[LabourNet-Winter-Interview mit Camilo A.] #RidersOnTheStorm. Wie ein Schneesturm in Berlin 2021 zur Organizing-Kampagne bei Gorillas beitrug

Gorillas Workers: we organize in less than 10 minutesWer schonmal in einem Startup arbeiten musste, kennt es: Die netten Chefs bestellen einen Früchtekorb für alle, dafür kommt der Lohn drei Wochen zu spät. Es gibt eine kostenlose Kaffeemaschine, aber dafür wird erwartet, dass du unbezahlte Überstunden schiebst. Auch Gorillas ist keine Ausnahme. Im Winter vor einem Jahr begannen Lieferfahrer:innen des Unternehmens damit sich in Berlin zu organisieren. Auslöser war ein Schneesturm, in dem die Rider trotz Lebensgefahr arbeiten sollten. Und das war nur die Spitze des Eisbergs: Lange Probezeiten, fehlende oder spät gezahlte Löhne und ein durch und durch inkompetentes Management machten die Arbeitsbedingungen für die meist migrantischen Kolleg:innen unerträglich. Camilo A. sprach über die Anfänge des Unternehmens und des Arbeiter:innenkollektivs, das bundesweit einmal mehr zeigte, dass es möglich ist, sich auch innerhalb der Gig-Economy zur Wehr zu setzen. Dabei waren einige Gewerkschaften hilfreicher als andere. Siehe dazu das Interview von Anne Engelhardt vom Dezember 2022:

LabourNet Germany [LN]: Wann hast du angefangen bei Gorillas zu arbeiten und wann habt ihr begonnen euch zu organisieren?

Camilo: Ich habe etwa im Oktober 2020 bei Gorillas angefangen. Das Unternehmen wurde im Juni des gleichen Jahres gegründet, nach der Pandemie. Sie waren wirklich gut darin, diesen neuen Markt zu erkennen, der sich durch die Umstände eröffnete. Und deshalb ist das Wachstum der Gorillas in die Höhe geschnellt, weil es eine große Nachfrage nach ihrem Angebot gab. Außerdem gab es sonst niemanden, der eine Lebensmittellieferung in weniger als zehn Minuten für die gleichen Preise, die du im Supermarkt bekommst, anbot. Es gab auch einen großen Zustrom von Menschen, die Arbeit brauchten, vor allem Migrant:innen, die als nicht qualifiziert gelten, weil sie kein Deutsch sprechen. Zumindest in meinem Fall und bei vielen anderen galt, dass wir nicht als Freiberufler:innen arbeiten konnten, wegen unseres Visums. Das ist der Grund, warum ich den Job bekommen habe, weil ich verzweifelt Geld brauchte, vor allem, weil ich Student bin. Ich habe erwartet, dass ich ein Stipendium aus Chile bekomme, wo ich herkomme. Aber all diese Mittel wurden wegen der Pandemie gestrichen. So wurde ich in die Situation hineingeworfen, wie es wohl vielen Menschen ergangen ist. Ja, es war im Oktober 2020, und die Arbeitsbedingungen waren von Anfang an nicht so gut, aber ich hatte auch nicht erwartet, dass sie gut sein würden, wenn man bedenkt, dass ich mit dem Fahrrad fahren musste, wenn es eiskalt war. Ich wusste also, dass ich mich dem Virus aussetzen würde, besonders in den ersten Tagen der Pandemie. Wir waren alle sehr unsicher. Wir hatten noch keinen Impfstoff, also war das Risiko sehr hoch.

