»Protest am prekären Rand der Logistik« – Über die Protestwelle bei den Delivery Services

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit„… Die öffentliche Aufmerksamkeit für die Proteste in der Branche ist sicherlich auch den Metho-den der Riders geschuldet. Diese hängen deutlich mit der Art des Arbeitens zusammen: Für die Riders ist die ganze Stadt der Arbeitsplatz. Das Smartphone beim Unternehmen einzuloggen ist meist mit der Ansteuerung eines zentralen öffentlichen Platzes (eines »Hubs«, wenn auch in anderer Bedeutung als in der »großen« Logistik) verbunden, an dem sich die Riders, öffentlich auch noch gut erkennbar, fast zwangsläufig treffen, ebenso wie in Cafés (weniger bei den anbietenden Restaurants) oder in Fahrradläden und -werkstätten oder diesen nahegelegenen Cafés und Kiosken. Die Proteste finden entsprechend an öffentlichen Orten statt, die Riders »reclaimen« die Straße und protestieren im »Open Space«, entsprechend gab es z.B. Beteiligungen an den Fahrraddemonstrationen von »Critical Mass« (Degner/Kocher 2018: S. 251). Damit sind ihre Proteste hochgradig anschlussfähig an andere moderne Protestformen wie die Platzbesetzungen der spanischen M15-Bewegung und von Occupy, ebenso schließen sie an Proteste gegen Gentrifizierungsprozesse an. Zwei Punkte markieren Spezifika dieser Riders-Bewegung: Zum einen neigen die Riders dazu, sich entweder ganz informell oder jenseits der großen Gewerkschaften zu organisieren (London: IWBG, Leeds, Bristol, Brighton: IWW, Berlin: FAU, Frankreich: SUD Solidaires, Turin und Bologna: SI Cobas, Spanien: IAC), zum anderen greifen sie nicht selten auf Petitionen zurück. Zweites hat sicherlich auch mit den digitalen Formen der Kommunikation zu tun, beide Punkte sind aber interessanterweise Kampf- und Organisationsformen der frühen Arbeiterbewegung und hängen auch damit zusammen, dass die Arbeit in dieser neuen Dienstleistung den Formen des Frühkapitalismus ähnelt: hochgradig flexibel, mobil und oftmals in einer modernen Form von Tagelöhnerei beschäftigt, in jedem Fall aber prekär, und andererseits jung, urban und mit neuen Ansprüchen an ihre Arbeitsverhältnisse, erscheint die Zusammensetzung der Riders relativ gewerkschaftsfern und erfordert eine kreative und flexible Gewerkschaftsarbeit…“ Artikel von Torsten Bewernitz, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 11/2019:

Protest am prekären Rand der Logistik

Torsten Bewernitz über die globale Protestwelle bei den Delivery Services

Im letzten express (10/2019) hatte Torsten Bewernitz die junge Branche der Delivery Services analysiert. Aufmerksamkeit hat diese Branche auch deswegen gefunden, weil seit 2016 die Proteste der dort Arbeitenden, der »Riders« in den Fokus der Öffentlichkeit geraten sind.

Die Proteste begannen in England und Italien: Im August 2016 streikten hunderte bei Deliveroo selbstständig beschäftigte Riders in London sechs Tage lang. Vorausgegangen waren Razzien gegen Schwarzarbeit in kooperierenden Restaurants und im Büro von Deliveroo selber, den Ausschlag gab aber vor allem die Ankündigung, die stündliche Bezahlung in eine Stückzahlung zu ändern. Bis heute geben die in der Independent Workers Union of Great Britain (IWGB) organisierten Riders regelmäßig den Informationsbrief RebelRoo heraus (Degner/Kocher 2018: S. 249).

