Aus aktuellem Anlass: Vom Notstand der Arbeitsgesellschaft

Dossier

Systemrelevant (Berliner Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus)„„Plötzlich ist zuvor Undenkbares möglich: Investitionen ungekannten Ausmaßes in Krankenhäuser, ja sogar eine Aufhebung der 2009 mit Verfassungsrang versehenen Schuldenbremse. Und andererseits: eine für viele Menschen lebensbedrohliche Überlastung im Gesundheitswesen, Armut und Prekarität als Massenphänomen, Ausdehnung von Arbeitszeiten hier, Null-Stunden-Woche dort, und langfristig die Gefahr einer Verschärfung der Klassenkämpfe von oben. Nachdem in den ersten Wochen der Corona-Pandemie der öffentliche Fokus auf Verlautbarungen aus Krisenstäben fast alles andere vergessen ließ, wird seit einigen Tagen die Frage nach den sozialen Dimensionen des Lockdowns stärker in den Blick genommen: Es zeigt sich, wie schnell sich die Corona-Krise in einen Notstand der Arbeitsgesellschaft verwandelt, dessen Folgen aktuell unabsehbar sind. Spekulationen erscheinen deshalb auch ziemlich sinnlos. Nützlicher erscheint es zu diskutieren, was die aktuelle Situation für bereits zuvor vorhandene Tendenzen in der Erwerbsarbeit, aber auch für die gesellschaftliche Arbeitsteilung insgesamt bedeutet. Beide Fragen stehen sowohl für eine kritische Arbeitsforschung als auch für linke, emanzipatorische Politik im Feld Arbeit aus unserer Sicht auf der Tagesordnung…“ Vorwort der Gruppe Blauer Montag vom 9. April 2020 bei Sozial.Geschichte Online externer Link zu ihrem gleichnamigen Papier externer Link ebd. Siehe Zitate daraus und dazu:

  • Coesfeld und die Folgen: Arbeit und Migration in der Pandemie New
    „… Wer für das alltägliche Überleben in der Gesellschaft sorgt, ist angesichts der Pandemie vielfach sichtbar geworden: Das war der Ausgangspunkt des Texts der Gruppe Blauer Montag, der Anfang April in dieser Zeitschrift erschienen ist. Seitdem hat sich der Blick der Medien auf systemrelevante Bereiche von Woche zu Woche ausgedehnt, zuletzt auf Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft, der Fleischindustrie und im Versandhandel. In allen drei Branchen ist der Anteil von Beschäftigten ohne deutschen Pass sehr hoch. Im Zusammenhang mit Skandalen wieder Positivtestung von gleich mehreren hundert Arbeiter*innen in einem Schlacht- und Zerlegebetrieb der Firma Westfleisch in Coesfeld(NRW) wurden die dort vorherrschenden Arbeits- und Wohnverhältnisse thematisiert. Die Fabrik wurde für einige Wochen geschlossen und dann in einem stark kontrollierten Probebetrieb erst Ende Mai wieder angefahren. Doch schnell stellte sich der „Westfleisch-Skandal“ als alles andere als Einzelfall heraus. Die Befürchtung, dass durch derartige Vorkommnisse wie in Coesfeld auch anderswo die aktuell festgelegte Grenze von fünfzig Neuansteckungen pro 100.000 Einwohner*innen überschritten werden könnte, hat in der Folge den Fokus auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Migrant*innen weiter verstärkt und zugleich hektische Maßnahmen zur Abwehr der Infektionsgefahr ausgelöst, einschließlich einer Debatte über die Notwendigkeit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Am 20. Mai beschloss dann das Bundeskabinett ein Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie, die als Grund des Übels identifiziert wurden. Auch dieser Beschluss schaffte es auf die Titelseiten der Tageszeitungen und in die Hauptnachrichten. Sehr selten kamen dabei allerdings die Arbeiter*innen selbst zu Wort. (…) Im Rahmen unseres (…) Forschungsprojekts haben wir Diskurse über die Fleischindustrie in Radio, TV und Zeitungen untersucht. Das Ergebnis ist ernüchternd: Zwischen Anfang 2017 und Ende 2019 wurden in fast 300 untersuchten Medienberichten in nur einem halben Dutzend Fällen Arbeitende selbst direkt oder in indirekter Rede zitiert. Einer der wesentlichen