Die ersten Probleme traten schon am ersten Zahltag auf, weil wir verspätet oder später bezahlt wurden, als sie es uns versprochen hatten. Damit hatte ich nicht gerechnet, zumindest nicht hier in Deutschland. Ich hätte das vielleicht in Chile erwartet, aber nicht einmal dort. Ich dachte mir, das kann nicht sein, das hier ist Deutschland! Ich meine, die haben Regeln und Protokolle. Für mich und meine Kolleg:innen war es sehr schwierig, unser Geld nicht rechtzeitig zu bekommen, das wir brauchen, um unsere Miete und alles andere zu bezahlen. Es ist nicht so, dass wir Ersparnisse oder sonst etwas haben. Und das Unternehmen war damals noch ziemlich klein. Ich glaube, ich gehörte zu den ersten 200 Mitarbeitern des Unternehmens. Damals hatten wir einen direkten Kontakt zu den Managern. Auch der Eigentümer war oft da. Damals kamen sie direkt zu uns und entschuldigten sich, indem sie sagten: „Oh, es tut uns leid, wir sind ein Start-Up, wir müssen das erst noch alles lernen“. Und das ist ein Argument, das sie immer wieder anführten. Ich habe es beim ersten Mal geglaubt und dachte: „Okay.“ Aber das ist nicht okay. Wenn du mit deinen Zahlungen in Verzug gerätst, solltest du es den Leuten vorher sagen, damit sie sich darauf einstellen können. Und es ist nicht in Ordnung, wenn du es erst hinterher machst, wenn die Leute sich schon beschweren. Das sind ganz einfache Dinge! Für mich war das das erste Warnsignal. Ich dachte: „Okay, mal sehen, was im nächsten Monat und im darauffolgenden Monat passiert.“ Es war sehr ähnlich. Und dann gab es noch ein paar andere Probleme, die sich auftürmten.

Es wurde schon unzählige Male darüber geschrieben, ich glaube nicht, dass es nötig ist, ins Detail zu gehen. Aber ich möchte nur die Probleme mit den Zahlungen nennen: Sie kommen zu spät oder sind manchmal falsch. Die Leute bekommen nicht den vollen Betrag, den sie eigentlich bekommen sollten. Es gibt eine sehr unzureichende Struktur der Unterstützung für Arbeitende, wenn es darum geht, diese Probleme zu lösen. Und ich weiß nicht, wie es im Moment aussieht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich nicht wirklich geändert hat. Aber damals hatten wir eine E-Mail-Adresse, an die wir uns wenden mussten, wenn wir Probleme hatten. Dann mussten wir ewig warten, bis wir eine Antwort bekamen. Meistens war die Antwort dann völlig nutzlos. Im Grunde genommen sagten sie uns: „Okay, du hast Recht“, und zwar mit mehr Details. Aber man hat sich am Anfang gefühlt, als wäre man sehr machtlos und unzulänglich und nicht existent. Sie versprachen uns immer wieder, dass sie uns Jacken geben würden. Es dauerte eine Weile, bis sie das taten. Aber nicht alle bekamen Jacken, also haben sie sich rausgewunden. Sie haben im Grunde mit uns rumexperimentiert und uns während der Pandemie als Kanonenfutter benutzt.

LN: Ihr wart sozusagen ein Labor für sie?

Camilo: Ganz genau. Ich erinnere mich auch an die Corona-Maßnahmen, die wirklich schlimm waren. Die Lagerhäuser waren total überfüllt. Ich hatte damals eine Beziehung mit einer Person, die Asthma hatte, und ich dachte mir, dass ich mich hier nicht exponieren kann. Aber ich kann auch nicht ‚nicht‘ zur Arbeit gehen, denn wir hatten alle eine Probezeit von sechs Monaten, was das gesetzliche Maximum ist. Aber das ist auch eine sehr, sehr lange Zeit. In dieser Zeit hast du wirklich Angst, denn du kannst dich nicht richtig beschweren, weil du ohne Grund entlassen werden könntest. Wie dem auch sei, es hat sich eine Menge Scheiße aufgestaut. Ich selbst bin schon ziemlich politisiert. Ich war schon in Chile politisiert und es gab all die Leute, die in der Firma schon politisiert waren, was die Entstehung des Kollektivs ermöglichte, weil es Leute gab, die etwas dagegen tun wollten. Im Februar 2021 gab es dann einen Schneesturm. Also sehr, sehr schlechtes Wetter. Die meisten Lieferfirmen hatten ihren Betrieb eingestellt, weil es gefährlich war, draußen zu sein, und weil die Ausrüstung, die wir hatten, nicht für Schnee geeignet war. Die Fahrräder hatten nicht das, was ein Fahrrad haben muss, um bei Schnee sicher zu sein. Aber die Gorillas Manager sagten: „Wir sind so cool! Unsere Fahrer können alles!“ Und das ist ja auch ihr Marketing, dieses Super-Macho-Ding, dass wir so stark sind. Zu dieser Zeit gab es einen spontanen Streik, der an diesem Tag stattfand. Ich war zwar krankgeschrieben, aber ich hörte davon, und ich glaube, er wurde spontan von Freundesgruppen in den Lagern koordiniert, und sie beschlossen einfach, nicht zu arbeiten, weil es nicht sicher war. Und dann wurde das Unternehmen gezwungen, das zuzugeben und den Betrieb einzustellen. Und danach dachte ich: „Oh, das ist interessant! Es gibt hier Leute, die sich organisieren wollen.“

