Generalstreik jetzt, spätestens! Dokumentiert: Ein offener Briefverkehr von 1993/94

Streik ist gut - Generalstreik ist besserGibt es eigentlich, angesichts des zunehmenden, wenn auch diversen Streikgeschehens einerseits – in Deutschland (Stichwort »Megastreik«) sowie in Europa (Großbritannien, Frankreich) – und den Debatten um den Klima- und den feministischen Streik gerade so etwas wie eine General- oder Massenstreikdebatte? (…) Verstehen wir also eine Generalstreikdebatte so, dass sie mit der »Normalisierung« von Streiks beginnt, dass sich also Streikerfahrungen in gewisser Weise »generalisieren« lassen, dann waren wir schon mal weiter weg. Oder, wie es in dem im Folgenden dokumentierten Briefverkehr von vor dreißig Jahren heißt: »Neue Wege entstehen bekanntlich erst beim Gehen«. Die unterschreibenden Betriebsräte befürchteten damals »einen massiven Abbau der Rechte von Arbeitnehmern […] in der gegenwärtigen Krise auf dem Arbeitsmarkt« (WAZ, 04. November 1993). Zur Erinnerung: Wir befinden uns in der Zeit der – vor allem das Ruhrgebiet betreffenden – Deindustrialisierung und kurz nach der offiziellen »Wiedervereinigung« (1991) und in Zeiten steigender Erwerbslosigkeit – für die dann sechs Jahre später unter dem Nachfolgekanzler Gerhard Schröder (SPD) mit der »Agenda 2010« eine Lösung durchgesetzt wurde, die den Warnungen der Betriebsräte recht geben sollte. Der »Generalangriff« fand nicht statt…“ Aus dem Vorwort zur Dokumentation des Offener Briefs von 1993 samt Antworten im express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 5/2023:

Generalstreik jetzt, spätestens!

Dokumentiert: Ein offener Briefverkehr von 1993/94

Gibt es eigentlich, angesichts des zunehmenden, wenn auch diversen Streikgeschehens einer­seits – in Deutschland (Stichwort »Megastreik«) sowie in Europa (Großbritannien, Frank­reich) – und den ­Debatten um den Klima- und den feministischen Streik gerade so etwas wie eine General- oder Massenstreikdebatte? Die Redaktion des express ist da uneins. Aber Fakt ist: Generalstreiks haben immer nur dort stattgefunden, wo die Menschen vorher Streikerfah­rung in »regulären« oder auch »spontanen« Streiks gesammelt haben (Kim Moody). Verste­hen wir also eine Generalstreikdebatte so, dass sie mit der »Normalisierung« von Streiks be­ginnt, dass sich also Streikerfahrungen in gewisser Weise »generalisieren« lassen, dann waren wir schon mal weiter weg. Oder, wie es in dem im Folgenden dokumentierten Briefverkehr von vor dreißig Jahren heißt: »Neue Wege entstehen bekanntlich erst beim Gehen«.

Die unterschreibenden Betriebsräte befürchteten damals »einen massiven Abbau der Rech­te von Arbeitnehmern […] in der gegenwärtigen Krise auf dem Arbeitsmarkt« (WAZ, 04. No­vember 1993). Zur Erinnerung: Wir befinden uns in der Zeit der – vor allem das Ruhrgebiet betreffenden – Deindustrialisierung und kurz nach der offiziellen »Wiedervereinigung« (1991) und in Zeiten steigender Erwerbslosigkeit – für die dann sechs Jahre später unter dem Nachfolgekanzler Gerhard Schröder (SPD) mit der »Agenda 2010« eine Lösung durchgesetzt wurde, die den Warnungen der Betriebsräte recht geben sollte. Der »Generalangriff« fand nicht statt.

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Bochum/Hamm/Witten, den 2. November 1993

Offener Brief

An den Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Heinz Werner Meyer

Lieber Kollege Meyer,

wir wenden uns heute an Dich im Namen der Belegschaften der Adam Opel AG, Bochum, der Zeche Heinrich Robert, Hamm, der Hoesch-Krupp AG, der Firma Nokia (beide Bochum), Stadtverwaltung Bochum, Thyssen-Guss und Siemens, Witten, um die Stimmung, die hier »vor Ort« herrscht, deutlich zu machen.

