Variationen zu Kreativität und Burn-out

Kommentierte Presseschau von Volker Bahl vom 14.1.2013

Die erste Variante wird mit dem Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz und seinem Buch „Die Erfindung der Kreativität“ von Michaela Schlangenwerth in der FR entfaltet „Bis zum Burn-out – Wie die Kreativität sich gegen ihre Jünger richtet“: „Der Markt giert unaufhörlich nach Neuem, Strittigen – und die Begabungen der Kreativen bestehen eben darin, auf strittige Ideen zu setzen, sich selbstbewusst in Dissenz zur Mehrheit zu befinden. Mit etwas Glück also und einem gewissen Willen zur Selbstvermarktung wird man genau mit dem Strittigen und sich Verweigernden erfolgreich…

Nur konnte man sich am unschuldigen Anfang noch dieser Illussion hingeben – inzwischen ist dies nicht mehr nur Subkultur, sondern Mainstream.

Einer solchen Auffassung widerspricht Reckwitz in seinem Buch „Die Erfindung der Kreativität“, denn dieses Bild von der menschlichen Fähigkeit zur Kreativität – und der Notwendigkeit dieser dem menschlichen Grundbedürfnis entsprechenden allseitigen Förderung – ist doch ein historisch erst „jüngst“ gewordenes, ja sogar relativ junges Phänomen – eine Begleiterscheinung des Kapitalismus – und seiner „Bedürfnisse“ eben. Ab den 1920-er Jahren, verstärkt aber ab den 50-er Jahren konstatiert die US-amerkanische Management-Lehre die Ineffizienz der Arbeit in einer modernen durchrationalisierten Arbeitsorganisation – durch eine fehlende Motivation und Identifikation der Angestellten…

So stellen die Ökonomen fest, dass sie sich eine weitere Ausgrenzung der Kreativität (z.B. als unproduktive „Boheme“) nicht mehr leisten können…

Seit den 80-er Jahren laufen die beiden großen psychologischen Subjektivierungsprogramme, die self growth psychology und die kognitivistische Psychologie, zusammen und stützen sich gegenseitig.
Die Folge: Kreativität wird zum Orientierungspunkt eines ganzen psychologischen Lebensprogramms und aller Alltagspraktiken. So total ist die Vorstellung vom kreativen Individuum heute geworden, dass der/diejenige, dem es an Kreativität mangelt, nicht nur sozial sondern auch persönlich Schaden nimmt.

Nur die Kehrseite dieser Entwicklung zur „Totalität“ des Kreativen ist, dass dieses Regime der unaufhörlichen Neuerfindung – inzwischen – zunehmend erschöpfte Individuen mit z.B. einem Burn-out vor sich hertreibt.
(http://www.fr-online.de/kultur/kreativitaet-die-boh-me-steht-kurz-vorm-burn-out,1472786,21440526.html externer Link – etwas ausführlicher noch bei ww.e-fellows.net/KARRIEREWISSEN/Aktuell/Zwang-zur-Kreativitaet externer Link, vor allem auch mit einer ausführlicheren Literatur-Liste (am Schluss) bis hin zu Alain Ehrenbergs – damals schon aufsehenerregenden – Buch „Das erschöpfte Selbst“)

„Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (Friedrich Hölderlin). Und als Antwort darauf eine zweite Variante: Die Nützlichkeit des Tagträumens

Und nachdem uns die „Handwerker“ Psychologen so „blind“ im Interesse der Wirtschaft in die Bredoille eines am Ende nur noch erschöpften Selbsts geführt haben, kommt wieder aus den USA das Backlash gegen diesen allgemeinen Zwang zu Umtriebigkeit – aus der Wissenschaft des „Höheren“, einem Philosophen, John Perry aus Stanford.

Zwar gibt er zu – wohl unter dem Druck des allgemeinen Zeitgeistes – dass er seiner „Leidenschaft“, der Prokrastination, nur mit schlechtem Gewissen gefolgt ist. Aber nach einem Essay vor 15 Jahren und nachdem er jetzt emeritiert ist, hat er jetzt dazu ein Buch geschrieben – und sich als bekennender Prokrastinierer geoutet.

Oh, was für ein schrecklicher Begriff „Prokrastination“ für das Lebenserleichternde und die Lebenslust wieder Fördernde, was dahinter steckt. Dieses Prokrastinieren bedeutet die Kunst des ständig Vor-sich-her-Schiebens – oder auch die anstehende Aufgabe eben nicht zu tun, um einfach etwas anderes zu tun. Und als Bilanz dieses vor-sich-her-schiebenden „Nichtstuns“ – weil einem immer noch etwas einfällt, was man doch stattdessen tun kann – kommt Perry zu dem Ergebnis, dass er ein ein recht erfolgreiches und wirklich kreatives Leben geführt hat, denn die Leute um ihn herum in Stanford (!) hielten ihn für einen rührigen Macher und setzten ihn – wegen seiner ganzen Einfälle – in einen Haufen von Kommissionen. Dabei hatte er diese Einfälle doch „nur“ gehabt, weil er das gerade Anstehende – wie z.B. das Korrigieren von studentischen Klausuren – keine Lust hatte zu tun – und einfach etwas Anderes wiederum in Angriff nahm.
Und so veröffentlichte er auch ziemlich viel – und fand dann – trotz seines schlechten Gewissens – es erstaunlich, dass er es schaffte, seinen Job doch zu behalten.

Und so kommt er aus dieser Lebenserfahrung zu dem Schluss – so sehr es auch gelegenlich die Mitmenschen aktuell nerven mag -, dass Liegenlasser und Aufschieber „mit Plan“ (es doch irgendwann zu tun) in heit enorm viel schaffen.
Und so kommt Perry wiederum „abschweifend“ zur Erörterung über die Irrationalität des Menschen im Allgemeinen und die Nützlichkeit des Tagträumens im Besonderen.

Ja, so eröffnen sich einem mit solcher Philosphie (= heißt doch eigentlich Liebe zur Weisheit) wieder jenseits des Zwangs zum „erschöpften Selbst“ neue Horizonte – gerade auch unüberwindlich erscheinende Arbeiten in viele kleine Schritte – mit Abwechslungen zwischendurch – zu zerteilen. Es geht also um die für jeden zu entwickelnde Kunst, die mögliche Kreativität in ein jeweils „wirkungsvolles“ Wechselverhältnis zum Nichtstun – zum Tagträumen – zu setzen.
(www.sueddeutsche.de/leben/tugend-des-aufschiebens-was-du-heute-kannst-besorgen-verschiebe-auf-morgen-1.1570729 externer Link)

Zur Ergänzung noch eine kleine Geschichte

Als Leonardo da Vinci an seinem weltberühmten Abendmahl-Gemälde in Mailand arbeitete, beschwerte sich der zuständige Abt beim Herzog über die Faulheit von Leonardo, der nicht dauernd seinen Pinsel schwingend vor dem Gemälde säße.
Leonardo schaffte diese Querelen gut aus der Welt, indem er versicherte, er könnte seinen schöpferischen Arbeitsgang auch dadurch erleichtern, dass er dem Judas auf diesem Gemälde das Gesicht des Abtes gäbe…..
Leider hat nicht jede(r) derartige Möglichkeiten das richtige Verhältnis von Nichtstun und schöpferischem Schaffen gegenüber seiner nörgelnden „Umwelt“ so einfach und wiederum kreativ ins Lot zu bringen.
Nur umgekehrt zeigt es auch, dass nur Widerstand auch diese Möglichkeiten erhalten kann – gegenüber jedweder bloß ökonomischen Rationalität.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=22849
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