Kurz davor hatte jemand bereits einen offenen Brief an die Geschäftsführung geschrieben, der in den Lagern kursierte und in dem die Person die Probleme benannte und die Geschäftsführung aufforderte, zu sagen: „Hey, was können wir tun? Lasst uns zusammenarbeiten.“ Soweit ich mich erinnere, war der Brief nicht sehr angriffslustig. Und das Management war sehr „angetan“. Sie haben ihn so gut wie ignoriert. Aber ich erinnere mich, dass ich den Brief damals unterschrieben habe, weil ich dachte: „Okay, das ist cool“. Nach dem Streik während des Schneesturms kontaktierte ich die Person, die ich mit dem Brief gesehen hatte, und fragte: „Hey, triffst du dich irgendwo?“ Und ja, sie brachte mich zu dieser Gruppe. Und dann hatten wir in dieser Woche ein Treffen und das war das erste Treffen des Kollektivs. Wir waren, ich weiß nicht, vielleicht zehn Leute. Die meisten Leute, die an diesem Treffen teilgenommen haben, sind immer noch auf die eine oder andere Weise im Kollektiv. Es war auch jemand von der FAU dabei. Das ist auch sehr wichtig für mich zu erwähnen, denn mit ihrer Hilfe haben wir über das Thema Gewerkschaften und Arbeiter:innen nachgedacht. FAU ist offiziell keine Gewerkschaft, aber etwas in der Art. Der Kollege der FAU war es, der die meiste Unterstützung in Form von Wissen, Kontakten und Präsenz geleistet hat, womit wir uns sicher fühlen konnten. Das war jemand, der selbst aus Deutschland kam und sich mit dem Gesetz auskannte. Und so hat er uns sehr geholfen, das zu tun, was wir getan haben. Bei diesem Treffen sprach er über die Probezeit, über alles Mögliche und über all diese Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte, weil ich dachte: „Okay, ich nehme an, wir können uns hier gewerkschaftlich organisieren.“ Aber ich hatte keine Ahnung, wie das funktioniert und welche Risiken es gibt. Und ich wusste auch nicht, ob ich als Migrant überhaupt das Recht dazu habe. Bei diesem Treffen haben wir also eine Art Brainstorming gemacht: „Okay, das können wir tun. Lasst uns versuchen, eine Basis zu schaffen.“ Denn wir waren höchstens zehn Leute. Von da an versuchten wir, uns in regelmäßigen Abständen zu treffen, um zu sehen, wie wir das Ganze auf die Beine stellen können. Ja, so hat es im Grunde genommen angefangen.

LN: Was war euer erstes Ziel? Waren es die Lohnzahlungen oder wolltet ihr erstmal mehr Leute gewerkschaftlich organisieren?

Camilo: Am Anfang ging es darum, eine Liste mit Forderungen aufzustellen und unsere Probleme aufzuzeigen und uns darauf zu einigen, aber auch sicherzustellen, dass dieser Forderungskatalog einigermaßen repräsentativ ist für die tatsächlichen Probleme. Wir waren uns von Anfang an darüber im Klaren, dass dies einer der Hauptkonflikte war, den wir in unserem Kollektiv hatten. Denn es gab Leute, die sagten: „Wir wissen, was das Problem ist und was getan werden muss.“ Und es gab Leute, die sagten: „Wir wissen gar nicht, was das Problem ist. Wir müssen mehr tun. Wir müssen demokratischer vorgehen.“ Und das war immer eine gewisse Spannung. Ich glaube, es waren diese beiden Ziele, und wir dachten am Anfang, „Okay, wir wollen etwas tun, aber wir wissen, dass es nützlich sein könnte, aber wir wissen auch, dass wir eine gewisse Zugkraft brauchen, um das zu tun.“ Denn wenn du einfach zu einer Betriebsratswahl aufrufst, kann das Unternehmen das sehr leicht kapern. Bevor wir also zu einer Betriebsratswahl aufrufen, müssen wir eine Basis aufbauen. Das war also unsere erste Aufgabe, der wir zustimmten. Und dann begannen wir mit einer Sticker-Kampagne. Wir richteten einen Telegramm-Kanal ein, über den wir kommunizieren konnten, weil wir uns alle Gedanken darüber machten, wie wir das anonym tun könnten, weil wir alle noch in Probezeit waren. Wir konnten also nicht unsere Jobs riskieren und konnten nicht einfach in die Öffentlichkeit gehen und mit den Leuten reden. Wir mussten also ein bisschen diskreter sein. Also dachten wir uns diese Sticker-Kampagne aus. Auf dem Sticker gab es einen Link zum Telegram-Kanal, der anonym war. So konnten sich die Arbeitenden dort informieren und das Gefühl entwickeln, dass mehr Menschen über die Probleme sprechen, die sie und alle anderen auch haben. Wir brachten die Aufkleber auf den Toiletten an, was sich als ziemlich nützlich erwies, denn schnell kamen die ersten etwa 100 Leute, die der Gruppe beitraten. Die Leute dachten sich: „Okay, es gibt ein Kollektiv, es ist etwas los“. Auch wenn niemand wirklich wusste, wer Teil des Kollektivs war. Und das war auch ziemlich aufregend, muss ich sagen.

