Tafeln fordern Unterstützung vom Bund: Fehlende staatliche Armutsbekämpfung führt zu immer mehr Abhängigkeit von Lebensmittelspenden

Tafeln und Vertafelung„Mehr als 1,6 Millionen Menschen müssen die über 2000 Läden und Ausgabestellen der Tafeln regelmäßig nutzen. In den vergangenen Jahren ist ihre Zahl derer stetig gestiegen, die ohne die gespendeten Lebensmittel nicht über die Runden kommen. Laut Dachverband der über 940 Tafeln sind von den 1,6 Millionen Nutzern 30 Prozent Kinder und Jugendliche, 26 Prozent Senioren und 44 Prozent Erwachsene im erwerbsfähigen Alter. Wohnungslose, in Altersarmut Lebende, prekär Beschäftigte, Alleinerziehende, Erwerbslose und Geflüchtete nehmen das Angebot an. Im Zuge der Corona-Pandemie rechnet die Organisation in den kommenden Wochen mit weiter steigenden Kundenzahlen. (…) Allein durch Spendengelder und ehrenamtliches Engagement könne die Nachfrage nicht gestemmt werden. Zwar ist laut Dachverband die Menge der gespendeten Lebensmittel tendenziell steigend, allerdings nicht in der Geschwindigkeit der Nachfrage. (…) Ein generelles Problem der Tafeln ist auch, dass die Versorgung mit Lebensnotwendigem in private Hand gelegt wird. Die eigentlich sozialstaatliche Aufgabe wird Menschen überlassen, die sich in ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit als »Retter« für Menschen in Armut aufspielen können. (…) Sie hätten es vollkommen in der Hand, was sie einem Kunden geben. (…) Der Tafelgang bedeutet Stigmatisierung und ist mit Scham besetzt. Tafeln zementieren Ausgrenzung und tragen zum Kleinhalten staatlicher Sozialleistungen bei. Die Linke-Bundestagsfraktion stellte schon vor Jahren fest, dass »Armutsbetroffene bewusst unterhalb des (rechtsstaatlich) verbindlichen Minimums versorgt werden, gerade weil es die Tafeln gibt.« Am Anfang der Corona-Pandemie sagte auch Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands: »Die Tafeln sind mittlerweile kein Add-on mehr, sondern echte Armenspeisung.« Viele Menschen würden ihren gesamten Nahrungsmittelbedarf über Spenden decken, um die nicht bedarfsgerechten Regelsatzpositionen auf anderen Feldern zu kompensieren.“ Artikel von Lisa Ecke vom 4. August 2020 in neues Deutschland online externer Link, siehe dazu:

  • Tafeln fordern Corona-Rettungsschirm auch für Arme / Dass die Nöte der Armen in der Krise ignoriert werden, beweist: Armut ist erwünscht New
    • Tafeln fordern Corona-Rettungsschirm auch für Arme: Kurzfristige Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um 100 Euro im Monat notwendig
      „Der Dachverband der Tafeln in Deutschland hat die Politik aufgerufen, bei der Bekämpfung der Coronakrise stärker die Bedürfnisse armer Menschen zu berücksichtigen. »Einen Corona-Rettungsschirm muss es auch für Arme geben«, sagte Verbandschef Jochen Brühl der »Neuen Osnabrücker Zeitung«. Die psychische und materielle Belastung der sozial Benachteiligten sei derzeit enorm. Sie müssten sich zum einen mit Hygieneartikeln wie Masken eindecken, führte Brühl aus. Zum anderen bleibe etwa ein Drittel der insgesamt 1,6 Millionen bisherigen Kunden den Tafeln aus Sorge vor einer Ansteckung fern. »Und wenn sie nicht mehr zur Tafel kommen, müssen sie sich anderweitig mit Lebensmitteln eindecken. Das ist im Zweifelsfall auch viel teurer.« Brühl plädierte daher für eine kurzfristige Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um 100 Euro im Monat. (…) Brühl sagte, es werde derzeit viel darüber diskutiert, auf welche Weise man in Deutschland dieses Jahr Weihnachten feiern könne. »Für viele Tafel-Kunden ist das überhaupt kein Thema. Die sitzen an den Feiertagen allein in ihrer Wohnung ohne soziale Kontakte, ohne Festessen.«“ Agentur-Meldung vom 11.12.2020 in neues Deutschland online externer Link
    • Armut und Corona: Angst machen. Es wäre richtig und leicht, in der Pandemie den HartzIV-Satz um 100 Euro zu erhöhen. Dass die Nöte der Armen in der Krise ignoriert werden, beweist: Armut ist erwünscht.
