Tarifrunden seit Herbst 22: Reallohnverlust trotz Kampfkraft und Mobilisierung – die Lehren für kämpferische Gewerkschafter:innen

streik_statt_abschlussDie Tarifergebnisse seit Herbst 22 sind für alle großen Branchen sehr ähnlich. Als Gewerkschafter:innen müssen wir uns fragen, ob das Zufall ist. Wir müssen den Blick über den Tellerrand unserer Branche heben. Wir müssen uns fragen, ob die gewohnte Beurteilung von Tarifergebnissen so noch taugt. (…) Diese Art der Ergebnisdiskussion, die von allen Seiten die Frage der Kampfkraft ins Zentrum stellt, ist uns allen in Fleisch und Blut übergegangen, ja sie war im Grunde ein Teil des Tarifrituals geworden. Nach den letzten Tarifrunden müssen wir uns selbst eingestehen, dass wir als kämpferische Kolleg:innen oder als Gewerkschaftslinke darüber hinausgehen müssen, denn diese Tarifrunden waren einfach etwas anders…“ Erklärung vom 21. Januar 2024 externer Link („Bilanz der großen Tarifrunden: Reallohnverlust trotz Kampfkraft und Mobilisierung“) der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und mehr daraus/dazu:

  • Wende zu einer neuen Streikkultur? Weniger Forderungen werden durchgesetzt New
    „Noch in den 80er Jahren haben die hiesigen Gewerkschaften in den Tarifrunden im Schnitt etwa zwei Drittel der aufgestellten Forderungen durchgesetzt, allerdings damals schon mit abnehmender Tendenz. Seitdem ist die Anpassung der Gewerkschaftsführungen (und bedeutender Teile des jeweiligen Apparats) an die Standortpolitik vorangeschritten. Vor allem die weitere Bürokratisierung führte dazu, dass seit den 2000er Jahren größere Auseinandersetzungen mit dem Kapital oder der »öffentlichen Hand« noch strikter vermieden wurden. So sank die Durchsetzungsquote auf unter 50 Prozent. Schlimm wurde die Schockstarre, in die die Gewerkschaften mit der Pandemie gerieten. Und noch verheerender wirkte sich der Konfliktvermeidungskurs seit dem Anstieg der Lebenshaltungskosten ab 2022 aus. Seitdem verzeichnen wir in fast allen Sektoren einen beträchtlichen Reallohnverlust. Allein 2022 waren es nach offizieller Statistik 4,1 Prozent, seit Ausbruch der Pandemie summieren sich die Reallohnverluste auf insgesamt 12–14 Prozent. (…) Seit Jahrzehnten beklagen betriebliche Aktivist:innen und sektorenübergreifend die Gewerkschaftslinke, dass bei Tarifverhandlungen mehr herausgeholt werden könnte, wenn nur die Mobilisierung nicht so früh abgebrochen würde. (…) Welche Schlussfolgerungen aus den jüngsten Tarifrunden? 1. Es wäre töricht, aus den Erfahrungen der letzten Zeit abzuleiten, dass man sich gar nicht an diesen Mobilisierungen beteiligen sollte. In diesen Mobilisierungen werden wichtige Erfahrungen gesammelt und nur so lässt sich eine kritische Auseinandersetzung mit der gewerkschaftlichen Tarifpolitik vorantreiben. 2. Kritische Kolleg:innen und Betriebsgruppen müssen sich intensiver in die Forderungsdiskussion einmischen. Vor allem muss die Frage der Laufzeit systematisch thematisiert werden, denn lange Laufzeiten sind das Hauptmittel der Gewerkschaftsführungen, Verhandlungsergebnisse schönzurechnen. 3. Schlichtungsabkommen (vor allem bei Ver.di) müssen samt und sonders aufgekündigt werden, weil eine Schlichtung nur dazu dient, eine gut angelaufene Mobilisierung abzutöten. Die Streiktaktik muss von den Betroffenen (nicht von Hauptamtlichen) bestimmt werden, am besten mittels gewählter Streikkomitees. 