Hartz-IV-Empfänger: Jobcenter sollen „sozialwidriges Verhalten“ sanktionieren

Dossier

"Strafe tut not. Arbeitslose müssen erzogen werden. Ihr Jobcenter"Die Bundesagentur für Arbeit (BA) will einem Bericht zufolge schärfer gegen Hartz-IV-Empfänger vorgehen, die ihre Bedürftigkeit selbst verursacht oder verschlimmert haben. Demnach sollen Betroffene, die ihre Hilfebedürftigkeit selbst herbeiführen, sie verschärfen oder nicht verringern, künftig sämtliche erhaltenen Leistungen für bis zu drei Jahre zurückzahlen müssen, berichtete die „Bild“-Zeitung unter Berufung auf eine neue Weisung der BA an die Jobcenter. Selbst der Wert von Essensgutscheinen müsste dann erstattet werden. (…) Betroffen seien etwa Berufskraftfahrer, die den Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer verlieren und dann auf Hartz IV angewiesen sind, oder Hartz-IV-Empfänger, die bezahlte Jobs grundlos ablehnen und deshalb weiter von Hartz IV abhängig bleiben. Die schärferen Bestimmungen könnten demnach auch Mütter treffen, die sich weigern, die Namen der Väter ihrer Kinder zu nennen. Denn dieser müsste möglicherweise Unterhalt zahlen, das Jobcenter müsste dann weniger Leistungen an die Mütter überweisen. Ebenso betroffen sein könnten Menschen, die ihren Job freiwillig aufgeben, um sich in einem Bereich weiterzubilden, für den es keine Arbeitsplatzaussicht gebe…“ Meldung vom 02.09.2016 beim Spiegel online externer Link. Wir empfehlen als Grundlage einer angemessenen rechtlichen Beurteilung der Rechtslage die Fachlichen BA-Weisungen § 34 SGB II. Ersatzansprüche bei sozialwidrigem Verhalten externer Link   – siehe dazu:

  • Attentat auf den Rechtsstaat – Jobcenter gehen auf Menschenjagd
    „In Deutschland sind seit 1945 – im Gegensatz zur Nazi-Herrschaft – Polizei, Justiz und Gesetzgeber getrennt. Staatsanwälte haben klar definierte und begrenzte Vollmachten gegenüber Normalbürgern – wegen ihrer besonderen Pflicht als Strafverfolger. Zur Verfolgung von Straftaten im öffentlichen Interesse dürfen sie Grundrechte von Tatverdächtigen und Zeugen zeitweise einschränken. Seit August 2016 hat auch die „Bearbeitungsstelle Ordnungswidrigkeiten“ in den Jobcentern vergleichbare Sonderrechte. (…) Das seit August 2016 gültige „Rechtsvereinfachungsgesetz“ für von Hartz-IV-Abhängige ermöglicht, Betroffene mit einem Bußgeld von 5000 Euro zu bestrafen, wenn sie eine Ordnungswidrigkeit begehen. (…) Die Bundesagentur für Arbeit erließ zusätzlich „fachliche Weisungen“, die die Bußgeldverfolgung regeln. Die „Bearbeitungsstelle Ordnungswidrigkeiten“ verfolgt „die Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Zuwiderhandlungen von leistungsberechtigten Personen, Arbeitgebern, sonstigen Dritten und privaten Trägern im Wege der Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten.“ Wohlgemerkt: Es handelt sich hier nicht um die Polizei oder Staatsanwaltschaft eines bürgerlich-demokratischen Rechtsstaates, die laut Verfassung, diese Rechte haben, sondern um eine Abteilung der Jobcenter. Die Mitarbeiter dieser „Hartz-IV-Polizei“ „besitzen weitgehend dieselben Rechte und Pflichten wie die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten.“ Sie dürfen alos schnüffeln, in fremde Wohnungen eindringen, Ordnungsgelder verhängen etc. „Ausgenommen davon sind lediglich schwere Eingriffe in die Rechtsphäre der betroffenen Personen, wie z.B. freiheitsentziehende Maßnahmen.“…“ Beitrag vom 14. Oktober 2016 bei gegen-hartz.de externer Link – es kann nicht oft genug auf diesen Skandal hingewiesen werden!

