[Am Beispiel »Notruf NRW«] Welches Organizing brauchen wir? Zwischen Krankenhausbewegung und linker Stadtteilpolitik

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit„… Es ist ein gewaltiger Arbeitskampf, den die Beschäftigen der Unikliniken in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster gemeinsam für einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) aufführen. Für die Kampagne »Notruf NRW« hat ver.di die Firma Organizi.ng beauftragt, die mit zahlreichen professionellen Organizer:innen den Arbeitskampf unterstützt. (…) Um diesen starken Streik mit zahlreichen Bettensperrungen und vielen Komplettschließungen von Stationen zu ermöglichen, haben die Kolleg:innen in den letzten Monaten mit tausenden Gesprächen und zahlreichen Treffen eine starke Organisierung aufgebaut. Wöchentlich fanden an den Kliniken Aktiventreffen statt, in denen die Kolleg:innen mit Unterstützung durch Organizer:innen das weitere Vorgehen geplant haben. Im Organizing geht es zentral darum, dass die Beschäftigten selbst die Verantwortung für ihren Kampf übernehmen – dass sie selbst die Gespräche mit unentschlossenen Kolleg:innen führen, dass sie ihre Forderungen gegenüber der Öffentlichkeit erklären, auf den Demos sprechen und dass sie auch in den Verhandlungen selbst den Arbeitgeber:innen gegenüber sitzen. Die Gewerkschaftsfunktionär:innen spielen hierbei keine große Rolle. Dies hat nichts mehr zu tun mit der sonst häufig fest installierten Stellvertreterpolitik der Gewerkschaften…“ Artikel von Leo Beving, erschienen im express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 7-8/22:

Welches Organizing brauchen wir?

Zwischen Krankenhausbewegung und linker Stadtteilpolitik – von Leo Beving[*]

In der zwölften Streikwoche haben die Beschäftigten der sechs Uniklinken in NRW end­lich die Hartnäckigkeit der Arbeitgeberseite gebrochen und konnten eine Einigung er­zielen. Die Einigung erfolgte in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli und wurde im Laufe des Tages demokratisch mit den einzelnen Klinikbelegschaften abgestimmt, der Streik ist damit ausgesetzt. Bis zum 5. August wird die Urabstimmung unter den ver.di-Mit­gliedern laufen.
Mit 77 Tagen war dies der längste Streik im Gesundheitswesen der BRD-Geschichte, aber auch eine der größten bisherigen gewerkschaftlichen Organizing-Kampagnen. Leo Beving hat als Organizer in Münster die Beschäftigten unterstützt – ihm fehlt es inner­halb der Linken an einer Auseinandersetzung darüber, was aus dem Kampf der Be­schäftigten für die eigene Praxis gelernt werden kann. Der Beitrag erreichte uns noch im Handgemenge, kurz vor der Einigung.

Es ist ein gewaltiger Arbeitskampf, den die Beschäftigen der Unikliniken in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster gemeinsam für einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) aufführen. Für die Kampagne »Notruf NRW« hat ver.di die Firma Organizi.ng beauftragt, die mit zahlreichen professionellen Organizer:innen den Arbeitskampf unterstützt. Die als Kam­pagne organisierte Auseinandersetzung gleicht in vielerlei Hinsicht der Berliner Krankenhaus­bewegung von 2021, in der die Berliner Kolleg:innen einen TVE erkämpfen konnten, in dem feste Personalschlüssel und ein Belastungsausgleich bei Nichteinhalten dieses Schlüssels fest­gehalten sind. Dies wollen nun auch die Beschäftigten der Unikliniken aus NRW für sich und ihre Patient:innen erkämpfen. Bereits im Januar stellten die Beschäftigten ein 100-Tage-Ulti­matum an die Politik und die Klinikleitungen, in dem sie Verhandlungen über einen TVE for­derten. Dieses Ultimatum lief am zweiten Mai aus – seitdem sind die Kolleg:innen im Streik.

Um diesen starken Streik mit zahlreichen Bettensperrungen und vielen Komplettschließun­gen von Stationen zu ermöglichen, haben die Kolleg:innen in den letzten Monaten mit tausen­den Gesprächen und zahlreichen Treffen eine starke Organisierung aufgebaut. Wöchentlich fanden an den Kliniken Aktiventreffen statt, in denen die Kolleg:innen mit Unterstützung durch Organizer:innen das weitere Vorgehen geplant haben. Im Organizing geht es zentral darum, dass die Beschäftigten selbst die Verantwortung für ihren Kampf übernehmen – dass sie selbst die Gespräche mit unentschlossenen Kolleg:innen führen, dass sie ihre Forderungen gegenüber der Öffentlichkeit erklären, auf den Demos sprechen und dass sie auch in den Ver­handlungen selbst den Arbeitgeber:innen gegenüber sitzen. Die Gewerkschaftsfunktionär:in­nen spielen hierbei keine große Rolle. Dies hat nichts mehr zu tun mit der sonst häufig fest in­stallierten Stellvertreterpolitik der Gewerkschaften.