Kurz nachdem wir damit angefangen hatten, bestand unser erster Kampf mit dem Unternehmen darin, dass sie versuchten, einen von uns zu feuern. Es gab eine Person im Kollektiv, die sehr offen, ich würde sagen, sehr bekannt war. Die Theorie war also, dass er gefeuert wurde, weil er in dieser Gruppe Sachen gepostet hat. Es gab keinen Grund, ihn zu feuern. Er hat gute Leistungen erbracht. Er kam nie zu spät. Das einzig Falsche, was er getan hat, ist, dass er sich in den sozialen Medien gegen das Unternehmen geäußert hatte, was man natürlich tun kann. Dafür kann man niemanden feuern. Und da Gorillas so inkompetent sind, wie sie es schon immer waren, weil das Unternehmen eine Shitshow ist, wissen sie nicht wirklich, was sie tun. Sie haben den Entlassungsbrief falsch verfasst, es fehlte eine Unterschrift oder sie haben nicht angegeben, wer unterschrieben hatte. Unser Anwalt, den wir damals eingeschaltet hatten, sagte: „Hey, wir können das rückgängig machen.“ Und die Anfechtung war auch damit verbunden, dass wir den Prozess in Gang brachten. Obwohl wir keine Basis hatten, wollten wir die Person aus unserer Gruppe schützen, die entlassen werden sollte. Denn es wäre für uns alle eine Katastrophe gewesen, besonders für ihn. Also begannen wir mit dem Prozess und sagten uns: „Okay, wir sind dabei“. Und das gab uns auch die Möglichkeit zu sehen, wie so ein Prozess hier in Deutschland funktioniert. Wenn du den ersten Aufruf für die Versammlung für den Betriebsrat startest, bekommt der Wahlvorstand Immunität. Dann hast du drei Leute in der Gruppe, die sich mehr zu Wort melden können, und das ermöglicht uns auch, weiter zu wachsen. Und das ist dann so etwas wie das Hauptziel.

LN: Dass man Toilettentüren als Ausgangsort für Sticker und Organizingkampagnen nutzt, haben wir schon öfter gehört.

Camilo: Ja, absolut. Ich denke, die Toiletten sind ein wirklich guter Ort. Auf jeden Fall. Es ist irgendwie auch privat, also kannst du, wenn du es anonym machen willst, immer abstreiten, dass du es nicht warst. Und woher weiß der andere dann, dass ich es war? Spioniert er dir nach? Also, ich finde das ziemlich genial, ganz sicher. Es gab sogar einen Fall, bei dem es auch um die Toiletten ging, wo sie Kameras in den Umkleidekabinen angebracht haben und sagten: „Ja, wir wollten nur sicherstellen, dass nichts gestohlen wird.“ Aber im wahrsten Sinne des Wortes geht es darum, die Leute zu kontrollieren.

LN: Und was waren die nächsten Schritte? Du hattest bereits eine Situation während des Schneesturms erwähnt, wo ein spontaner Streik organisiert wurde. Welche Folgen hat das für deine Kolleg:innen und wie sah das mit den Probezeiten aus?

