigkeit der Lieferketten durch die Just-in-time-Strategie in Produktion und Logistik. Man ließ das Bahnnetz schrumpfen, während das Autobahnnetz weiter ausgebaut wird. Autobahnen werden privatisiert, ansonsten bröselt der Beton, und mehr als 13000 Autobahnbrücken müssen saniert werden. Neoliberale Politik in Reinkultur. Doch es gibt auch Gegenwehr.

von Karsten Weber

Der Beruf des LKW-Fahrers war ein gut bezahlter und angesehener Job, doch das ist lange her. In Deutschland ist die Mehrheit der Berufskraftfahrer bei Speditionen angestellt, während global die meisten selbst fahrende Unternehmer sind. Der letzte große LKW-Streik in Deutschland fand 1983 statt und wurde mit einem massiven Polizeieinsatz beendet. Die 2001 in Ver.di aufgegangene Gewerkschaft „Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr“ (ÖTV) wurde für diesen Arbeitskampf belangt und nach einem zehnjährigen juristischen Verfahren zu einer Zahlung in zweistelliger Millionenhöhe verurteilt. Damit endete das Interesse der Gewerkschaft an den Truckern.

Doch sowohl in Deutschland als auch weltweit kam es in der Transportindustrie in den letzten Jahren zu Kämpfen jenseits der Gewerkschaften, und angestellte Fahrer streikten gemeinsam mit Kleinunternehmern in neugegründeten gemeinsamen Organisationen oder im lockeren Bündnis.

In den frühen 1990er-Jahren setzte in Europa eine massive Deregulierung im Logistikbereich ein. Die Aufhebung fester Frachtpreise hatte weitreichende Folgen. Hauseigene Fuhrparks großer Betriebe wurden aufgelöst und von Speditionen im gegenseitigen Dumpingwettbewerb ersetzt. Die EU-Osterweiterung ermöglichte osteuropäischen Unternehmen, den deutschen Markt zu bedienen. Die Behörden verzichteten weitgehend auf Kontrollen, was zu Wildwest-Zuständen auf den Autobahnen führte. Fahrzeuge mit Sicherheitsmängeln und übermüdete Fahrer sorgten für einen Anstieg von schweren Unfällen.

Zu den ersten selbstorganisierten Protesten kam es im Rahmen der Wirtschaftskrise 2008 und 2009. Hupende LKW-Konvois bewegten sich durch den Südosten Deutschlands, und bis zu 800 LKW versammelten sich auf einem Rastplatz. Ausgegangen waren diese Proteste unter dem Namen „Dieseldemos“ von selbst fahrenden Unternehmern, denen die steigenden Spritpreise zu schaffen machten. Taxifahrer und Landwirte schlossen sich an. Basis der Organisierung waren ein offenes Mikrofon und soziale Medien. Doch man war unerfahren und unsicher im Umgang mit einer solchen öffentlichen Veranstaltung und wählte jemanden als Sprecher, der organisatorisches und Redetalent bewiesen hatte: einen pensionierten Autobahnpolizisten. Das war der Anfang vom Ende der Basisdemokratie und dann der Proteste.

In den folgenden Jahren kam es in den Mittelmeerländern (Frankreich, Spanien und Griechenland) zu Truckerstreiks, in anderen Ländern zu Protestaktionen mit internationaler Beteiligung. Es entstanden Selbstorganisationen, auch in Deutschland. Die ersten Protestaktionen mit gerade mal ein paar Dutzend Teilnehmern wurden von einem Teil der Fahrerszene verlacht.

Mit dem weiteren Fall der Frachtpreise und sinkenden Löhnen wuchsen die Spannungen. In der sehr individualistischen und machohaften Kultur der LKW-Fahrer gibt es ein rassistisches Grundrauschen. In Ländern mit starken rechtspopulistischen Parteien entluden sich rassistische Spannungen unter Fahrern. In den Niederlanden und Dänemark wurden osteuropäische Fahrer zusammengeschlagen, und einige ihrer Fahrzeuge gingen in Flammen auf. Solche Übergriffe gab es in Deutschland nicht.

