Mehr Zeit für Alle! Gute Gründe, die Lohnarbeit zu reduzieren, gibt es viele. Doch nur wenige können sich das gegenwärtig auch leisten

Dossier

Effizienz macht hässlich„… Treten wir aktuell angesichts des viel diskutierten Fachkräftemangels sogar in ein goldenes Zeitalter der Lohnarbeit ein, weil Unternehmen auf der verzweifelten Suche nach qualifiziertem Personal bereit sind, sich nicht nur, aber gerade auch in Sachen Arbeitszeit die Bedingungen von potenziellen Beschäftigten diktieren zu lassen? Leider spricht einiges gegen eine solche Perspektive. Dies ist umso schmerzlicher, als Arbeitszeitverkürzung durchaus einen wichtigen Schritt in eine menschlichere (Arbeits-)Welt darstellen könnte. Immerhin ist Lohnarbeit bzw. »abhängige Beschäftigung« keine angenehme Sache. (…) Arbeitszeitverkürzung als Selbstverteidigung: Selbst bei denjenigen, die tatsächlich »freiwillig« ihre Arbeitszeit reduzieren, ist allerdings oft schwer zu entscheiden, ob es sich um die Nutzung eines Privilegs in Befreiungsabsicht handelt oder doch eher um einen Akt der Selbstverteidigung (…) Ankerpunkt für eine solche Bewegung könnte die Forderung nach kurzer Vollzeit sein: etwa nach 25 Wochenstunden für alle, verbunden mit Lohn- und Personalausgleich…“ Artikel von Nicole Mayer-Ahuja vom 20.07.2023 im OXI-Blog externer Link – insgesamt lesenswert! Siehe zum Thema:

  • Weniger Arbeit, mehr Wohlstand? Zeitwohlstand! Oder anders gefragt: Arbeiten die Menschen in Deutschland zu viel? New
    • Weniger Arbeit, mehr Wohlstand?
      Viele Vollzeitbeschäftigte wollen kürzer arbeiten. Mehr freie Zeit steigert nicht das Bruttoinlandsprodukt, ist für die Menschen aber wertvoll
      Politiker und Ökonomen fordern derzeit wieder längere Arbeitszeiten. Das widerspricht jedoch den Bedürfnissen vieler Menschen. Anlässlich der wiederaufgeflammten Debatte haben wir zusammengestellt, wie sich die tatsächlichen und gewünschten Arbeitszeiten entwickelt haben. Und wir fragen nach dem Wert von freier Zeit.
      Kanzler Friedrich Merz fordert, dass die Menschen mehr arbeiten, damit der »Wohlstand dieses Landes« erhalten bleibe. Dagegen wünschen sich insbesondere Vollzeitbeschäftigte kürzere Arbeitszeiten, und zwar schon seit vielen Jahren. Das zeigen Befragungen des sozio-oekonomischen Panels (Soep), die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bereits 2023 für eine Studie ausgewertet hat. (…)
      Mehr Zeit jenseits des Jobs ist für viele demnach so wertvoll, dass sie dafür etwas weniger materiellen Wohlstand akzeptieren würden.
      »Zeitwohlstand ist eine eigene Form von Wohlstand«, sagt Jürgen Rinderspacher, Zeitforscher an der Universität Münster, »nd.DieWoche«. Zum Zeitwohlstand gehöre zunächst einmal genügend Zeit jenseits der Erwerbsarbeit sowie ausreichend selbstbestimmte Zeit. Wichtig sei auch, dass Menschen gemeinsame Zeit verbringen können, etwa am Wochenende, und dass die Erwerbsarbeit nicht so verdichtet ist, dass man die Arbeitszeit als Lebenszeit im Grunde abschreiben kann. Viele Beschäftigte wollen nun mehr Zeit jenseits des Jobs. Angesichts der zunehmenden Verdichtung der Arbeit sei eine generelle Arbeitszeitverkürzung, die auf eine kürzere und gesunde Vollzeit mit 30 Wochenstunden abzielt, nur angemessen, schrieben Ökonom*innen der Arbeitskammer Wien schon vor zwei Jahren. (…)
      Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist in der politischen Debatte eine enorm wichtige Kenngröße. Seit der Wiedervereinigung ist das BIP stark gestiegen, zuletzt ging es etwas zurück. Ein zentrales politisches Ziel ist nun, dass die Wirtschaft wieder wächst, Klimawandel hin oder her. Auch deswegen wird Mehrarbeit gefordert: Sie soll dem Wachstum dienen. Implizit wird dabei ein steigendes Bruttoinlandsprodukt mit mehr Wohlstand gleichgesetzt. Dabei sagt das BIP nichts aus über die Verteilung des Wohlstands. Und Zeitwohlstand in Form von selbstbestimmter Zeit jenseits der Erwerbsarbeit spielt hier gar keine Rolle
      .“ Artikel von Eva Roth vom 29.05.2025 in ND online externer Link
    • Arbeiten die Deutschen zu viel?