Camilo: Ja, wir hatten sie alle überstanden, alle von uns, oder die meisten von uns, was ein weiteres Argument dafür war, den Prozess zur Wahl des Betriebsrates schneller zu starten, weil ich denke, dass wir das Thema damit in gewisser Weise angehen konnten. Wir hatten alle befristete Verträge und die Art und Weise, wie wir vorgingen, war, dass wir das Unternehmen verklagten, weil wir den gleichen Mechanismus nutzten wie die meisten von uns: Wir unterzeichneten unsere Verträge auf digitalem Weg, aber ohne eine echte Unterschrift, was hier in Deutschland offenbar nicht rechtsverbindlich ist. Also haben wir später, als wir schon ein Logo und alles andere hatten, diese Kampagne ins Leben gerufen, um alle Dokumente von allen zu sammeln, die einen befristeten Vertrag absgeschlossen hatten, der dann vor Gericht angefochten werden konnte. Dadurch waren wir alle entfristet worden. Und wir haben zumindest die Mitglieder für den Wahlvorstand des Betriebsrates und einige der Leute, die wir in die Strategie einbinden konnten, entfristen können. Das war eigentlich ganz gut, weil wir vorher dachten: „Na ja, wir machen das alles, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass wir gefeuert werden.“ Wir werden bestimmt gekündigt, aber wenn du Teil des Betriebsrates bist, bist du vor Kündigung geschützt. Aber wenn dein Vertrag ausläuft, ist das nicht wirklich eine Kündigung. Es ist also eine Art juristischer Trick. Es wäre schön gewesen, wenn wir mehr Leute an Bord geholt hätten, um zu helfen. Aber es war immer schwer, die Leute zu erreichen und dazu zu bringen, sich ein bisschen mehr zu politisieren oder etwas für ihre Rechte zu tun. Ich glaube, das hat viel mit der Tatsache zu tun, dass wir Migrant:innen sind und meistens befristet. Viele sagen, dass sie sich nicht mit dem Etikett „Arbeiter“ identifizieren wollen. Sie sagen immer: „Ich werde keiner Gewerkschaft beitreten, ich werde nichts von alledem tun, weil ich bald wieder gehen werde.“ Das Argument, das wir immer hören, ist: „Wir wollen alle bald weg.“ Aber es ist trotzdem gut, sich zu organisieren. Und außerdem, ich weiß nicht, die Leute kommen aus unterschiedlichen Kontexten. Das gewerkschaftliche Organisieren ist  hier in Deutschland so etwas wie ein Teil des gesunden Menschenverstands. Ich meine, das ist keine radikale Sache, das ist auch ein Teil des Problems. Wir müssen die Gewerkschaften davon überzeugen, dass sie den Klassenkampf führen müssen. Aber in anderen Ländern, aus den die unterschiedlichen Kolleg:innen kamen, da ist das nicht so einfach, da ist es ein bisschen verpönt, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Das macht es auch schwer, die Leute zu erreichen.

Im nächsten Schritt ging es darum, die Betriebsratswahl zu organisieren, was viele, viele Schritte erforderte. Der erste Schritt war die Generalversammlung, bei der wir das erste Zelt aufstellten. Und das war ein ziemlicher Erfolg. Für mich war das einer der Höhepunkte des Kollektivs, weil wir wirklich gut organisiert waren. Wir hatten ein ganz klares Ziel vor Augen. Wir haben es geschafft, dieses große Veranstaltungszentrum zu bekommen und ich glaube, es waren etwa 300 Arbeitende, die kamen. Wir hatten auch mit dem Management zu kämpfen, wie es auch bei anderen Wahlen der Fall war, wenn sie den Prozess stören wollten. Und ja, all das ist passiert, aber wir haben es geschafft, den Wahlvorstand zu wählen und die meisten Leute aus dem Kollektiv dort rein zu bekommen. Jetzt waren wir also geschützt und konnten in der Öffentlichkeit aktiv werden. Und ich glaube, das hat die Menschen auch ein Stück weit gestärkt. Es herrschte ein gewisser Hype und auch das Gefühl, dass man gemeinsam etwas erreichen kann, und das sieht man auch, denn eine Woche danach brach dieser große Streik aus. Ich glaube, das lag an der Entlassung eines Riders, wenn ich mich richtig erinnere, und die Leute sagten: „Scheiß drauf, wir werden streiken, jetzt haben wir einen Wahlvorstand usw.“ Und ich glaube, das lag auch daran, dass wir Migrant:innen sind, also sagten wir: „Ihr könnt streiken, wir wissen nicht, wie die Regeln sind.“ Ich meine, wir gehen davon aus, dass wir gewählt wurden und alles in Ordnung ist. Ich denke, dass diese Naivität in gewisser Weise zu unseren Gunsten ausfiel. Ich würde nicht sagen, dass es nur Naivität war, aber ich denke schon. Und Wut auch. Ich habe erst hinterher gemerkt, dass es eine große Sache ist, so einen Streik zu machen, weil das anscheinend nicht etwas ist, was die Deutschen tun, zumindest war mir das nicht bewusst. Für mich war es einfach nur gesunder Menschenverstand, denn wenn die Arbeitsbedingungen nicht sicher sind oder du nicht für deine Arbeit bezahlt wirst, musst du natürlich streiken. Warum solltest du nicht? Und genau das ist dann auch passiert.