Die Turiner Riders bei Foodora begannen im Oktober 2016 mit Protesten und Streiks für bessere Arbeitsbedingungen. Kurzzeitig wurden diese Proteste durch die Basisgewerkschaft SI Cobas organisiert. Da Foodora sich in Italien als vollständig verhandlungsunwillig herausstellte, beendete die Gewerkschaft ihr Engagement jedoch schnell (Animento/Di Cesare/Sica 2017). Anders als in Deutschland sind die italienischen Riders von Foodora wie die KollegInnen bei Deliveroo auf Werkvertragsbasis unterwegs. Der öffentliche Druck führte dazu, dass die Unternehmensleitung von Foodora einem Treffen mit den selbstständigen Riders von Turin zustimmte, allerdings gar nicht erst zu diesem Treffen erschien (ebd.: S. 280). Die Riders protestierten dennoch weiter, wandten sich an die Kommunalpolitik, an Gerichte und versuchten gemeinsam mit der Sinistra Italiana eine Gesetzesinitiative gegen die Scheinselbstständigkeit.

Eine europäische Streikwelle?

Callum Cant (2018) interpretiert die Proteste der Riders in den vergangenen drei Jahren als europäische Streikwelle mit Spitzen im Sommer 2016 (Turin und London), im Frühjahr 2017 (in Leeds, Brighton, Marseilles, Paris, Berlin, Barcelona, Valencia, Madrid, Bordeaux und Lyon) sowie im Winter 2017 (in Brighton, Amsterdam, Brüssel, Bologna, Turin und Berlin). Zwischen 2016 und Januar 2018 kam es zu insgesamt 41 Arbeiterunruhen in 18 Monaten in sieben europäischen Staaten mit einer Gesamtbeteiligung von 1.493 Riders. Der Tagesspiegel hat die Proteste in der Branche als »den ersten großen Klassenkampf in der Gig Economy« beschrieben (Tagesspiegel, 16. September 2017).

Im Oktober 2018 hat sich auf einem europäischen Treffen in Brüssel ein Transnationaler Dachverband der Kuriere gegründet und für den 1. Dezember 2018 zu einem europäischen Protesttag aufgerufen. Im Gegensatz zu früheren Protestaktionen fand dieser in der medialen Öffentlichkeit jedoch kaum noch statt. Bereits vor dem Brüsseler Treffen waren Riders aus Großbritannien, den Niederlanden, Deutschland, Spanien, Belgien, Frankreich und Italien im European Food Platform-Network vernetzt. Zahlreiche der Initiativen waren auch bereits Bestandteil des Transnational Social Strike-Netzwerks (siehe express 1/2019). Die Sonderausgabe des Online-Magazins Notes from Below berichtete im November 2018 von Aktivitäten aus Italien, Frankreich, Belgien und Finnland. Längst ist aus der europäischen Protestwelle aber auch eine globale geworden: Berichte kommen aus New York, Hongkong und Sydney. Im August 2019 streikten im streikarmen Norwegen über 200 Riders (die Zahlen schwanken) in Oslo und Trondheim.

Rider-Aktivitäten in Deutschland

Die bekanntesten Aktivitäten in Deutschland sind jene der FAU (Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union) in Berlin. Georgia Palmer, eine der InitiatorInnen und Sprecherin der Berliner Riders, hat mehrfach betont, dass die Proteste mit einer digitalen Vernetzung via WhatsApp begannen (u.a. Die Zeit, 29. Juli 2017). Hier ist auch ein Grund des Organisierungserfolgs zu finden: Die Riders haben sich selber organisiert und sich von sich aus kollektiv an die FAU gewendet. Auf einem ersten von der FAU organisierten Berliner Treffen im Frühjahr 2016 fanden sich 100 Riders ein. Folge dieses Treffens war eine Fahrrad-Demonstration am 16. Mai 2017, die hohe mediale Aufmerksamkeit erfuhr und von Solidaritäts-Mails zahlreicher KundInnen begleitet wurde. Im Juni 2016 folgte eine Aktion vor dem Hauptstadt-Büro von Deliveroo, die die in Deutschland wohl bekanntesten Bilder der Proteste lieferte: Die FahrerInnen luden alte Fahrradteile vor der Geschäftsstelle ab. Hintergrund der Aktion war die völlige Gesprächsverweigerung von Deliveroo, während sich Foodora zu diesem Zeitpunkt verhandlungsbereit zeigte, ohne allerdings die FAU als für die Riders verhandelnde Gewerkschaft anzuerkennen. Deliveroo hat in Folge der Proteste eine Pauschale für Fahrradreparaturen eingeführt, Foodora hat die Verhandlungen zwar abgebrochen, allerdings die Löhne erhöht. Auch wenn die Unternehmen das anders darstellen, waren diese Zugeständnisse erste Erfolge der Organisationsbemühungen und Proteste der Riders selber, die nun durch den Verkauf von Foodora und die Geschäftseinstellung von Deliveroo zur Disposition stehen.