Man hatte sich schon fast an die osteuropäischen Kollegen gewöhnt, als philippinische Fahrer auftauchten, die über eine lettische Firma angeheuert worden waren und von einer Niederlassung in Lübeck zu Fahrten durch Europa starteten. Eine Welle der Empörung ging durch die Fahrerwelt, und in vielen westeuropäischen Ländern entstanden Organisationen zur Abwehr der Konkurrenz aus Asien. Es sollte erwähnt werden, dass die bestehenden deutschen Fahrerselbstorganisationen und auch die zu diesem Anlass neugegründete mit Rassismus nichts am Hut hatten. Nach einem Protestkonvoi zur Lübecker Niederlassung der Spedition stellte man klar, dass die philippinischen Kollegen kein Problem darstellten, sondern dass es allein um den Versuch ging, die Frachtkosten und Löhne weiter zu drücken. Es war eine gelungene Protestaktion mit guter Beteiligung und kämpferischer Stimmung. Einige Fahrer wollten eine spontane Blockadeaktion starten. Eine als Gastrednerin geladene sozialdemokratische EU-Parlamentarierin pfiff die Fahrer wieder zurück: Wenn man wirklich etwas ändern wolle, müsse man erst einmal bei den Wahlen für andere Machtverhältnisse sorgen.

Doch Migration gibt es nicht nur in eine Richtung. Weil Deutschland im Transportbereich ein Billiglohnland geworden ist, suchen sich deutsche Fahrer eine Arbeit in den umliegenden Ländern. Umgekehrt gründen Logistikunternehmen aus EU-Ländern, in denen das Lohnniveau höher ist, formell Niederlassungen in Deutschland. Eine kleine Protestaktion in Flensburg vor einem Gebäude voller Briefkästen dänischer Speditionen erregte in Dänemark große Aufmerksamkeit. Die Empörung in der dortigen Öffentlichkeit veranlasste die dänische Verkehrsministerin, die Bundesregierung aufzufordern, gegen Briefkastenunternehmen und die Praxis des Lohndumpings vorzugehen.

Eine Zeit lang fand einmal im Monat an wechselnden Orten ein Protest statt mit meist unter 100 Teilnehmer*innen. Die philippinischen Fahrer waren zu der Zeit in einen wilden Streik getreten, da ihre Löhne in US-Dollar berechnet wurden und der Kursverfall ihnen einen Lohnverlust bescherte. Die Fahrerselbstorganisationen unterstützten sich bei ihren Protestaktionen gegenseitig. Es gab Versuche, die Proteste mit anderen zusammenzubringen. Man ging mit Krankenschwestern von der Aktion „Pflege am Boden“ gemeinsam auf die Straße. Nachdem in Fahrerforen über den Wanderzirkus viel gewitzelt worden war, wollte man etwas Großes mit vereinten Kräften wagen.

Es sollte ein grenzüberschreitender Protest mit gemeinsamen Forderungen werden. Die Protestaktion fand am 3. Mai 2014 am Brandenburger Tor in Berlin statt, während gleichzeitig in Stockholm, Oslo, Kopenhagen, Madrid, Rom und Den Haag demonstriert wurde. Zu den Aufrufern gehörten die dänische Gewerkschaft 3F, die spanische CNT und diverse Fahrerselbstorganisationen, doch wichtiger war die Beteiligung aus unterschiedlichen Branchen und Betrieben: Ford-Arbeiter*innen aus Köln, S-Bahner, Aktivist*innen von Amazon, Taxifahrer*innen, Hafen- und Lagerarbeiter*innen, und international wurde es mit einer Delegation aus Griechenland, Grußbotschaften aus Italien (SI Cobas), Japan (Doro Chiba) und Kanada (United Truckers Association UTA).