      Schlimm genug, dass es Tafeln gibt in einem Land wie diesem. Dass also Menschen, denen der Staat ein sogenanntes „Existenzminimum“ zum Überleben garantiert, auf diesem Minimum nicht überleben können – und dass das ausgeglichen wird dadurch, dass sie sich einmal in der Woche in eine Schlange stellen, damit ihnen jemand Müll in eine Tüte steckt. Ja, es ist Müll. Es sind Nahrungsmittel, die aussortiert wurden, die man nicht mehr verkaufen kann. Tafeln geben uns durchs Müllverteilen das wohlige Gefühl, dass für die Armen gesorgt ist. Das macht sie zum Teil des Problems. Denn sie beruhigen eine Gesellschaft, die sich eigentlich empören müsste. (…) Arme Menschen haben überdurchschnittlich häufig Vorerkrankungen, sie haben oft ein schwächeres Immunsystem. Arme Familien leben in Wohnungen, in denen Quarantäne unmöglich ist. Sie können es sich nicht leisten, jeden Tag eine FFP-2-Maske für fünf Euro zu kaufen, sie können sich eigentlich überhaupt keine Masken kaufen, denn für rezeptfreie medizinische Erzeugnisse stehen ihnen im Monat genau 2,50 Euro zu. Durch die Pandemie trauen sich viele nicht mehr zu den Tafeln, gleichzeitig fallen andere Strukturen und soziale Kontakte ebenfalls weg. Das Virus bedroht arme Menschen also besonders. Und während der Rest der Bevölkerung Kurzarbeitergeld bekommt oder Steuererleichterungen fürs Homeoffice, sind die Armen seit Beginn der Pandemie kaum weiter besprochen worden. Kürzlich wurde sogar der Hartz-IV-Satz im Bundestag diskutiert, es gab einen mickrigen Inflationsausgleich, niemand interessierte sich dafür. Wenn in Deutschland eine Sache nicht umgesetzt wird, dann ist es immer am einfachsten, das auf den Verwaltungsaufwand zu schieben, der damit zusammenhängt. Oft ist das sogar wahr: alle wollen das Beste, aber es hat zig Haken. Bei einer Hartz-IV-Aufstockung wäre die Sache allerdings recht einfach. (…) Je reicher man ist, desto mehr profitiert man von den Pandemiehilfen der Bundesregierung. Menschen mit hohen Gehältern bekommen mehr Kurzarbeitergeld als Menschen mit niedrigen Gehältern, und Vermieter können sich glücklich schätzen, dass der Staat die Zahlungen an sie ersetzt. Dass der Hebel trotzdem nicht umgelegt wird, dass arme Menschen bei allen Pandemiehilfen abgesehen vom Kinderzuschlag außer Acht gelassen werden, zeigt, was sowieso klar war: Armut ist kein Zufall. Armut ist erwünscht. Armut ist dazu da, denjenigen Angst zu machen, die sich trotz des Virus jeden Morgen in den Bus setzen müssen, in die U-Bahn steigen, um Häuser zu bauen oder Produkte zu kassieren oder Kinder zu betreuen. Sie alle sollen sich davor fürchten, ihren Job zu verlieren, mehr als davor, sich im Job mit einer potenziell tödlichen Krankheit anzustecken…“ Kommentar von Anna Mayr vom 11. Dezember 2020 in der Zeit online externer Link
  • Siehe auch unser Dossier: [Mindestens:] Bevorratungszuschuss zum Hartz IV als Soforthilfe!
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=176453
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