Nach Abbruch der Verhandlungen haben die Berliner Riders, ähnlich wie in Italien, damit begonnen, sich an die Lokalpolitik zu wenden (vgl. ArbeitGestalten 2017 und Senatsverwaltung Berlin 2017), und bspw. eine Liste mit Minimalstandards für die Branche formuliert.

Die Berliner Ereignisse haben eine bundesweite Organizing-Welle in der FAU ausgelöst, allerdings mit nur begrenztem Erfolg. Offensichtlich wird eine regionale Teilung: Während im Osten Deutschlands die Kämpfe der Riders eher mit der FAU ausgefochten werden, gehen die westdeutschen Riders den Weg über die NGG und Betriebsratsgründungen.

Die erste Betriebsratsgründung der Branche fand im März 2017 bei Foodora in Wien statt, unterstützt durch die Gewerkschaft Vida. In Österreich wurde Foodora mittlerweile mit dem Lieferdienst Mjam zu »MjamPlus« mit landesweit 800 Riders fusioniert. In Köln fanden Betriebsratswahlen sowohl bei Foodora (Sommer 2017) als auch bei Deliveroo (Februar 2018) statt (Degner/Kocher 2018: S. 256). Deliveroo hungerte den Betriebsrat aus, indem Festangestellte durch Selbstständige ersetzt und befristete Verträge sowohl der bisher Beschäftigten wie auch vor allem der BetriebsrätInnen nicht verlängert wurden (Mitbestimmung 3/2018: S. 17). Der ehemalige Betriebsrat Orry Mittenmaier berichtet: »Am Anfang hat man versucht, uns zu ignorieren. Als dann das öffentliche Interesse größer wurde, hat man uns einen Ansprechpartner vor Ort in Köln zur Verfügung gestellt. Der hatte aber selbst nicht viel Ahnung und war auch nicht sehr arbeitnehmerfreundlich. Das hat die Kommunikation mit der Firma sehr erschwert. Es war dann schließlich von Vorteil für uns, dass sich die Firma so unanständig benommen hat. So konnten wir gut mobilisieren. Selbst die Bundesregierung in Person von Arbeitsminister Hubertus Heil wurde auf uns aufmerksam« (disput, 14. August 2019).

Auch in Berlin arbeitete Deliveroo zuletzt nur noch mit Freelancern. Die Kölner Betriebsratsgründungen gingen von der NGG-unterstützten Initiative »Liefern am Limit« aus. Eine Parallele zu Berlin: Ebenso wie sich die dortigen Riders von sich aus an die FAU gewendet hatten, gründeten die KölnerInnen »Liefern am Limit« selber und wandten sich bereits organisiert an die Gewerkschaft. »Liefern am Limit« weitet sein Engagement mittlerweile auf andere Städte wie Frankfurt und Stuttgart aus.

Foodora erkannte anders als Deliveroo Betriebsräte offiziell an und betonte, dass das Unternehmen Betriebsratsgründungen nicht verhindere. In der Praxis allerdings finden sich zahlreiche Berichte von Betriebsräten, deren Verträge nicht verlängert wurden und die – angeblich aus technischen oder organisatorischen Gründen – die notwendigen Informationen nicht erhalten. Im westfälischen Münster wurde die Betriebsratsgründung abgelehnt, da Foodora dort keinen Standort habe. Foodora hatte in den Jahren vor dem Verkauf an Lieferando zahlreiche lokale Büros geschlossen und die organisatorisch-logistischen Aufgaben zentralisiert. Die MünsteranerInnen hätten sich der Geschäftsleitung zufolge an den Betriebsratswahlen in Köln beteiligen müssen. Da sie offenbar über die Wahlen nicht informiert wurden, wäre dies ein klassischer Grund für die Anfechtung der BR-Wahlen gewesen, allerdings waren die Fristen dafür längst abgelaufen und die NGG wird, wie auch die Riders selber, angesichts der Schwierigkeiten bei der Gründung von Betriebsräten in der Branche auch kaum ein Interesse daran haben, die BR-Wahlen anzufechten.

