Existenzminimum nach Luxemburger Art – Der EuGH zu der Möglichkeit von Sanktionen bei existenzsichernden Leistungen im Flüchtlingssozialrecht

Wer nicht spurt, kriegt kein Geld„Leistungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebensstandards sind unantastbar. Das hat die große Kammer des EuGH in der Rs Haqbin (C-233/18) am 12. November 2019 für das Flüchtlingssozialrecht entschieden externer Link. § 1a des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) wird den Anforderungen des EuGH nicht gerecht, und das BVerfG könnte am Ende den Kürzeren ziehen, wenn es die Rechtsprechung des EuGH nicht berücksichtigt und die Sozialgerichtsbarkeit in Sachen Sanktionssystem stattdessen Rat in Luxemburg sucht. Die Entscheidung kam nur eine Woche, nachdem das BVerfG mit langen, aber kaum überzeugenden Ausführungen (…) versucht hat, zu plausibilisieren, warum ein Entzug existenzsichernder Leistungen (ein Minimum unter Minimum) möglich ist – ja sogar Leistungskürzungen bis zu 100 Prozent nicht auszuschließen sind. Der EuGH hingegen hat deutlich konstatiert, dass Leistungen, die einen menschenwürdigen Lebensstandard (also ein menschenwürdiges Existenzminimum) sicherstellen, nicht verhandelbar sind und unter keinen Umständen sanktioniert und mithin eingeschränkt oder entzogen werden dürfen. Die Mitgliedstaaten müssen dauerhaft und ohne, auch nur zeitweilige, Unterbrechung einen menschenwürdigen Lebensstandard gewährleisten. (…) Eine Sanktion ist nach Maßgabe dieser Grundsätze nur zulässig, wenn die zuständigen Behörden „unter allen Umständen dafür sorgen“, dass diese „im Hinblick auf die besondere Situation des Antragstellers und auf sämtliche Umstände des Einzelfalles mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang steht und die Würde des Antragstellers nicht verletzt.“ (Ziff. 51). Dies gelte auch für Entzug oder Einschränkung von Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs. Das heißt: Sanktionen, die materielle Leistungen tangieren und dazu führen, dass ein menschenwürdiger Lebensstandard nicht mehr gewährleistet werden kann, sind auf keinen Fall zulässig. (…) Er wiederholt, dass materielle Leistungen so bemessen und bestimmt sein müssen, dass dadurch stets und in jedem Fall ein menschenwürdiger Lebensstandard gewährleistet wird…“ Beitrag von Ibrahim Kanalan vom 4. Dezember 2019 beim Verfassungsblog externer Link – und unsere Anmerkung dazu und weitere:

  • Anm.: Es mag vielleicht überraschen, dass nun gerade der EuGH deutlich konsequenter als das BVerfG an der rechtlichen Unabdingbarkeit eines menschwürdigen Lebensstandard festhält. Das hat sicher verschiedene Gründe, wobei wohl einer in der fehlenden Bereitschaft des 1. Senats des höchsten deutschen Gerichtes liegt, den Interessen an einer möglichst effektiven Nutzung der Arbeitskraft durch die neoliberale deutsche Wirtschafts- und Arbeitmarktspolitik mit der unverzichtbaren Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde etwas entgegenzusetzen. Außerdem wird der EuGH auch von Richter*innen derjenigen EU-Staaten gebildet, welche unter der deutschen Niedriglohnpolitik leiden, die gerade mit Sanktionen durchgesetzt werden sollen. Zwar ist die EU von ihrem Grundkonzept her neoliberal, aber deshalb auch immer weniger beliebt. Die EU-Grundrechtecharta bietet mit Art. 1 jedoch ebenso wie Art. 1 GG einen Bezugspunkt für den Schutz der Menschenwürde, was der EuGH nun genutzt hat. Wichtig ist in der praktischen Konsequenz ggf. zu betonen, dass die BVerfGE zu Sanktionen eben nicht EU-konform ist. Vor allem lassen sich so selbst die angeblichen 30prozent Sanktionen an den Forderungen des EuGH messen.
  • Dazu auch im  Thomé Newsletter 44/2019 vom 09.12.2019 externer Link: „… Diese Entscheidung des EUGH kam nur eine Woche nachdem das BVerfG mit langen, aber kaum überzeugenden Ausführungen (dazu z.B. hier) versucht hat, zu plausibilisieren, warum ein Entzug existenzsichernder Leistungen (ein Minimum unter Minimum) möglich ist – ja sogar Leistungskürzungen bis zu 100 Prozent nicht auszuschließen seien. Der EuGH stellt mit dem Urteil klar, dass das menschenwürdige Existenzminimum nicht verhandelbar ist und unter keinen Umständen sanktioniert und mithin eingeschränkt oder entzogen werden darf und die BVerfG-Entscheidung zu Sanktionen eben nicht EU-konform seien. Die Mitgliedstaaten müssen dauerhaft und ohne, auch nur zeitweilige, Unterbrechung einen menschenwürdigen Lebensstandard gewährleisten…“
  • Siehe zum Hintergrund unser Dossier Gericht bringt Hartz-IV-Sanktionen vor Verfassungsgericht
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=158849
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