Es gab einen Streik. Ich denke, das ist ein weiterer Meilenstein in der Geschichte des Kollektivs, denn dadurch wurde das Kollektiv in der Stadt sehr, sehr sichtbar. Und dadurch ist unser Twitter-Account externer Link in die Höhe geschossen. Dadurch konnten auch andere Organisationen auf uns zukommen und sich mit uns solidarisieren, denn alles, was wir getan haben, haben wir nicht allein geschafft. Wie ich schon sagte, hatten wir die FAU, die uns während der Generalversammlung half. Wir hatten die NGG, die uns sehr geholfen hat, viel mehr als Ver.di und andere Basisorganisationen wie die Tech Workers Coalition externer Link , die uns sehr geholfen haben. Der nächste Schritt war dann die Organisation der eigentlichen Wahl für den Betriebsrat. Das hat einige Zeit gedauert, weil das Unternehmen uns viele Hürden in den Weg gelegt hat und uns die benötigten Informationen nicht zur Verfügung stellen wollte. Es dauerte lange, bis wir ein Büro bekamen, und sie verzögerten den Prozess einfach. Aber ich würde sagen, dass wir diese Zeit auch genutzt haben, um die Leute zu radikalisieren. Wir taten das unter dem Vorwand, dass wir die Wahl vorbereiten müssen. Das bedeutet, dass wir die Menschen politisieren müssen, damit sie für die Wahl bereit sind.

LN: Inwiefern war die Unterstützung der Gewerkschaften unterschiedlich?

Camilo: Also, erstens kam Ver.di erst auf uns zu, nachdem wir bekannt geworden waren. Davor gab es jemanden, der sagte: „Oh, vielleicht können wir eine Verbindung zu Ver.di herstellen.“ Ich erinnere mich, dass sie sagten: „Nein, wisst ihr, das ist nichts für uns.“ Ich kann mich noch an die Ausreden erinnern, die sie uns entgegenhielten, sie haben sich geweigert, uns auch nur ein bisschen zu helfen. Vielleicht drücke ich mich auch zu hart aus. Aber ich erinnere mich, dass es einen ersten Kontakt gab, der nicht fruchtbar war. Ich glaube, sie sagten so etwas wie: „Wir befassen uns nicht mit dieser Art von Themen, die zu niedrig sind.“ Aber die NGG half uns, obwohl sie eine kleinere Gewerkschaft ist, viel kleiner als Ver.di zu dieser Zeit. Außerdem waren wir bei ihnen, weil es sich bei den Gorillas um einen Gastrobetrieb handelte, der in ihre Zuständigkeit fiel. Sie waren da und das war hilfreich, insbesondere während der Versammlung. Ich erinnere mich, dass es eine Person gab, die das Protokoll geführt hat. Sie leistete einen Teil der rechtlichen, bürokratischen Unterstützung. Es kam mir nie so vor, als ob sie sich in den Prozess einmischen wollten. Sie waren eher beratend tätig. Sie sagten: „Okay, was braucht ihr?“