      Diese Frage stellt sich hierzulande natürlich niemand, obgleich die Produktivität der Arbeit ständig steigt und die Krankheitsstatistiken der Krankenkassen die negativen Gesundheitsfolgen der Arbeit dokumentieren. Stattdessen sind die Medien voll von Äußerungen von Industriellen, Politikern und Journalisten, dass die Deutschen zu wenig arbeiten. Was ist da eigentlich der Maßstab, an dem das zu viel oder zu wenig gemessen wird? (…) Um die Menschheit mit dem notwendigen zum Leben oder auch Annehmlichkeiten zu versorgen, braucht es also immer weniger Arbeit. Warum also die Forderung nach Mehrarbeit? Auch das ist kein Geheimnis: Es geht eben nicht um die Versorgung der Menschen mit einem Dach über den Kopf, Essen, Kleidung, Kultur und Urlaub, sondern alles ist Mittel des Geschäfts, Mittel, um aus Geld mehr Geld zu machen. Und für diesen Zweck gibt es nie ein Genug, sondern dieser Zweck ist maßlos und daher kann es nie genug lohnende Arbeit geben. Deshalb gibt es auch die Forderung nach ständigem Wachstum. Vom Standpunkt der Versorgung könnte es auch reichen, wenn alle Menschen ausreichend versorgt und vergnügt sind, dass nicht die Wirtschaft, sondern die Freizeit wachsen könnte. Nicht so im Kapitalismus. (…)
      Wenn Studien nicht in allen Belangen das hergeben, was die Politik gerne hätte, dann ist die Politik so frei, sich die Fakten selber zu erfinden, und die Medien sind so frei, jedes Geschwätz von Politikern als Fakten zu verbreiten. Die Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) sieht sich denn auch gleich gefordert, ihrem Kollegen beizuspringen und zu überlegen, wie Mütter schneller wieder in Arbeit gebracht werden können (SZ 19.5.2025) – zwar haben diese Mütter reichlich zu tun, aber Arbeit ist nicht gleich Arbeit, es geht eben immer um lohnende Arbeit für andere
      .“ Artikel von Suitbert Cechura vom 27. Mai 2025 in overton-magazin.de externer Link
    • Siehe zum aktuellen Hintergrund das Dossier: SPD, Grüne und FDP (Kapital sowieso) wollen höhere Höchstarbeitszeit: Wir sollen uns flexibel an die Bedürfnisse des Kapitals anpassen
  • [Gründe, sich vom neoliberalen Leistungsfetisch zu verabschieden, sind vielfältig] Zeit für die ruhige Kugel, Sisyphos
    „Für viele ist das Glück untrennbar mit dem Eigentum verbunden, mit dem Anhäufen von Gütern. Auch führende Volksparteien machen Politik nach dem Motto: „Haste was, biste was“. In die Röhre gucken nicht nur alle, die wenig haben, sondern ebenso ein Planet, der an unserem Überkonsum zu Grunde geht. Dabei ist Wohlstand ohne Raffgier nicht nur möglich, sondern in Zeiten der sich verschärfenden Klimakrise alternativlos. (…) Labor omnia vincit – Arbeit besiegt alles. Das wusste schon der römische Dichter Vergil. Und so überrascht es kaum, dass die Maloche, angesichts ihrer kulturgeschichtlichen Wurzeln, weiterhin ein überaus gutes Image genießt. „Schaffe, schaffe Häusle baue“ ist vielleicht schwäbisch; die Grundüberzeugung dahinter ist aber urdeutsch. Dafür, dass dies so bleibt, sorgen selbsternannte Leistungsträger und Wirtschaftsexperten, respektive jene Menschen, die lautstark und meist ungefragt als Leistungsträger und Wirtschaftsexperten auftreten. (…) Doch wie geht es jenen, die den Laden wirklich am Laufen halten? Wie geht es der Galeerenbesatzung? Wie geht es Deutschland? Fernab der Kapitänsmonologe sieht die Lage düster aus. 61 Prozent der Deutschen Arbeitnehmer fürchten ein Burnout. (…) Keine Arbeit haben ist beschissen, zu viel oder falsch arbeiten müssen aber auch. Und sie wird prompt ergänzt von einem Leidensgenossen: „Am schlimmsten ist es, wenn man pleite bleibt trotz Vollzeitarbeit.