Es sollte ein Sprung von kleinen lokalen Protesten zu einem massiven und grenzüberschreitenden Kampf werden. Man hatte den Titel „Together Now – Drivers‘ Voice for a Social Europe“ als Motto gewählt, doch in Deutschland klappte es mit dem „Together Now“ nicht. Die Fahrerorganisationen waren nicht frei von Konkurrenzdenken. Absprachen wurden nicht eingehalten, und teilweise wurde gegeneinander gearbeitet. Mit einer Teilnehmerzahl von unter 300 blieb man weit hinter den selbstgesteckten Zielen zurück. Die Polizei gab der Veranstaltung den Rest. Sie ließ erst den Cateringwagen schließen, um wenig später die gesamte Veranstaltung abzubrechen, bevor die Solidaritätserklärungen verlesen und alle Reden gehalten waren. Eine zufällig anwesende Anwältin konnte noch eine minimale Verlängerung aushandeln, doch die Polizei ließ sich nicht davon abbringen, es handle sich nicht um eine politische Veranstaltung, sondern um ein kommerzielles Bierfest.

Die Veranstalter wurden von einem heftigen Shitstorm aus der Fahrerszene heimgesucht. Die zahllosen Einzelkämpfer dachten, es müssten sich Tausende an solchen Protesten beteiligen. Als diese Erwartungen nicht erfüllt wurden, gab man „unfähigen“ Veranstaltern die Schuld und sparte nicht an Beleidigungen. Das war das Ende der selbstorganisierten Fahrerbewegung.

Die Transportbranche unterscheidet sich stark von anderen Branchen. Traditionelle gewerkschaftliche Organisierung ist kaum möglich, auch weil sie von einer individualistischen Truckerkultur des „Lonesome Cowboy“ geprägt ist.

Unter dem bewussten Wegschauen der Behörden haben sich mafiöse und brutale Zustände ausgebreitet. Dabei hat sich ein Geschäftsmodell von Zwischenhändlern entwickelt, die Transportaufträge an Spediteure weitervermitteln. Für viele war das eine reine Betrugsmasche. Ohne den Transport abzuwickeln, nahmen sie das Geld und verschwanden. Kleine und mittlere Speditionen schlossen sich im Verband CamionPro als Schutzgemeinschaft zusammen. CamionPro beteiligte sich an Fahrerprotesten und verhält sich bisweilen gewerkschaftsähnlich. Das Preis- und Lohndumping wird bekämpft, migrantische Fahrer werden mit mehrsprachigen Infos versorgt, und man unterstützt sie mit Dolmetscher und Anwalt, wenn sie die juristische Auseinandersetzung wagen. CamionPro hat sich wallraff‘sche Methoden zur Aufdeckung krimineller Machenschaften in der Branche angeeignet und in zahlreichen TV-Reportagen dokumentiert.

Der Unterbietungswettbewerb setzt sich fort mit Frachtbörsen, bei denen der billigste Anbieter den Zuschlag erhält. Das Entstehen eines Systems von Sub-Sub-Unternehmen hat es großen Auftraggebern wie DHL ermöglicht, die Verantwortung auf Kleinstspediteure abzuwälzen. Deutsche Speditionen haben Büros in Osteuropa eröffnet. Arbeiterrechte und Arbeitsschutz werden ignoriert. Die Liste der Grausamkeiten ist endlos: gefälschte Dokumente der Qualifikation der Fahrer, massiver Druck zur Überschreitung der erlaubten Arbeitszeit, wahllose Kürzungen der Bezahlung bis hin zur physischen Bedrohung aufmüpfiger Fahrer.

Das Elend auf deutschen Autobahnen ist gut dokumentiert und durch TV-Beiträge bekannt. Seit Jahren fragt man sich, wann es denn knallt und zu einem Aufruhr kommt. Mit der Wirtschaftskrise 2020 gab es die nächsten Proteste am Brandenburger Tor. Sie wurden von Spediteuren organisiert, auch eine Fahrerorganisation und Landwirte schlossen sich an. CamionPro berichtete, osteuropäische Fahrer würden von ihren Arbeitgebern so massiv betrogen, dass sie Jobverlust und Repression nicht mehr fürchteten und ihre Arbeitssituation gegenüber Medien oder Gerichten mit Gesicht und Namen bezeugten. Auch bei diesen Protesten genügten die Anwesenheit von Politiker*innen, ihre Einladungen in Parteibüros und die Möglichkeit, als LKW-Fahrer im Bundestag zu sprechen, um ihre Macht auf der Straße zu vergessen.

