[Studie] Migrantische Aktive in der betrieblichen Mitbestimmung

Dossier

1. Mai 1977 in Berlin. Foto von Thomas Kacza„… Unter gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten der Metallbranche sind überdurchschnittliche viele Migrant:innen in der betrieblichen Mitbestimmung aktiv. Das Working Paper diskutiert die Ergebnisse einer fallvergleichenden qualitativen Studie, die sich mit den Motiven, Kontextbedingungen und Verläufen migrantischen Engagements in den Strukturen der Mitbestimmung befasst. Sie zeigt, inwiefern Muster der Rekrutierung und Nominierung sowohl mit lebensweltlichen und durch Migration geprägten Erfahrungen, als auch mit den durch eine „ethnische Segmentierung“ des Arbeitsmarkts bedingten betrieblichen Dynamiken zusammenhängen…“ Hinweis der Hans Böckler Stiftung externer Link auf die 52-seitige Studie (Working Paper Forschungsförderung 228) von Serhat Karakayali und Celia Bouali vom September 2021 externer Link – siehe deren Fazit:

  • Erfolgsmodell: 50 Jahre betriebliche Mitbestimmung von Migranten New
    „… Die Ampel-Koalition hat viel versprochen in ihrem Koalitionsvertrag: unter anderem Einbürgerungserleichterungen, neue Einwanderungsregeln, mehr Engagement gegen Diskriminierung. In den Bereich des Wahlrechts hat sich Jamaika aber nicht getraut. Dabei gab es auch anlässlich der Bundestagswahlen Initiativen, die das Wahlrecht für Menschen ohne deutschen Pass forderten. (…) Denn mittlerweile werden etwa 14 Prozent von diesem demokratischen Recht ausgeschlossen. Was bei der Debatte unbeachtet bleibt: Das aktive und sogar passive Wahlrecht für alle (über 18 Jahren) gibt es bereits in Deutschland. Und zwar im Betrieb. Und das bereits seit 1972. Im Januar jährt sich die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes zum 50. Mal: Seitdem dürfen Menschen ohne deutschen Pass nicht nur wählen (das dürfen sie seit 1952), sondern sich auch wählen lassen. Dies ist bis heute einmalig in Deutschland! Die betriebliche Erfahrung macht deutlich: Demokratische Rechte führen zu einer starken Teilhabe von Beschäftigten mit Migrationshintergrund. Von daher ist die betriebliche Mitbestimmung ein migrationspolitisches Erfolgsmodell. Wissenschaftlich wurde dies durch die sogenannte „BIM-Studie“ von 2017 untermauert. Während 26 Prozent aller Mitglieder im Betrieb einen Migrationshintergrund haben, sind es im Betriebsrat 25 Prozent. Bei den Vertrauensleuten, also der gewerkschaftlichen Vertretung im Betrieb, sind es sogar 37 Prozent. (…) Von daher ist die betriebliche Mitbestimmung ein gutes Beispiel für die Gesellschaft. (…) Und leiste[t] somit einen Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft. Diese These wird empirisch durch die Leipziger Autoritarismus-Studie untermauert, die Ende 2020 veröffentlicht wurde. Ein Kernergebnis: Autoritäre, extremistische Einstellungen bleiben weiterhin eine Bedrohung für die offene, demokratische Gesellschaft. Gleichzeitig gibt es aus betrieblicher Sicht eine wichtige Erkenntnis: Positive Beteiligungserfahrungen im Arbeitsleben gehen mit einer signifikant geringeren Abwertungsbereitschaft einher. Positive Erfahrungen von Beteiligung, Solidarität und Anerkennung im Betrieb stärkt die Zufriedenheit mit der Demokratie…“ Beitrag von Fessum Ghirmazion und Isaf Gün vom 12. Januar 2022 bei MiGAZIN externer Link
  • IG-Metall-Mitglieder mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig als Betriebsräte oder Vertrauensleute aktiv – weil sie früh gelernt haben, für sich und andere zu kämpfen 
    „Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, hat auch die Gewerkschaften geprägt: Einer Studie aus dem Jahr 2017 zufolge haben rund 22 Prozent der IG-Metall-Mitglieder einen Migrationshintergrund, also ähnlich viele wie in der Gesamtbevölkerung. Ein weiterer Befund: Überdurchschnittlich oft engagieren sich diese Mitglieder in der betrieblichen Mitbestimmung. Warum das so ist, hat Serhat Karakayalı von der Universität Lüneburg gemeinsam mit Celia Bouali untersucht. Die Soziologen erklären die „spezifische migrantische Kampfbereitschaft“ zum einen mit besonders widrigen Arbeitsbedingungen. (…) Ausgangspunkt für das Engagement als Vertrauensperson oder im Betriebsrat ist der Auswertung zufolge oft ein Konflikt – mit dem Management, um Abläufe im Produktionsprozess, mit Kollegen oder Vorgesetzten. Bisweilen ergreifen