Auch wenn der Streik und die Verhandlungen noch andauern und es entsprechend zu früh für ein Fazit ist, so sind einige Erfolge der Kampagne doch sehr deutlich, auf die ich im Fol­genden kurz eingehen möchte. Im Rahmen der Kampagne haben die Beschäftigten sich in unzähligen Gesprächen über ihre Arbeitsbedingungen ausgetauscht und dabei überhaupt wie­der eine Vorstellung davon entwickelt, wie gute Arbeitsbedingungen und damit auch eine gute Versorgung im Krankenhaus auszusehen hätten: Die alltägliche Erfahrung von Überfor­derung und Unterversorgung hat den Horizont des Denkbaren für viele Kolleg:innen einge­schränkt – diese Denkbarriere konnte jedoch in vielen Teams durch die kollektive Auseinan­dersetzung um die eigenen Arbeitsbedingungen eingerissen werden. Dies bedeutete oft einen massiven Subjektivierungsprozess, in dem Beschäftigte davon, die eigenen Arbeitsbedingun­gen zu rechtfertigen und zu legitimieren, übergegangen sind dazu, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen wahrzunehmen und die Ausbeutungssituation radikal abzulehnen.

Unter den Beschäftigten der Unikliniken, die sich außerhalb der eigenen Teams zuvor meist nicht kannten und sogar noch nie gesehen haben, entstand zudem ein starkes Bewusst­sein dafür, dass es sich an den Unikliniken um Berufsgruppen übergreifende Teamarbeit han­delt und dass alle Arbeiter:innen hier zusammen stehen müssen für bessere Arbeitsbedingun­gen. Viele der Beschäftigten haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten den wirt­schaftlichen Umbau der Kliniken miterlebt. Sie wissen aus erster Hand, welche Konsequen­zen die Einführung des Fallpauschalen-Systems (DRGs) hatte und wie sich Sparmaßnahmen auf die Arbeitsbelastung ausgewirkt haben. Der Zusammenhang zwischen der Kommodifizie­rung des Gesundheitswesens und ihren Arbeitsbedingungen ist für sie alles andere als abs­trakt, sodass an den Streikposten und auf den Demonstrationen die Forderung nach einem Ende der Profitorientierung keine Minderheitenposition ist.

Die Erkenntnis, dass dieser nötige Wandel nicht delegiert werden kann – weder an die Kli­nikleitungen noch an die Politik – sondern die Beschäftigten es selbst anpacken müssen, ist unter den Kolleg:innen eine weitverbreitete Einsicht. Sie selbst stehen in der ersten Reihe und lassen sich diesen Platz nicht wegnehmen: weder von Politiker:innen im Wahlkampfmodus noch von Gewerkschaftsfunktionär:innen. Viele Beschäftigte haben in dieser Auseinanderset­zung zum ersten Mal eine Rede gehalten, zum ersten Mal die Arbeit verweigert und sind zum ersten Mal zu Tausenden auf der Straße laut gewesen. Dass sich während der Kampagne an den Unikliniken, geschätzt, weit über 2.000 – 3.000 Kolleg:innen neu in der Gewerkschaft or­ganisiert haben, ist auch das Ergebnis dieser emotionalen Erlebnisse.

Die Linke und der Streik

Diese Dynamik des Kampfes zieht auch an der (radikalen) Linken nicht vorbei – auch nicht an jenen Teilen, die sich sonst eher weniger für gewerkschaftliche Kämpfe interessieren. In Münster war besonders seit dem Beginn des Streiks ein größeres Interesse seitens linker Gruppen wahrzunehmen: Klassisch wurden die Demos und der Streikposten besucht und teil­weise auch tatkräftig unterstützt. Selbstverständlich haben linke Aktivist:innen den Rahmen der Bewegung zudem für Agitation und Propaganda genutzt. Doch was wird bleiben, wenn der Kampf vorbei ist?

Vermutlich werden die Kolleg:innen danach in den Betriebsgruppen weiter aktiv bleiben – oder neue gründen, wo es keine gibt. Und sicherlich hat die ein oder andere linke Gruppe oder Partei in der Auseinandersetzung auch Zuwachs durch Beschäftigte zu verzeichnen. Den meisten linken Gruppen fehlt jedoch ein für Arbeiter:innen ansprechendes Organisierungsan­gebot: Einerseits legen subkulturelle Codes und akademischer Habitus der Zusammenarbeit Steine in den Weg, andererseits fehlt in den häufig abstrakten Kämpfen die Verbindung zur eigenen Lebensrealität. Vermutlich werden die meisten Linken weiterziehen, zu dem nächsten Streikposten oder der nächsten Mobilisierung.

Die aktuelle Auseinandersetzung ist kein metaphysisches Ereignis spontaner Bewusstseins­werdung tausender Kolleg:innen – vielmehr ist es eine auf Selbstorganisierung und Machtauf­bau abzielende Kampagne, die durch das Engagement von hunderten ehrenamtlichen Kolleg:innen getragen wird, unterstützt (und auch geprägt) durch das strategische Vorgehen von Organizi.ng. Was ließe sich für die Linken, die den Streik unterstützen oder sich mit der Bewegung beschäftigt haben, lernen?