“ Wie die über 800.000 Deutschen Aufstocker, deren Niedriglohn nicht für den Lebensunterhalt reicht und die deswegen ergänzend Bürgergeld beziehen. (…) Und hin und wieder trifft man auch eines jener seltenen Geschöpfe, die noch an die Aufstiegserzählung glauben, an Gerechtigkeit durchs Leistungsprinzip. An die Idee, dass jeder sein Häusle baue kann, möge er doch nur fleißig genug schaffe. Die Empirie spricht leider eine andere Sprache. Zur vollen Wahrheit gehört nämlich, dass die Vermögensungleichheit in Deutschland wächst; laut Bundesbank werden die Unterschiede zwischen Arm und Reich größer. Zur vollen Wahrheit gehört, dass große Vermögen in Deutschland vor allem verschenkt und vererbt werden. Wer außergewöhnlich reich ist, ist dies also meist nicht durch Fleiß und Eigenleistung, sondern durch Geburtslotto. Zur vollen Wahrheit gehört, dass noch viel zu oft die soziale Herkunft – und nicht die Leistungsbereitschaft – den späteren Bildungserfolg und somit das spätere Erwerbsleben bestimmt. Der Aufstiegsmythos durch harte Arbeit, der so oft im Zentrum der Sonntagsreden von Liberalen und Konservativen steht, bleibt angesichts systemischer Hürden und politisch tolerierter Schieflagen somit vor allem eines: ein Mythos. (…) In Deutschland heißt die Realität für Millionen leider nach wie vor: Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher. Und so ist es keine Ketzerei, zurückzufragen, für wen wir eigentlich in der Galeere rudern, und wohin die Reise eigentlich geht. Denn es ist längst kein Geheimnis mehr, dass das neoliberale Wachstumsprinzip – Höher! Schneller! Weiter! – weniger zu kollektivem Wohlstand führt und vielmehr zum wettbewerbsmäßigen Raubbau am Planeten und seinen Ressourcen. (…) Stattdessen brauchen wir zweierlei. Erstens braucht der Planet Erde ein anderes Wirtschaften. (…) Zweitens brauchen wir neue Arbeits- und Wohlstandsbegriffe, die sich aus dem neoliberalen Würgegriff lösen. (…) Die Gründe, sich vom neoliberalen Leistungsfetisch zu verabschieden, sind also vielfältig; persönlich wie gesellschaftlich. Das nächste Mal, wenn uns die Einpeitscher der Privatwirtschaft und die kapitalistischen Konsumkapitäne zum Rudern animieren, sollten wir ihnen antworten: Ruder doch selber! Leiste mal was! Ohne Fleiß kein Preis!“ Essay von und bei Jan Skudlarek vom 19. August 2024 externer Link
  • Tarifliches Wahlrecht: Warum die Mehrheit der Beschäftigten lieber mehr Zeit hätte als mehr Geld
    „Einige Tarifverträge sehen mittlerweile für bestimmte Beschäftigtengruppen eine Wahlmöglichkeit zwischen „mehr Zeit“ oder „mehr Geld“ vor. (…) Angesichts nach wie vor bestehender Engpässe in der außerhäuslichen Kinderbetreuung und einer steigenden Zahl an Pflegebedürftigen ist eine flexible Anpassung des Arbeitslebens an die familiäre Situation für viele Beschäftigte von zentraler Bedeutung. Dies spiegelt sich nicht nur in einem hohen Anteil an Frauen, insbesondere Müttern, in Teilzeitbeschäftigung wider, sondern auch in arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahre wie der 2019 erfolgten Einführung der Brückenteilzeit. Sie sieht unter bestimmten Voraussetzungen eine zeitlich befristete Teilzeitarbeit mit Rückkehrrecht zur vorherigen Arbeitszeit vor (…) Eine im Jahr 2019 im Auftrag der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di durchgeführte Arbeitszeitstudie zeigt zudem, dass sich viele Beschäftigte neben kollektiven Regelungen vor allem mehr individuelle Selbstbestimmung hinsichtlich ihrer Arbeitszeiten wünschen. Auch die Gewerkschaften haben sich hier in den letzten Jahren zunehmend engagiert. (…) Konkret können sich Beschäftigte in den beteiligten Betrieben jährlich zwischen der Zeitoption (je nach Tarifvertrag in Form von zusätzlichen Urlaubstagen oder einer verkürzten Wochenarbeitszeit) und der Geldoption (in Form von Sonderzahlungen oder einer