Ausgangspunkte einer möglichen Verallgemeinerung ist deshalb schlicht, Positionen, Geschichten und Kämpfe von Arbeitenden zu dokumentieren. Die in der in der vorliegenden Zeitschrift laufenden Diskussion formulierte Frage nach möglichen Szenarien für die soziale und politische Klassenzusammensetzung nach der Pandemie müsste also ergänzt werden um die Frage nach Dokumenten, die nichts über die Zukunft aussagen können, aber wohl etwas über die Empörung in und Unzufriedenheit mit der Jetztzeit…“ Beitrag Peter Birke bei Sozial.Geschichte Online 27 vom 27. Mai 2020 externer Link – Peter Birke arbeitet im Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen und ist Mitglied der Redaktion von Sozial.Geschichte Online. Dieser Text von Peter Birke ist der dritte zu den Folgen der Pandemie für die Arbeitsgesellschaft, der Anfang April mit dem folgenden Beitrag der Gruppe Blauer Montag startete. Dazu auch lesenswert:

    • Auf Freiwilligenarbeit ist kein Verlass, schon gar nicht im Notstand [Arbeit am Notstand: Ehrenamt, Nachbarschaftshilfe, Selbstorganisation]
      „In unserer Debatte um die Veränderung von Arbeitsverhältnissen in der Pandemie hinterfragt Wolfgang Völker die Gleichsetzung von Freiwilligenarbeit, Nachbarschaftshilfe und Selbstorganisation. Mit Hinweis auf Untersuchungen zur Welcome-Bewegung nach 2015 sowie zum Ehrenamt in der sozialen Arbeit kritisiert er klassengeprägte Ausgrenzung und staatliche Instrumentalisierung. In Bezug auf den Kampf um alltägliche soziale Ansprüche tritt er für die Aufrechterhaltung von Forderungen nach „universellen zivilen, politischen und sozialen Rechten“ ein…“ Beitrag von Wolfgang Völker vom 27. April 2020 bei Sozial.Geschichte Online 27 externer Link
  • [Diskussions-Podcast] Notstand der Arbeitsgesellschaft – Streiks und Proteste von Arbeiter*innen in der Pandemie 
    In den ersten Wochen der Corona-Pandemie lag der öffentliche Fokus fast ausschließlich bei Verlautbarungen aus Krisenstäben. Dabei geriet fast alles andere in Vergessenheit. Seit Anfang April jedoch, wird die Frage nach den sozialen Dimensionen des Lockdowns stärker in den Blick genommen. Es wird sichtbar, wie schnell sich die Corona-Krise in einen Notstand der Arbeitsgesellschaft verwandelt: Es kommt zu massiven Angriffen auf soziale Rechte und Ansprüche. Die Ausbeutung unbezahlter Sorgearbeit wird stark erweitert. Eine verschärfte Austeritätspolitik ist mittlerweile mehr als wahrscheinlich. Millionen von Arbeiter*innen im Süden und Osten der Welt werden suspendiert oder entlassen. Sie bekommen dabei nur geringe oder gar keinen Entschädigungen. Andere werden gezwungen, in unsicheren Fabriken zu arbeiten, weil dies der einzige Weg ist, Elend zu vermeiden. In dieser Ausgabe der digitalen Disskussionsreihe der AkG, diskutieren Peter Birke (Universität Göttingen) und Artemisa Ljarja (Clean Clothes Campaign) über den Notstand der Arbeitsgesellschaft. Der Input von Peter Birke fragt erstens danach, welche Arbeitskämpfe aktuell zu beobachten sind. Zweitens wird kurz und thesenartig entwickelt, was sich aus diesen Beobachtungen in Bezug auf den Begriff und die politischen Potenziale von Arbeitskämpfen ableiten lässt. Artemisa Ljarja bepricht die Folgen der Pandemie für Beschäftigte in den internationalen Lieferketten für Bekleidung und Schuhe. Sie zeigt wie das Modell der Lieferkette Dutzende Millionen von Arbeiter*innen ungeschützt lässt, gegen die wirtschaftlichen Verwüstungen der Pandemie. Dabei schildert sie eindrückliche Beispiele aus verschiedenen Ländern Ost- und Südosteuropas. Die Moderation verdanken wir Nikolai Huke (Universität Tübingen)…“ Mosaik Podcast vom 2. Mai 2020 in mosaik-blog.at externer Link Audio Datei – Ein Mittschnitt der digitalen Diskussionsreihe der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung vom 29. April 2020.