betroffene Beschäftigte selbst die Initiative, häufiger werden sie aus der Belegschaft oder von bereits aktiven Kollegen zur Kandidatur aufgefordert. Die so Nominierten hatten oft vorher schon eine „informelle Vertretungsrolle“ inne, haben bei Konflikten geschlichtet oder gemeinsame Beschwerden bei Vorgesetzten vorgetragen. Insbesondere unter Migranten der ersten Generation sind auch sprachliche Fähigkeiten maßgeblich: In Frage kommen vor allem Kollegen mit guten Deutschkenntnissen, die als Dolmetscher fungieren können. Wenn die Entscheidung gefallen ist, aktiv zu werden, spielen laut der Studie gewerkschaftliche Seminare für die Betriebsrats- und Vertrauenskörperarbeit eine zentrale Rolle. Die positiven Bildungserfahrungen, die viele Teilnehmer dort machen, würden regelmäßig als „Empowerment“ erlebt und hätten in manchen Fällen auch zu beruflicher Weiterqualifizierung ermutigt. (…) Karakayalı und Bouali empfehlen, migrantisches Engagement nicht für einen Selbstläufer zu halten, sondern durch geeignete Maßnahmen zu sichern. Als Beispiele nennen sie Mentoring-Programme und Netzwerke für Migranten. Zudem gelte es, die Geschichte migrantischen Engagements durch Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen sichtbar zu machen. Gegen rassistische Debatten und deren Wortführer sowie gegen die strukturelle Benachteiligung von Migranten in der Arbeitswelt sollten Gewerkschaften noch lauter und deutlicher Stellung beziehen, als sie es ohnehin bereits tun.“ Beitrag aus Böckler Impuls Ausgabe 17/2021 externer Link
  • In ihrem Fazit (S.41ff) stellen die Autoren der Studie u.a. fest:“… Migrantisches Engagement im Rahmen der Mitbestimmungsstrukturen, so kann man festhalten, ist durch eine biographische, durch Erfahrungen im Kontext von Migrationsregimen bestimmte Dimension geprägt sowie durch betriebliche Rahmenbedingungen. Es ist nicht verwunderlich, dass diese beiden Dimensionen sich überschneiden, denn insbesondere in Westeuropa operieren Rekrutierungssysteme wie das der sogenannten „Gastarbeit“ im Sinne einer „differentiellen Inklusion“ (Mezzadra/Neilson 2013), d. h. sie resultieren in dem, was seit den 1970er Jahren als ethnische Segmentierung des Arbeitsmarkts bezeichnet wird (s. o.). Man kann es auch so formulieren, dass es für Migrantinnen wahrscheinlicher als für andere Arbeiter:innen ist, den durch kapitalistische Produktionsverhältnisse entstehenden Unsicherheiten ausgesetzt zu sein, also häufiger auf Stellen eingesetzt zu werden, die ein niedriges
    Qualifikationsniveau verlangen oder in Unternehmen Anstellung zu finden, die in tendenziell schwächeren Gliedern der Wertschöpfungskette situiert sind. Sie sind darüber hinaus oft durch ausländerrechtliche Bestimmungen in einer deutlich prekären Situation als Arbeiter:innen, die die entsprechende nationale Staatsbürgerschaft besitzen. Eine strukturelle Grundlage der besondere „migrantischen Kampfbereitschaft“ ergibt sich vor diesem Hintergrund bereits aus ihrer Allokation entlang betrieblicher bzw. arbeitsmarktlicher Hierarchien. (…) Dennoch entwickelt sich der betriebliche Kontext und die Gewerkschaft ab den 1970er Jahren für diesen Typus von migrantischen Arbeiter:innen zu einem natürlichen Habitat. (…) Die Strukturen der Gewerkschaft und die Gremien der Mitbestimmung (seit der Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes 1972) waren also über lange Zeit die einzigen Orte, in denen die damals noch als „ausländische Mitbürger“ etikettierten Migrant:innen eine Chance auf demokratische Teilhabe besaßen. (…) Für die Gewerkschaften, in denen viele der Kämpfe historisch eine ambivalente politische Heimat gefunden hatten, zeigen sich dementsprechend Handlungsfelder auf. Sie können etwa darauf hinwirken, Migrationsregime so zu gestalten, dass sie nicht zu einer dauerhaften ethnischen Unterschichtung des Arbeitsmarktes führen; sie können sich in ihren eigenen Strukturen und bezogen auf die Gesellschaft dafür einsetzen, dass Menschen mit Migrationsgeschichte gleichen Zugang zu Bildungschancen erhalten und sie können noch lauter und deutlicher als sie es ohnehin bereits tun, Stellung beziehen gegen rassistische Debatten und deren Wortführer in Politik, Zivilgesellschaft und nun auch in den Betrieben.“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=193826
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