  • Ermitteln auf Verdacht: Neue Weisung regelt Bußgeldverfahren gegen Hartz-IV-Bezieher. Demnach haben Jobcenter ähnliche Kompetenzen wie ein Staatsanwalt
    „Wenn es darum geht, Hartz-IV-Bezieher umfassend zu bespitzeln, ist der Bundesagentur für Arbeit (BA) kein Aufwand zu hoch. Für die Bußgeldparagraphen 63 und 64 im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) hat die Mammutbehörde nun 75 Seiten umfassende »Fachliche Hinweise« herausgegeben. Das Papier unter dem Titel »Das Bußgeldverfahren im SGB II«, vorausdatiert auf den 20. Oktober, veröffentlichte der Sozialrechtler Harald Thomé am Montag. Es belegt, wie akribisch und rigide Jobcenter gegen am Existenzminimum Lebende ab einem Alter von 14 Jahren und sogar Menschen vorgehen, die sicher oder vermutet in finanzieller Verbindung zu ersteren stehen. Dafür bedarf es einzig des Vorwurfs, mangelhaft »mitgewirkt« zu haben. Bemerkenswert ist, dass alles in einem Haus passiert: Sowohl die »Feststellung« des Verdachts, »ordnungswidrig« gehandelt zu haben, als auch weitere »Ermittlungen« und die Festsetzung der Geldbuße obliegen dem Jobcenter. Demnach sollen die für die Betroffenen zuständigen Sachbearbeiter »Verdachtsfälle« erkennen und an die hausinterne Bearbeitungsstelle für Ordnungswidrigkeiten (OWi) weiterleiten (…) Die BA stellt in ihrer Dienstanweisung klar: »Die in einem OWi-Fall ermittelnden Sachbearbeiter besitzen weitgehend dieselben Rechte und Pflichten wie die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten.« Sie sollen sich an deren Vorschriften, etwa der Strafprozessordnung, orientieren. Ausgenommen seien »lediglich schwere Eingriffe, wie freiheitsentziehende Maßnahmen«….“ Artikel von Susan Bonath bei der jungen Welt vom 4. Oktober 2016 externer Link
  • Wo soll das enden? Übergewichtige und Ganzkörpertätowierte könnte man doch auch … Ein Kommentar zum „sozialwidrigen Verhalten“, das die Jobcenter sanktionieren sollen
    „… Was muss man sich denn darunter vorstellen – „sozialwidriges Verhalten“? Beginnen wir mit der „mildesten“ Variante, weil sie immer wieder gerne angeführt wird und sich vielen Beobachtern auch als ein bewusstes Fehlverhalten darstellt, das man ahnden kann/soll: »Hartz-IV-Empfänger, die bezahlte Jobs grundlos ablehnen und deshalb weiter von Hartz IV abhängig bleiben«, die fallen unter diese Kategorie, wobei hier gar nicht thematisiert werden soll, dass es in praxi gar nicht so einfach ist, diesen Tatbestand eindeutig festzustellen. Aber die neue Weisungslage hat es in sich: »Betroffen seien etwa Berufskraftfahrer, die den Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer verlieren und dann auf Hartz IV angewiesen sind (…) Die schärferen Bestimmungen könnten demnach auch Mütter treffen, die sich weigern, die Namen der Väter ihrer Kinder zu nennen. Denn dieser müsste möglicherweise Unterhalt zahlen, das Jobcenter müsste dann weniger Leistungen an die Mütter überweisen.« An dieser Stelle mal provokativ gefragt: Da geht doch noch mehr. Wie wäre es mit Übergewichtigen, die durch ihr „sozialwidriges“, weil die Hilfebedürftigkeit verlängerndes Essverhalten, einen „Schaden“ verursachen, den man doch bitte zurückfordern muss? Und wenn man schon dabei ist – wie verhält es sich mit Ganzkörpertätowierten, die nicht in die Nähe eines Vorstellungsgesprächs kommen, weil die Arbeitgeber sie aufgrund der – nun ja – mehr oder weniger künstlerischen Veredelung der Hautpartien von vornherein ablehnen? Tragen die nicht auch zu einer Verlängerung und Aufrechterhaltung ihrer Hilfebedürftigkeit bei, weil sie sich ja durch ihre Entscheidung selbst ins arbeitsmarktliche Aus geschossen haben?…“ Kommentar von Stefan Sell vom 2. September 2016 bei Aktuelle Sozialpolitik externer Link
  • Diagnose: Selber schuld: Ersatzansprüche der Jobcenter bei »sozialwidrigem Verhalten«
    „… Seit 20. Juli ist nun auch in einem Paragraphen im Sozialgesetzbuch II (SGB II) festgelegt, dass von Hartz-IV-Beziehern bei »sozialwidrigem Verhalten« Leistungen drei Jahre rückwirkend zurückgefordert werden können. (…) Nun kann neben »Vorsatz« auch eine »grobe Fahrlässigkeit« ein Grund sein, gezahlte Leistungen zurückzuverlangen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf »sozialwidriges Verhalten« gelegt, das schwierig zu definieren ist. In ihren »fachlichen Weisungen« zu Paragraph 34, SGB II versucht es die BA dennoch. (…) Der »Ersatzanspruch« geht sogar noch über den Regelbedarf hinaus und erstreckt sich unter anderem auch auf Versicherungsbeiträge, etwa zur Sozialversicherung, »Kosten für Unterkunft und Heizung« und Lebensmittelgutscheine. Auf diese haben Menschen einen Anspruch, wenn ihre Geldleistungen als sogenannte Sanktion komplett gestrichen werden. Sie sollen zumindest das physische Überleben sichern. Nun sollen selbst diese im Barwert erstattet werden müssen. (…) Unter anderem der Sozialverband Deutschland (SoVD) hat in seiner Stellungnahme im Mai angemerkt, dass die Definition von »sozialwidrigem Verhalten« äußerst unklar sei. Zuvor sei damit nur eine aktive Handlung gemeint gewesen, nun sei die Regelung erweitert auf ein unbestimmtes »Erhöhen, Aufrechterhalten sowie nicht Verringern der Hilfebedürftigkeit«. »Für die Betroffenen ist überhaupt nicht vorherzusehen, durch welches Verhalten sie mit einem Erstattungsanspruch konfrontiert werden können«, bemängelte der SoVD…“ Bericht von Claudia Wrobel in der jungen Welt vom 3. September 2016 externer Link
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