Die Protestmethoden der Riders

Die öffentliche Aufmerksamkeit für die Proteste in der Branche ist sicherlich auch den Methoden der Riders geschuldet. Diese hängen deutlich mit der Art des Arbeitens zusammen: Für die Riders ist die ganze Stadt der Arbeitsplatz. Das Smartphone beim Unternehmen einzuloggen ist meist mit der Ansteuerung eines zentralen öffentlichen Platzes (eines »Hubs«, wenn auch in anderer Bedeutung als in der »großen« Logistik) verbunden, an dem sich die Riders, öffentlich auch noch gut erkennbar, fast zwangsläufig treffen, ebenso wie in Cafés (weniger bei den anbietenden Restaurants) oder in Fahrradläden und -werkstätten oder diesen nahegelegenen Cafés und Kiosken.

Die Proteste finden entsprechend an öffentlichen Orten statt, die Riders »reclaimen« die Straße und protestieren im »Open Space«, entsprechend gab es z.B. Beteiligungen an den Fahrraddemonstrationen von »Critical Mass« (Degner/Kocher 2018: S. 251). Damit sind ihre Proteste hochgradig anschlussfähig an andere moderne Protestformen wie die Platzbesetzungen der spanischen M15-Bewegung und von Occupy, ebenso schließen sie an Proteste gegen Gentrifizierungsprozesse an.

Zwei Punkte markieren Spezifika dieser Riders-Bewegung: Zum einen neigen die Riders dazu, sich entweder ganz informell oder jenseits der großen Gewerkschaften zu organisieren (London: IWBG, Leeds, Bristol, Brighton: IWW, Berlin: FAU, Frankreich: SUD Solidaires, Turin und Bologna: SI Cobas, Spanien: IAC), zum anderen greifen sie nicht selten auf Petitionen zurück. Zweites hat sicherlich auch mit den digitalen Formen der Kommunikation zu tun, beide Punkte sind aber interessanterweise Kampf- und Organisationsformen der frühen Arbeiterbewegung und hängen auch damit zusammen, dass die Arbeit in dieser neuen Dienstleistung den Formen des Frühkapitalismus ähnelt: hochgradig flexibel, mobil und oftmals in einer modernen Form von Tagelöhnerei beschäftigt, in jedem Fall aber prekär, und andererseits jung, urban und mit neuen Ansprüchen an ihre Arbeitsverhältnisse, erscheint die Zusammensetzung der Riders relativ gewerkschaftsfern und erfordert eine kreative und flexible Gewerkschaftsarbeit.

Das Verteilen von Infomaterialien oder Broschüren auch an KonsumentInnen ist ein weiterer Aspekt der Proteste, der aus den Arbeitsverhältnissen selber entsteht: Der logistische Aspekt der Arbeit wird für die Protestform übernommen.

Das verweist auf einen weiteren Punkt: die virtuelle Öffentlichkeit. Bedingt auch durch die Art der Arbeitsorganisation und die damit einhergehende Technikaffinität sind die Proteste hier deutlich wahrnehmbar: Wer mit dem SmartPhone arbeitet, ist zwangsläufig bereits vernetzt, hat jederzeit Zugang zur Möglichkeit, Filme und Fotos zu machen und diese auch in Echtzeit digital zugänglich zu machen. Auch die Protestformen selber können dabei digital sein, etwa mit digitalen wilden Streiks durch das Ausloggen aus den Apps der Unternehmen. »Wenn das Smartphone die moderne Stechuhr ist, dann müssen Online-Plattformen und Nachrichten-Apps (und seien es vorerst WhatsApp und Facebook) zum digitalen Treffpunkt der Arbeiter werden. Wenn die Imagekampagnen der Unternehmen zunehmend über soziale Netzwerke laufen, wird man ihnen mit Flugblättern allein nicht viel entgegensetzen können«, so Georgia Palmer in den Blättern für deutsche und internationale Politik (7/2017). Der Aspekt, dass die Unternehmen der Branche außer den Algorithmen und dem geschlossenen virtuellen Marktplatz nichts zu verkaufen haben (siehe express 10/2019), fällt in den Arbeitskämpfen auf sie zurück: »Die Infrastruktur des Unternehmens (…) wird für den Protest zweckentfremdet« (Animento/Di Cesare/Sica 2017: S. 283).