  • Aus dem Beitrag Aus aktuellem Anlass: Vom Notstand der Arbeitsgesellschaft externer Link : „… Lidl sei Dank, weiß in der Folge nun auch die Leserin oder der Leser der Süddeutschen Zeitung, dass beispielsweise ohne die Kassiererin im Supermarkt, die man sonst zwischen zwei wichtigen Geschäftsterminen gerne übersieht, auch die Organisation des eigenen Alltags möglicherweise ziemlich schwierig sein könnte. Dieser Punkt ist deshalb wichtig, weil an ihm klar wird, dass das, was in der soziologischen Debatte „öffentliche Güter“ genannt wird, nicht identisch ist mit dem, was gesellschaftlich notwendige Arbeit insgesamt umfasst: Es geht um Tätigkeiten, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einem extremen Ökonomisierungs- und Privatisierungsdruck ausgesetzt waren, was aktuell vor allem der Blick in das Gesundheitswesen zeigt. Aber es geht auch um Tätigkeiten, die zumindest in der Bundesrepublik niemals in nennenswertem Maße durch ein zum Staat geronnenes Gemeinwesen organisiert waren. In sonst so unterschiedlich wahrgenommenen Feldern wie dem Einzelhandel und der Pflege wird nun deutlich, dass gesellschaftlich notwendige Arbeit in einem ganz umfassendem Sinne verstanden werden muss. Es ist ein fließender Begriff, in ständiger Bewegung, und seine Wendungen und Fügungen werden in Krisensituationen stärker wahrgenommen als sonst. Wovon sprechen wir überhaupt, wenn wir von „Gesellschaft“ sprechen? Diese Frage zieht analytisch und politisch gleich mehrere Fragen nach sich: Welche Tätigkeiten sind überhaupt von existenzieller Bedeutung für den Alltag der meisten Menschen? Wer verrichtet diese Tätigkeiten, und zu welchen Bedingungen? Wie sind diese  Tätigkeiten organisiert, wer eignet sich die produzierten Werte an? Dies sind „einfache“ Fragen, bei denen es auf den ersten Blick nicht um die Analyse von Staat, Kapital und Revolution geht. Will man jedoch die Frage stellen, was die aktuelle Rede von der „Systemrelevanz“ bedeutet, dann sind solche Fragen entscheidend. Zudem könnten sich solche Fragen für die Profiteure der aktuellen Situation als Bumerang erweisen: Keineswegs selbstverständlich erscheint vor ihrem Hintergrund etwa, dass die Discounter oder die Onlineversandhändler und ihre Oligopole eine gesellschaftlich sinnvolle Form darstellen, Versorgung zu organisieren: Als unmittelbare Folge der Krise könnte die Kritik an Lidl, Amazon und Co. deshalb wachsen, könnte die Suche nach Alternativen gestärkt werden. Dabei ginge es nicht nur um die Randbereiche, es folgt nämlich ganz logisch die Forderung, dass die aktuellen heldenhaften Einsätze von Kolleginnen und Kollegen in den genannten Bereichen in Zukunft weitaus bessere Rahmenbedingungen brauchen würden: Weniger prekäre Beschäftigung, Anerkennung von erworbenen Qualifikationen, Zurückdrängung der teils extremen Kontrolle und des Arbeitsdrucks,  existenzsichernde Löhne. Angesichts dessen, dass der Einzelhandel eine Domäne von als „weiblich“ konnotierter Arbeit ist, würden solche Veränderungen auch das über die gesellschaftliche Arbeitsteilung vermittelte System patriarchaler Herrschaft angreifen. (…) Vorläufig zusammengefasst ergibt sich das Bild einer Dreiteilung jener „Fundamentalökonomie“ im aktuellen Corona-Diskurs: Erstens werden bestimmte gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten sichtbar gemacht, und dabei werden auch systemische Probleme und Defizite exponiert, die die Diskurshegemonie des Neoliberalismus weiter angreifen könnten. Zweitens