4. Der Angriff auf das Streikrecht muss in einer breiten Front abgewehrt werden, ohne die Verantwortung der Industriegewerkschaften und der EVG zu verschweigen (so forderte die IGM-Vorsitzende Christiane Benner die GDL auf einzulenken, und hat damit das GDL-Bashing befeuert). Vor allem IGM und IG BCE waren es auch, die das gewerkschaftsschädigende Tarifeinheitsgesetz gefordert hatten. 5. Der Austausch unter kritischen Kolleg:innen und Betriebsgruppen muss in der Phase der Forderungsdiskussion und während des Verlaufs der Tarifrunde überörtlich breiter organisiert werden. Heute gibt es noch keine weithin anerkannte Struktur, die das zufriedenstellend bewerkstelligen kann. Einer der wenigen überparteilichen Ansätze ist die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG, vernetzung. org).“ Artikel von Jakob Schäfer aus Soz Nr. 04/2024 externer Link

  • Weiter aus der VKG-Erklärung vom 21. Januar 2024 externer Link mit einer Übersichtstabelle: „… Es gibt seit Jahren eine Entwicklung in den DGB-Gewerkschaften, dass die Basis aus dem Prozess der Forderungsdiskussion und – aufstellung herausgedrückt wird. Bei der IGM durften zum Beispiel  nur vorgegebene  Forderungsniveaus angekreuzt werden, wobei 8% das höchstmögliche war – zu dieser Zeit war das gerade die aktuelle Inflationsrate. Die Zeiten, als einfach jeder Vertrauensleutekörper seine Forderungen auf einer örtlichen Funktionärskonferenz präsentieren und diskutieren konnte, sind lange vorbei. Beim TV-L wurde diesmal eine neue Qualität erreicht. In GEW und ver.di wurden Diskussionen über die Forderungen zugunsten einer „Befragung“ abgesagt/verhindert (??).  Die dann von der Führung aufgestellte Forderung wurde in dieser Befragung nicht erwähnt, dann aber als „deren Ergebnis“ verkündet. Eine solche Art von gesteuerter „Diskussion“ erlaubte es der Führung, eine Forderung aufzustellen, die sie offensichtlich von vornherein beabsichtigt hatte. (…)
    Die steuer- und abgabenfreien Einmalzahlungen („Inflationsausgleichsprämie“) als bestimmendes Element für das jeweils erste Jahr der Tariflaufzeit bringen noch eine neue Qualität hinzu: Sie wirken sich für jedeN individuell unterschiedlich aus. Die Tatsache, dass aber in keiner Tarifrunde diese Einmalzahlungen gefordert oder bei der Forderungsaufstellung diskutiert wurde, obwohl gerade bei den Beschäftigten der Länder ja mit der Übernahme der Forderung von Bund+Kommunen klar war, dass die Übernahme des Ergebnisses angestrebt wird, zeigt noch mal mehr die tiefsitzende Verachtung der Gewerkschaftsführung für innergewerkschaftliche Demokratie. (…)
    Ein Überblick über die großen Tarifrunden zeigt, dass sich die Ergebnisse sehr ähnlich sind, der Verlauf der Tarifrunden aber extrem unterschiedlich. Zum zweiten enthalten alle steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen, meist in Summe von 3000.-€, etwas, was in keiner einzigen Tarifforderung auch nur ansatzweise aufgetaucht war. Drittens haben alle mit erheblich längerer Laufzeit als gefordert abgeschlossen. Die Tarifkämpfe, in denen für sich betrachtet, die gezeigte und entwickelbare Kampfkraft am wenigsten genutzt wurde, um einen Reallohnverlust zu verhindern, waren Metall- und Elektroindustrie, Post, TVÖD, Bahn(EVG) und Stahlindustrie. (…)
    Mehr Kampfkraft alleine hätte also dieses Ergebnis nicht verbessert, sondern nur schneller erreicht; Mit weniger Kampfkraft wäre vielleicht noch eine Runde Warnstreiks mehr nötig gewesen. Es reicht also nicht, wenn wir weiter über Kampfkraft und ihre Entwicklung reden, ohne zu verstehen, warum und wie dieser offensichtliche Zielkorridor für die Tarifergebnisse zustande kam und welche die Konsequenzen wir daraus ziehen müssen.