Organizing für die Linke

Beim Organizing geht es bekanntermaßen darum, Menschen in direkter Ansprache dafür zu gewinnen, selbst für ihre Interessen aktiv zu werden – man könnte es auch als aufsuchende Klassenpolitik benennen. Dieser Ansatz hat in den letzten Jahren sowohl innerhalb als auch außerhalb von gewerkschaftlichen Kämpfen eine gewisse Konjunktur: Genannt sei hier noch­mal die Berliner Krankenhausbewegung, aber auch die Kampagne Deutsche Wohnen & Co Enteignen. In vielen Städten gibt es darüber hinaus Initiativen, die mit solchen Formen experi­mentieren und die zeigen, dass Organizing nicht nur in riesigen professionalisierten Kampa­gnen anwendbar ist.

In Münster z.B. organisiert der Zusammenschluss »A Student Liberation Camp« Studen­t:innen gegen Mieterhöhungen und Preissteigerungen, während im Stadtteil Berg Fidel die Initiative »Berg Fidel Solidarisch« nun schon seit drei Jahren daran arbeitet, mit Methoden aus dem Organizing solidarische und kämpferische Strukturen in der Nachbarschaft auf­zubauen.[1] Beide Gruppen verfolgen eine politische Strategie und Praxis, die Parallelen zu den Arbeitskämpfen an den Unikliniken aufweisen: Menschen selbstbewusst auf Missstände an­sprechen und ein Organisierungsangebot machen, welches an die alltäglich erfahrenen Unge­rechtigkeiten anknüpft. Dies ist ein sehr einfacher Ansatzpunkt, der das Herzstück eines jeden Organizing-Konzepts darstellt, für viele radikale Linke in der BRD aber häufig als Innovation daherkommt.

Es wäre wünschenswert, wenn in der (radikalen) Linken der Streik der Beschäftigten zu ei­ner Blaupause würde und es zu einer Debatte über die eigene politische Praxis käme. Viel lässt sich von der Auseinandersetzung an den Unikliniken lernen, wobei auch die Schattensei­ten dieser Spielart des Organizings kritisch diskutiert werden sollten. Zwei Punkte möchte ich zumindest anschneiden:

Erstens ist die Kampagnenförmigkeit der aktuellen Bewegung problematisch, in der die Organizer:innen nur für wenige Monate an den Standorten der Unikliniken eingesetzt werden: Zwar gelingt in dieser Zeit ein gewaltiger Aufbau an Strukturen, jedoch dürften diese nach der Kampagne mindestens wieder schrumpfen, wenn nicht zusammenfallen. Mit dem Abzug der Organizer:innen, die während der Kampagne eher rund um die Uhr als 40 Stunden die Woche für die Beschäftigten ansprechbar waren, verlieren die Kolleg:innen diese Stütze. Auch wenn es selbstverständlich um das Überflüssigwerden dieser Organizer:innen geht, indem die Kol­leg:innen selbst die Bewegung anführen und leiten lernen, ist dies jedoch in unter fünf Mona­ten unrealistisch. Der Umstand, dass in NRW noch während der Auseinandersetzung die meisten Organizer:innen wieder abgezogen wurden, hängt dabei auch eng mit der Ökonomie der Gewerkschaft zusammen.

Zweitens korrumpiert diese Ökonomie auch die Arbeit der Organizer:innen: Damit sich für ver.di das Projekt rechnet, kommt es für den bürokratischen Apparat vor allem auf die Neu­mitgliederzahlen an. Diese Orientierung auf die Mitgliedergewinnung prägt somit selbstver­ständlich auch die Arbeit der Organizer:innen, da diese genügend »Scheine machen« müssen, damit die Finanzierung stimmt. Dies führt dazu, dass die Quantität über der Qualität steht – also z.B. viel mehr kurze Gewinnungsansprachen gemacht werden statt der oft langwierigeren Aufbauarbeit mit bereits aktiven Kolleg:innen.

Organizing kann nicht auf die Arbeit innerhalb von Gewerkschaften reduziert werden und der Blick auf einzelne prominente Organizer:innen sollte nicht die Auseinandersetzung über die angesammelten Erfahrungen mit den vielfältigen Strategien und Methoden ersetzen. Eine offene und kritische Diskussion über die verschiedenen Formen von Organizing könnte der Linken helfen, aus der eigenen Marginalität herauszukommen, und Antworten auf den Um­gang mit der aktuellen Krise bieten. Der Schritt vieler Genoss:innen hin zum Streikposten ist ein erster. Es bleibt offen, wohin der nächste Schritt geht, jetzt, wo der Streik vorbei ist.

Artikel von Leo Beving, erschienen im express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 7-8/22

* Leo Beving war als Organizer am Universitätsklinikum Münster aktiv und ist politisch organisiert in der Gruppe ROSA.

Anmerkung: Zum Ansatz der revolutionären Stadtteilarbeit vgl. Vogliamo Tutto (Hg.): Revolutionäre Stadtteilarbeit. Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis. Unrast-Verlag, Münster 2022.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=203313
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