Diese verschiedenen Merkmale lassen sich mit den Veränderungen im aktuellen Streikgeschehen und mit den aktuellen Streikdebatten in Verbindung bringen, vor allem mit den Debatten um eine Erweiterung des Streikbegriffs zum »sozialen Streik«, wie ihn z.B. die Transnational Social Strike-Plattform und die globalen Bündnisse für die Frauen*streiks verfechten: Die Wiederaneignung öffentlicher Räume, die Schaffung sozialer Netzwerke und die transnationalen Formen von gemeinsamen Streiks oder Protesten harmonieren mit den entsprechenden Debatten der jüngsten sozialen Bewegungen. Callum Cant (2018) weist in seiner Kurzstudie zu den Protesten auf basisdemokratische Formen, Unabhängigkeit von den Gewerkschaften und spontane Mobilisierungen hin. Der Streik wird nicht nur als Manifestation der Arbeitermacht und Kampfform gegen die Unternehmen verstanden, sondern auch als Wiederaneignung von Lebenszeit. Die AutorInnen des Prokla-Beitrags gehen sogar soweit, von einer Neudefinition des Streiks zu sprechen: »Der Streik (…) wird zum Moment der Wiederaneignung der Lebenszeit, und erweist sich somit als ›menschlicher‹ bzw. ›sozialer‹ Streik« (Animento/Di Cesare/Sica 2017: S. 283).

Es ist allerdings in Frage zu stellen, ob dieser Aspekt so neu ist: Sowohl der »Tapezierstreik« des Fordismus, also das Fernbleiben vom Arbeitsplatz und die Nutzung der Zeit für den Familienurlaub, den Schrebergarten oder die Renovierung des Wohnzimmers, als auch der Streik mit Anwesenheit bei Demonstrationen oder Streikposten mit den entsprechend vermehrten Gesprächsmöglichkeiten und Sozialkontakten wiesen diesen Aspekt eigentlich schon immer auf. Neu ist höchstens ein Bewusstsein darüber, dass der Streik auch diesen Zweck erfüllt bzw. ein entsprechender Anspruch, der von vornherein an das Streiken gestellt wird. Dieses neue Streikbewusstsein hängt eng zusammen mit der Kooperation und gegenseitigen Solidarität mit anderen Bewegungen: Die New Yorker Uber-FahrerInnen verbanden ihren Streik im Januar 2017 mit den Protesten gegen Trumps »Muslim Ban«, dem 120-tägigen Einreiseverbot in die USA aus sechs muslimischen Ländern. In Belgien und Italien legten die Riders Ende 2017 ihre Aktionen bewusst auf den Black Friday, um die Streiks bei Amazon zu unterstützen. Das öffentliche Agieren in der Stadt, sowohl arbeitend wie auch streikend, wird mit anderen gesellschaftlichen Problemstellungen kontextualisiert.

Dynamik der Kampfzyklen

Die von Digitalisierung und Prekarisierung geprägte besondere Situation bedingt die Kampf- und Protestformen in der Branche. Die nahezu vollkommen fehlende strukturelle Arbeitermacht drängt zu den beschriebenen Protestformen: Die öffentlichen Plätze und die virtuelle Öffentlichkeit müssen genutzt werden, wenn vor Ort der Arbeitgeber gar nicht ansprechbar ist, der Entzug der Arbeitskraft kaum einen Effekt hat und man leicht ersetzbar ist. Öffentliche und medienwirksame Aktionen, die so spektakulär wirken, dass sie einen Nachrichtenwert erzeugen und Gesprächsthema bleiben, die dazu noch digital mit Webcams, Mobiltelefonen und in den virtuellen Netzwerken stetig dokumentiert und aufgearbeitet werden müssen, lassen sich aber nicht auf Dauer durchhalten und die Medien verlieren irgendwann das Interesse. Die Unternehmen kalkulieren das offenbar mit ein, wenn sie jede Kommunikation verweigern, Verhandlungen verzögern oder Betriebsratsgründungen zwar partiell zulassen, die Betriebsräte aber nicht mit Informationen versorgen und die Schuld auf den Algorithmus schieben.