Wir sind einhellig der Auffassung, dass die Zeit überreif ist für gemeinsame, branchen­übergreifende Aktionen. Die Ereignisse der vergangenen Wochen in der Bundesrepublik sind ein deutliches Barometer für die Notwendigkeit einer breiten, koordinierten Gegenwehr. Da sind nicht nur die Protestaktionen der Bergleute und der Stahlarbeiter in den letzten Wochen, der Marsch auf Bonn aus Schweinfurt oder die beeindruckende Demonstration der Bauarbei­ter im Bonner Hofgarten zu nennen, diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Lieber Kollege Meyer, Du weißt mindestens so gut wie wir, dass es bei den Angriffen ge­gen die Arbeitnehmer und Sozialschwachen durch Regierungs- und Unternehmerseite längst nicht mehr um einen zeitlich befristeten Verzicht auf materielle Forderungen geht, sondern um den Umbau unserer Republik und den Abbau von hart erstrittenen Arbeitnehmerrechten.

Die Substanz unseres Sozialstaatsmodells steht auf dem Spiel und die Besorgnis über die Zukunft wächst zusehends in der Bevölkerung. Der Kampf, den nun die Zeit erfordert, ist mit Sicherheit nicht von den Arbeitnehmern/innen gewollt, aber er muss aufgenommen werden und zwar nicht mehr als vereinzelte Aktionen, sondern er muss im Sinne eines Generalan­griffs geführt werden.

Wenn schon im deutschen Blätterwald von ›Generalstreik‹ […] die Rede ist und damit die Spatzen es im wahrsten Sinne des Wortes bereits von den Dächern pfeifen, dann muss der DGB als Dachorganisation aller Gewerkschaften auf diese Diskussion eine entsprechende Antwort haben.

Wir als Beschäftigte großer Betriebe in NRW sind bereits neue Wege der Solidarität ge­gangen, indem wir Partnerschaftsverträge mit den Beschäftigten anderer Branchen geschlos­sen haben.

Neue Wege entstehen bekanntlich erst beim Gehen. Allerdings ist es unserer Meinung nach bereits fünf-nach-zwölf, um sich gemeinsam in Bewegung zu setzen.

Wie lange sollen wir noch warten? Mit jeder weiteren Einzelaktion und einem weiteren moderaten Vorgehen wird der Bundesregierung deutlicher signalisiert, dass die traditionellen Interessenvertretungen der Arbeitnehmer keine ernst zu nehmende Kraft mehr darstell[en]. Sollen wir abwarten, bis wir auf die Bedeutungslosigkeit amerikanischer, englischer oder französischer Gewerkschaften abgesunken sind, um dann über verpasste Chancen nachzuden­ken?

Wir sagen noch einmal: Die Zeichen der Zeit sind überdeutlich und einige verhängnisvolle historische Parallelen zu 1933 drängen sich immer mehr auf. Noch sind wir ein Machtfaktor in diesem Gesellschaftsgefüge und das muss wieder deutlicher rüber gebracht werden. Auch unseren Kolleginnen und Kollegen in den anderen europäischen Ländern gegenüber sind wir verpflichtet, Flagge zu zeigen.

Die Zeit der Lethargie muss endlich ein Ende haben. Wir brauchen eine optimistische, aber auch klare Position in der Diskussion um die Zukunft der Industriegesellschaft. Deshalb for­dern wir Dich ultimativ auf, eine zeitgleiche, branchenübergreifende Aktion von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen durchzuführen.

Mit freundlichen Grüßen

Ralf Breuer, BR-Vorsitzender, A. Opel AG, Bochum
Theo Rohrkamp, BR-Vorsitzender, Zeche Heinrich Robert, Hamm
Herbert Kastner, BR-Vorsitzender, Hoesch-Krupp, Bochum
Gisela Schulz, BR-Vorsitzende, Nokia Bochum
Wolfgang Boczek, GBR-Vorsitzender, Thyssen-Guss
Christa Messingfeld, BR-Vorsitzende, Siemens, Witten
Edgar Fischer, Vorsitzender Personalrat, Stadtverwaltung Bochum

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Düsseldorf, den 15. November 1993

Lieber Kollege Breuer, liebe Kolleginnen und Kollegen Unterzeichner/-innen des offenen Briefes vom 2. November 1993,

für Euer Schreiben danke ich Euch. Viele der in Eurem Schreiben geäußerten Befürchtungen und kritischen Einschätzungen teile ich.