werden andere lebenswichtige Tätigkeiten buchstäblich in den Schatten gestellt und unsichtbar gemacht, was die Chancen für politische Initiativen im Sinne einer „neuen Infrastrukturpolitik“, die abgesehen von den erwähnten Bereichen auch andere wie Wasser- und Stromversorgung, Verkehrsinfrastruktur etc. umfassen müsste,  erschweren könnte. Und drittens wird unbezahlt und unsichtbar geleistete Sorgearbeit in einem gesellschaftlich kaum gesehenen Maßstab abverlangt und – wie stark zu vermuten ist – vor allem von Frauen geleistet. (…) Entgrenzung, aber auch soziale Ansprüche, Universalismus und Gerechtigkeit – Burn-out, aber auch Widerstand gegen die Zumutungen der Austerität – all dies ist mit der Dialektik des Pflegeethos verbunden. Im besten Fall kommen hier Konfliktfelder zusammen, verbinden sich praktische Solidarität und Selbstorganisation in der Forderung nach mehr Geschlechtergerechtigkeit, sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit: wird die Kritik an der Klassengesellschaft gestärkt. Im schlechteren Fall verbinden sich Überarbeitung Einzelner und Paternalismus: wird die Klassengesellschaft legitimiert und gefestigt. (…) Unter anderem von Karl Heinz Roth und Marcel van der Linden haben wir gelernt, dass die Grenze zwischen freier und unfreier Lohnarbeit historisch als fließend betrachtet werden muss.45 Diese Einsicht könnte eine ungeahnte Aktualität gewinnen: Die Schutzgesetze der Bundesregierung enthalten die Ansage, dass eine Versorgung von Mangelbereichen mit Arbeitskräften im Notstand durch Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden müsse. Die Sichtbarmachung der Arbeits-Held_innen könnte eine fast dystopische Wendung erhalten, indem die Erfahrung des Ausgesetztseins, des ökonomisch-juridischen Zwangs zur Lohnarbeit in Bereichen mit bislang als unakzeptabel geltenden Arbeitsbedingungen ebenfalls erweitert wird. Eine Ablehnung jeder Form des Arbeitszwangs und die Forderung nach sozialen Rechten für alle in der Bundesrepublik sich aufhaltenden Menschen ebenso wie nach einem allgemeinen Schutz vor Abschiebung stehen aktuell in einem vorher kaum sichtbaren Zusammenhang. (…) Dies heißt jedoch zugleich, dass politische und insbesondere auch gewerkschaftliche Initiativen, die auf eine Regulierung der Krise der Arbeitsgesellschaft setzen, indem sie sich lediglich auf den Arbeitsplatz beziehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Eine Erweiterung linker, kritischer Arbeitspolitik ist mehr als dringlich: Es erscheint immer weniger plausibel, Lohnersatzleistungen, Grundeinkommen, Migrationsverhältnisse, Geschlechterverhältnisse, Sozialleistungen, Mietverhältnisse nicht zu thematisieren, wenn es um eine Verbesserung von Arbeitsverhältnissen geht. Kämpfe um Arbeit werden zudem ohne einen Bezug auf Kämpfe im Stadtteil und in der Nachbarschaft den aktuellen Herausforderungen kaum gerecht werden. Und nicht zuletzt in diesem Rahmen wird der Bezug auf Selbstorganisation und Selbsthilfe wichtiger, und damit Felder, die von den skizzierten Ambivalenzen geprägt sind: zwischen Paternalismus und Universalismus, Vergemeinschaftung und Verallgemeinerung, Emanzipation und Volksgemeinschaft. Insofern geht es nicht nur um eine inhaltliche und  ozialräumliche Erweiterung von Arbeitskämpfen, sondern auch um Positionierungen auf der „richtigen“ Seite innerhalb dieser Ambivalenzen…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=169829
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