Eine polnische Spedition, deren Arbeitsbedingungen so schlecht sind, dass sie selbst in Polen kaum Personal findet und Fahrer weiter im Osten, außerhalb der EU, anheuert, brachte dieses Jahr das Fass zum Überlaufen. Als sie die Lohnzahlung ganz einstellte, legten Fahrer aus Usbekistan und Georgien die Arbeit nieder. Sie streikten schon eine Weile auf dem Rastplatz Gräfenhausen, bis die Öffentlichkeit Anfang April davon Notiz nahm. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Solidarität und praktische Hilfe mischten sich mit dem Wunsch, sich mit dem mutigen Kampf der Fahrer zu schmücken. Es war beeindruckend, wie die Verpflegung von gut 60 Fahrern organisiert, für das Waschen der Wäsche und Duschmöglichkeiten gesorgt und WLAN eingerichtet wurden. Dafür hängten unterstützende Gewerkschaften ihre Logos und Fahnen an die Trucks.

Der polnische Spediteur versuchte, die LKW mit angekarrten Streikbrechern abzuholen, doch diese solidarisierten sich und verweigerten Streikbrechertätigkeiten. Sein nächster Versuch, ohne Lohnzahlung an die LKW zu kommen, war dreister: Ein Security-Unternehmen versuchte, im paramilitärischen Look mit schusssicheren Westen und einem gepanzerten Fahrzeug die Trucks in seine Gewalt zu bringen. Die deutsche Polizei schritt ein und nahm den Spediteur nebst Schlägertruppe in Gewahrsam.

Das war ein gefundenes Fressen für die Medien. Der wilde Streik in Gräfenhausen wurde international zum Thema. Mehr als 1000 südkoreanische Trucker sandten ein Video mit einer beeindruckend choreografierten Solidaritätsaktion. Die Solifotos philippinischer Gewerkschafter waren bewegend. Eine Aktion des polnischen Betreibers der berüchtigten Security-Truppe vor der deutschen Botschaft in Warschau wurde von einem Protest der Basisgewerkschaft IP übertönt.

Das konnte die Politik nicht ignorieren. Politiker*innen ließen sich auf dem Rastplatz blicken, erst aus der Lokal-, dann aus der Bundespolitik, und inzwischen gab es auch Besuch aus Brüssel. Selbst ein Vertreter des Bundesverbands Güterkraftverkehr Logistik BGL kam vorbei und bekundete seine Solidarität mit den wild Streikenden. Am 26. April dann der Durchbruch: Die polnische Spedition Mazur hat sich verpflichtet, alle Zahlungen auf die Konten der Fahrer zu überweisen. Es werden keine rechtlichen Schritte gegen die Fahrer unternommen. Solidarität gewinnt!

Dieser migrantische Arbeitskampf könnte Spuren in der Kultur des Arbeitskampfes in Deutschland hinterlassen. Sie kämpfen so, wie man es sich hierzulande nicht traut. Durch das Entgegenkommen einzelnen Fahrern gegenüber ließen sie sich nicht spalten, sie haben ihren Kampf erst beendet, als die schriftliche Vereinbarung mit der Spedition vorlag. Sie haben die Fahrzeuge als ihr Faustpfand mit körperlichem Einsatz verteidigt. Ihre Macht liegt auch darin, dass zehntausende Fahrer in Deutschland unter ähnlichen Bedingungen unterwegs sind und sich bereits informieren, wie die Kollegen in Gräfenhausen ihren Kampf organisiert haben.

Die Schockiertheit, Betroffenheit und Solidarität von Politiker*innen und Spediteursverband sind nichts als Heuchelei. Man fürchtet weitere Kämpfe dieser Art, gibt den Kümmerer und versucht die Wut der Trucker in die Bahnen der deutschen Gewerkschaften und des Rechtsstaats zu lenken. Die Fahrer geben ihren Kampf jedoch nicht aus der Hand und entscheiden in Abstimmungen über ihr Vorgehen.

Artikel von Karsten Weber aus der ila 465 – wir danken!

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