In der letzten Zeit haben sich die Angriffe auf Arbeitnehmerrechte und Sozialstaat erheb­lich verschärft. Der Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes hatte daher einstim­mig die Aktion Gegenwehr beschlossen und zu betrieblichen und außerbetrieblichen Maßnah­men aufgerufen. Viele Kolleginnen und Kollegen sind diesem Aufruf gefolgt. Dennoch haben wir selbstkritisch auch feststellen müssen, dass uns in den zentralen Punkten der Auseinandersetzung mit der Bundesregierung durchgreifende Erfolge versagt geblieben sind. In dieser Einschätzung sind wir uns in Bundesvorstand und Bundesausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes einig gewesen.

Dennoch werden wir nicht nachlassen, mit geeigneten Maßnahmen auch künftig unseren Protest gegen Massenarbeitslosigkeit, Abbau des Sozialstaates und Angriffe auf Arbeitneh­merrechte öffentlich zur Geltung zu bringen. Dabei gilt es, die Einheit von solidarischer Bera­tung, einheitlicher Beschlussfassung und gemeinsamer Umsetzung zu stärken.

Wir arbeiten gemeinsam mit den Mitgliedsgewerkschaften des DGB an einer Präzisierung unserer Alternativen zu den Krisenbewältigungs-Konzepten von Bundesregierung und Arbeit­geberverbänden und sind dabei vorangekommen. Ich bin zuversichtlich, dass der Bundesvor­stand in der nächsten Zeit dazu beraten und Beschlüsse fassen kann. Ich rechne auch weiter­hin auf Eure Unterstützung.

Mit freundlichen Grüßen
Heinz Werner Meyer

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Bochum/ Hamm/ Witten im Januar 1994

An den Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Heinz-Werner Meyer

Lieber Kollege Meyer,

vielen Dank für Dein Antwortschreiben vom 15. November auf unseren offenen Brief.

Leider müssen wir Dir aber auch mitteilen, dass uns Deine Antwort alles andere als zu­friedengestellt hat.

Natürlich gehen wir davon aus, dass der DGB darüber informiert ist, wie sehr sich die Re­zessionskrise und das sich allgemein verschärfte politische Klima in der betrieblichen Praxis niederschlägt.

Gewerkschaftsarbeit vor Ort gestaltet sich immer schwieriger und das nicht nur durch die Angriffe von Unternehmerseite auf kollektive Schutzrechte. Unsere begründete Besorgnis geht in die Richtung, dass der Gewerkschaftsbewegung, wenn sie wie z.Z. keine klare Rich­tung erkennen lässt und keine sichtbaren Zeichen setzt, die weitere Gefolgschaft in den Be­trieben versagt wird, was sich auch an den zahlreichen Austritten der letzten Zeit ablesen lässt.

Wenn die Kumpels auf den Schachtanlagen schon ihre Gewerkschaftsfahnen verbrennen, dann sind wir weit genug (runter)gekommen! Das Scheitern der groß angelegten Manifestationen der IGBE [spricht] unserer Meinung nach eine deutliche Sprache und auch das, was sich in den anderen Bereichen wie Stahl, metallverarbeitende[r] Industrie und öffent­liche[m] Dienst abspielt, ist auch nicht gerade ermutigend. Die Liste vereinzelter Protestaktio­nen lässt sich von Tag zu Tag fortsetzen, seien es nun die Industriearbeiter, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst oder im Dienstleistungssektor. Sie besitzen aber keine nachhaltige Wirkung. Im Gegenteil scheint sich die Bundesregierung darüber halb tot zu lachen.

Was sich derzeit in der Bundesrepublik abspielt, ist schon lange keine auf einzelne Sekto­ren begrenzte Wirtschaftskrise mehr. Vielmehr handelt es sich um eine manifeste politische Krise, die auf keinen Fall zu einer sozialen Katastrophe werden darf.