In Folge dessen kommt es irgendwann zu einem gewissen Institutionalisierungstrend: Nachdem die direkten Proteste der Riders mit der FAU und der IWW nicht fruchteten, wurde vielerorts eher die Betriebsratsgründung ins Auge gefasst. Ob eine solche sinnvoll ist oder nicht, ist situationsabhängig. Problematisch daran ist in jedem Fall (wie in prekären Arbeitsverhältnissen insgesamt), dass aufgrund der hohen Fluktuation und der oft nur befristeten Verträge in der Branche Betriebsräte wenig Erfahrung sammeln und diese auch kaum weitergeben können. Da, wo sich die Lieferdienste überhaupt nicht rühren, wird auch gerne die Politik ins Boot geholt – in Bologna wurde auf kommunaler Ebene über Mindeststandards für die Riders entschieden, auch die Kommunikation der FAU Berlin mit dem Land Berlin zeigt eine Tendenz zur Institutionalisierung, ebenso die Gründung eines internationalen Verbands.

Neben diese Institutionalisierung tritt als zweite Dynamik – allgemein und im konkreten Fall – die Errichtung einer Nischenökonomie, zum Beispiel mit der Gründung der Mensakas-Kooperative in Spanien oder dem »experimentellen Kollektiv Kolyma-2« in Berlin (analyse und kritik, Nr. 652, S. 19). Die Organisierung einer »fairen« Konkurrenz zu den Lieferdiensten in Form von Genossenschaften ist insofern zwiespältig zu beurteilen, als ihr sicherlich eine Tendenz zur Selbstausbeutung inne wohnt. Nichtsdestotrotz zeigt sie aber eine in dieser Branche spezifische – wenngleich begrenzte – Arbeitermacht auf: den digitalen »general intellect« der hier Ausgebeuteten, den sie sich zunutze machen, indem sie ihre technischen Kenntnisse anwenden, um das einzige Kapital der StartUps zu kollektivieren – die Programmierkenntnisse.

Beide Formen – Institutionalisierung wie alternative Ökonomie – können sinnvolle Ergänzungen im weiteren Kampf gegen die Ausbeutung durch Lieferservices sein. Sie können aber die ursprüngliche Strategie, das »Organisieren am Konflikt«, nicht ersetzen. Auch deswegen nicht, weil der Kampfzyklus der Riders, gemeinsam mit den Streiks bei Amazon, das erste transnationale Aufbegehren eines digital gesteuerten Proletariats ist. Als solcher ist er einerseits ein Testballon, andererseits aber auch ein Vorzeichen der Konflikte, die da kommen werden.

Artikel von Torsten Bewernitz, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 11/2019

Literatur:

  • Animento, Stefania, Giorgio Di Cesare, Cristian Sica: Total Eclipse of Work? Neue Protestformen in der gig economy am Beispiel des Foodora Streiks in Turin. In: Prokla 2/2017, S. 271 – 290.
  • ArbeitGestalten: Dienstleistung via Plattform: Gute Arbeit in der Gig Economy? Dokumentation des Fachdialogs am 2. November 2017, Berlin 2017.
  • Degner, Anne und Eva Kocher: Arbeitskämpfe in der »Gig-Economy«? Die Protestbewegungen der Foodora- und Deliveroo-»Riders« und Rechtsfragen ihrer kollektiven Selbstorganisation. In: Kritische Justiz 3/2018, S. 247 – 265.
  • Dzidzic, Paul: Kurierfahrt ins Ungewisse. Im August stellte Deliveroo die Geschäfte in Deutschland ein. Fast gleichzeitig starteten die Rider Stefano und Christopher ein eigenes Kollektiv. In analyse und kritik, Nr. 652, September 2019, S. 19.
  • Palmer, Georgia: Foodora & Co. Die Revolte der neuen Dienstbotenklasse. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2017, S. 29 – 32.
  • Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales Berlin: Der Job als Gig. Digital vermittelte Dienstleistungen in Berlin. Berlin 2017.

Filme zum Thema bei Labournet.tv:  Unter dem Titel »Riders unite: Ein Kampfzyklus in der Gig Economy« findet sich eine Filmsammlung zum Thema bei labournet.tv externer Link

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