Natürlich hat jede Gruppe ihre eigene Agenda. Aber die Art und Weise, wie du mit der Gruppe sprichst, hat einen großen Einfluss auf dich. Im Fall von Ver.di haben sie auch ihre eigene Agenda. Aber die Art und Weise, wie was kommuniziert wurde, ist sehr, sehr von oben herab, sehr paternalistisch. Das kann natürlich auch mit der Person zu tun haben, die für unseren Fall zuständig ist. Aber von Anfang an war es so seltsam. Wir hatten den ersten Kontakt mit ihnen, als wir den Wahlvorstand bildeten und die Wahl organisierten. Und es gab immer diese Spannung, wer wem hilft, denn Ver.di sagte: „Wir sind kein Dienstleister. Ihr müsst Mitglied werden.“ Und dann haben wir gesagt: „Ja, natürlich, aber wir werden Mitglied, wenn es uns nützt, denn wozu sonst? Womit könnt ihr uns denn sonst helfen?“ Ich erinnere mich an ein erstes Treffen, zu dem sie uns eingeladen hatten, und wir schrieben ihnen und sagten: „Okay, lasst uns treffen, lasst uns reden und sehen, wie wir uns gegenseitig helfen können.“ Wir gingen in ihr Büro und sie setzten sich zu uns und fingen an, uns darüber zu belehren, wie man eine Wahl durchführt. Und wir sagten: „Dafür sind wir nicht hergekommen. Wir wissen schon, wie man das macht.“ Wir hatten schon ein paar Wochen vorher einen Workshop mit unserem Anwalt gehabt. Wir waren bereits in alle Feinheiten des Prozesses eingeweiht. Für uns war das Treffen mit Ver.di also ein politisches Treffen, bei dem es darum ging, was wir für sie tun können. Es war rein technisch, und zu diesem Zeitpunkt herrschte bereits eine gewisse Spannung. Wir dachten uns: „Wir verschwenden hier unsere Zeit mit diesen Leuten.“ Und das wiederholte sich so viele Male.

Ich glaube, das hat auch mit dem eher anarchistischen Charakter des Kollektivs zu tun, im Gegensatz zu Verdi, denn da waren schon Leute, die von Anfang an wussten, dass das nichts bringt. Ich war einer derjenigen, die sagten: „Lasst es uns versuchen, lasst uns mit ihnen reden.“ Aber nachdem ich mich einmal mit ihnen getroffen hatte, sagte ich mir: „Ihr habt recht. Es ist sinnlos.“ Ich erinnere mich an ein paar Konflikte, aber einer davon war sehr paradigmatisch und in gewisser Weise auch absurd: Sie wollten uns beim Druck von Flugblättern helfen, um die Arbeitenden zu motivieren, an der Wahl teilzunehmen und den Leuten zu erklären, worum es beim Betriebsrat geht usw. In dem Flugblatt weigerten sie sich aber das Kollektiv der Gorillas Arbeiter:innen anzugeben. Wir fragten: „Hey, warum habt ihr den Namen unseres Kollektivs nicht erwähnt?“ Und sie sagten: „Ja, weil wir wegen der wilden Streiks das Kollektiv nicht unterstützen dürfen.“ Aber sie wollten unseren Namen einfach aus der ganzen Geschichte löschen und sie konnten nicht verstehen, warum wir das ablehnen. Und wir haben so lange darüber diskutiert, was wir tun sollten. Wir dachten uns: „Das ist wieder einmal Zeitverschwendung“. Wir hätten die Flyer auch selbst machen können. Der Flyer sah sowieso schon sehr hässlich aus. Wir hätten das Geld auch woanders herbekommen können. Wir brauchten Ver.di dafür nicht. Wir brauchten Ver.di nicht, um uns von unserem Prozess auszuschließen. Das sorgte am Ende für eine Menge Spannungen mit ihnen. Soweit ich mich erinnere, bestand ihre größte Hilfe bei der Wahl darin, die Wahlkabinen zur Verfügung zu stellen. Ich weiß das zu schätzen, aber wenn man bedenkt, dass es sich um eine der größten Gewerkschaften des Landes handelt, ist das wirklich keine große Hilfe.

LN: Wir danken für das Interview!

  • Hörenswert dazu auch der Podcast von Democratize Work vom 9. September 2022 externer Link Audio Datei (engl.): „#20.2 Migrant Labour and Organizing in the Platform Economy“ – „Im zweiten Teil dieser zweiteiligen Folge mit Gabriella (Gorillas Workers‘ Collective) und dem Soziologen Dr. Moritz Altenried (Humbolt Universität Berlin) sprechen wir über die Herausforderungen und Chancen der Organisierung von Migrant:innen in der Plattformökonomie.“

Siehe zu Gorillas im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=206748
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