Auch die sich häufenden Meldungen über ein verschärftes Vorgehen der Polizei gegen un­sere Protestaktionen bewerten wir als eine besorgniserregende Entwicklung. Unsere Demons­trationsfreiheit muss unter allen Umständen geschützt werden! Von »politischer Instinktlosig­keit« des NRW-Innenministers Schnoor, der im Zusammenhang mit den Bauernprotesten an der deutsch-niederländischen Grenze von »Straftaten« spricht, ist in der Presse bereits die Rede.

All diese Faktoren zusammengenommen: Massenarbeitslosigkeit, Abbau des Sozialstaates, Angriffe auf Arbeitnehmerrechte und die zunehmende Radikalisierung in den politischen Auseinandersetzungen erschweren nicht nur die Handlungsfähigkeit der Betriebs- und Perso­nalräte, sie schüren auch die anti-gewerkschaftliche Stimmung.

Auch darin wirst Du sicherlich mit uns übereinstimmen.

Aus all diesen Gründen resultierte unsere konkrete Forderung an Dich, eine gemeinsame Aktion – organisiert vom DGB – auf den Weg zu bringen.

Leider sind in dieser Hinsicht keine konkreten Hinweise Deinerseits erfolgt. Wir wissen natürlich auch, daß Deine Einflußmöglichkeiten eher gering sind, aber dennoch hier noch ein­mal die Aufforderung an Dich, konkret und aktiv zu werden.

Was z.B. in Belgien erstmals seit 1936 wieder möglich war, nämlich eine gemeinsame De­monstration von christlichen und sozialistischen Gewerkschaften, oder auch in Spanien, müsste doch, angesichts der Bedrohungen, auch in Deutschland unter dem Dach des DGB möglich sein.

Mit freundlichen Grüßen

Ralf Breuer, BR-Vorsitzender, A. Opel AG, Bochum
Theo Rohrkamp, BR-Vorsitzender, Zeche Heinrich Robert, Hamm
Herbert Kastner, BR-Vorsitzender, Hoesch-Krupp, Bochum
Gisela Schulz, BR-Vorsitzende, Nokia Bochum
Wolfgang Boczek, GBR-Vorsitzender, Thyssen-Guss
Christa Messingfeld, BR-Vorsitzende, Siemens, Witten
Edgar Fischer, Vorsitzender Personalrat, Stadtverwaltung Bochum

P.S. Wir hätten diesen zweiten Brief an Dich mit einer langen Unterschriftenliste anderer Be­triebsratsvorsitzender fast beliebig verlängern können, so groß war die Resonanz auf unser erstes Schreiben an Dich. Wir haben uns aber dazu entschlossen, diese Aktion zunächst auf die oben erscheinenden Unterzeichner/innen zu begrenzen. Unser Anliegen ist zwar genau dieser Effekt einer Verbreiterung der Protestbewegung – allerdings nicht im Alleingang, son­dern durch und mit dem DGB.

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Siehe im LabourNet-Archiv: Gegenwehr ohne Grenzen – Info der GoG Nr. 25 vom April 2003 mit selbstkritischem und DGB-kritischem Rückblick auf diese Initiative:

Betriebsräte aus dem Ruhrgebiet für „generalstreikähnliche Aktionen“ gegen den Sozialabbau!
Auf Initiative des Betriebsrats von OPEL Bochum haben 7 BR-Vorsitzende (Opel, Hoesch-Krupp, Nokia, Zeche Heinrich-Robert Hamm, Thyssen-Guss, Siemens Witten und Personalrat Stadt Bochum) im Namen ihrer Belegschaften einen Brandbrief an den DGB-Vorstand gerichtet: Die Zeit sei „überreif, mit generalstreikähnlichen Aktionen – branchenübergreifend, zeitgleich von Flensburg bis Garmisch – auf die Angriffe gegen die Arbeitnehmer und sozial Schwachen durch Regierungs- und Unternehmerseite zu reagieren“. – „Wie lange sollen wir noch warten?“ fragen die Betriebsräte den DGB-Chef, „noch sind wir ein Machtfaktor. Es ist an der Zeit, Flagge zu zeigen!“…“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=211546
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