monatlichen Entgelterhöhung) entscheiden. Allerdings haben oft nicht alle Beschäftigte in einem Betrieb dieses Wahlrecht. In vielen Tarifverträgen ist dies beispielsweise Tarifbeschäftigten, Schichtarbeitenden oder Eltern von kleinen Kindern vorbehalten. Näheren Aufschluss gibt eine Befragung von über 3.000 Beschäftigten und über 150 Betrieben, deren Ergebnisse allerdings nicht repräsentativ sind. (…) Fast 60 Prozent der Befragten mit Wahloption haben sich nach eigenen Angaben für eine zeitliche Entlastung entschieden, 6 Prozent haben eine Kombination aus Zeit und Geld gewählt und 34 Prozent optierten für eine Sonderzahlung oder monatliche Entgelterhöhung (…).Viele Beschäftigte wünschen sich also eine wöchentliche Arbeitszeitverkürzung oder mehr Urlaubstage, um Beruf und Privatleben besser miteinander vereinbaren zu können, und verzichten dafür auf monetäre Zugewinne in Form von Sonderzahlungen oder monatlichen Entgelterhöhungen. Die klassische Idealvorstellung einer Vollzeittätigkeit scheint demnach bei vielen Beschäftigten dem Wunsch nach einer stärkeren Flexibilisierung des Arbeitsumfangs zu weichen. Auch unter Beschäftigtengruppen, die bislang nicht von der genannten Wahloption Gebrauch machen können, ist der Wunsch nach mehr Zeit sehr groß. Die Beschränkung der Wahlmöglichkeit auf bestimmte Gruppen könnte daher bei den nicht wahlberechtigten Beschäftigten zu einer gewissen Unzufriedenheit führen. Dies könnte zumal dann der Fall sein, wenn Aufgaben von Beschäftigten, die sich für weniger Arbeitszeit entschieden haben, auf andere Beschäftigte umverteilt werden müssen. Auch wenn die Daten darauf hindeuten, dass viele Beschäftigte ihre Entscheidung zugunsten von mehr Zeit durch eigene Vor- und Nacharbeit auffangen, ist es für die Betriebe unter Umständen eine Herausforderung, die infolge der Arbeitszeitverkürzung anfallende Mehrarbeit gerecht zu verteilen beziehungsweise allen Beschäftigten eine Wahloption einzuräumen. Angesichts des steigenden Fachkräftebedarfs könnte die Einführung oder Ausweitung der Wahloption für Betriebe ein Instrument sein, um Fachkräfte leichter zu rekrutieren und gut ausgebildete Beschäftigte stärker an sich zu binden. Das Wahlmodell kann somit Vorteile für Betriebe und Beschäftigte gleichermaßen bieten. Ein gleichberechtigter Zugang zum Wahlmodell ist bislang jedoch nicht flächendeckend erreicht, von nicht tarifgebundenen Betrieben ganz abgesehen. Dies dürfte auch damit zu tun haben, dass Betriebe mit Wahloption die „verbleibende“ Arbeit in geeigneter Weise „umverteilen“ müssen, was manche Betriebe vor eine organisatorische Herausforderung stellen dürfte. Angesichts der bisherigen Umsetzung der Wahloption steht zu befürchten, dass sich bestehende Ungleichheiten zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen verfestigen oder sogar neu bilden könnten…“ Beitrag von Kevin Ruf, Ann-Christin Bächmann, Anja Abendroth-Sohl und Alexandra Mellies vm 22. Juli 2024 beim IAB-Forum externer Link

    • Anm.: Bei dieser Befragung sollte der Zwangscharakter der Regelung entweder mehr Geld oder mehr arbeitsfreie Zeit nicht übersehen werden. Einer wirklich freie Entscheidung ist so gar nicht oder nur sehr begrenzt möglich. Allerdings lässt sich aus dem Ergebnis der Umfrage auch eine Kritik an diesem Gewerkschaftskonstrukt herauslesen. Der hohe Anteil für freie Zeit statt Geld spricht auch dafür, dass die Gewerkschaften in Richtung Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverlust weitergehen könnten, ja, müssten, auch um der geplanten Verringerung der Freizeit durch Arbeitszeitverlängerung etwas entgegenzusetzen.

Siehe u.a. auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=213661
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