    Konzertierte Aktion
    Die Erklärung für den besonderen Verlauf der Tarifrunden finden wir in der „Konzertierten Aktion“, einem Treffen von Regierung, Arbeitgeber:innen-Verbänden und Gewerkschaftsspitzen. (…) Was die Kapitalvertreter:innen forderten, kann man sich leicht vorstellen – das was sie eh ständig und laut für sich reklamieren. Ob sie sich zu irgendwas verpflichteten, bleibt unklar. Auf jeden Fall bekamen sie etwas geschenkt, nämlich die Möglichkeit, jedem Beschäftigten 3000€ steuer- und abgabenfrei als Inflationsausgleich zu zahlen – statt diesen die dringend nötigen und von diesen stark eingeforderten Lohn- und Gehaltserhöhungen zuzugestehen. Die Gewerkschaftsspitzen haben das nicht nur zugelassen, sondern pro-aktiv unterstützt. Es gibt sogar Gerüchte aus der IG BCE, dass diese Idee von Seiten der IG Metall und IG BCE eingebracht worden sei. (…) Für ein angebliches Gesamtinteresse des Landes wurden ganz offensichtlich durchgehend flächendeckende Reallohnverluste vereinbart. Das ist eine Verschärfung der üblichen Sozialpartner:innenschaft, die sich vor allem in Unterordnung unter bestimmte Branchenbedingungen, unter konjunkturelle Erscheinungen oder unter die Krisen einzelner Betriebe zeigt. Das ist mehr als die gewohnte Zurückhaltung im Kampf, das war die geplante Akzeptanz und Umsetzung eines nationalen Krisenprogramms, das voll zugunsten der herrschenden Klasse geht (…) Dieses Ausbleiben einer solchen Bewegung ist letztlich der Grund für die massive Rechtswende in der Gesellschaft und auch in großen Teilen der Arbeiter:innenklasse. Statt Konzertierter Aktion hätte es eine von den Gewerkschaften angeführte Bewegung für „Brot, Heizung, Frieden“ geben müssen, um den Namen eines kleinen Versuches in diese Richtung zu benutzen. Letztlich müssen wir davon ausgehen, dass es für Regierung und Kapital bei der K.A. nicht nur um die Inflation ging, sondern darum, die Gewerkschaften in das Programm einzubinden, Deutschland in der globalen Konkurrenz mit den anderen Großmächten, USA, Russland, China usw. neu und aggressiver aufzustellen, aufzurüsten und Kriege vorzubereiten. Ob sie das wollten oder nicht, die Gewerkschaften sind da mit reingezogen worden.
    Die Mogelpackung
    Das Instrument für dieses Manöver war die steuer- und abgabenfreie Sonderzahlung. Die Regierung hat legalisiert, was normalerweise als Steuerhinterziehung und Sozialversicherungsbetrug schwer bestraft wird. Die Bosse haben sich gefreut. Die Gewerkschaften haben den Deal mitgemacht: Reallohnverzicht und Streikvermeidung für eine Einmalzahlung, die kurzfristig eine Geldklemme löst, aber nicht in tarifliche Sonderzahlungen (Urlaubs- und Weihnachtsgeld) eingeht, zukünftige Renten mindert, die Finanznot des Gesundheitswesens verschärft und von Menschen, die in der Folge Arbeitslosengeld, Elterngeld oder Krankengeld beziehen, zu 60 bzw 66% zurückgezahlt wird. Die Komplizenschaft der Gewerkschaftsspitzen wird deutlich daran, dass es kein einziges Stück Text gibt, das sich mit den Folgen dieser Zahlung auseinandersetzt. (…)
    Spätestens in der Metalltarifrunde war klar, wie das Strickmuster aussehen würde und in dieser Runde haben wir das auch thematisiert. Ab diesem Zeitpunkt hätten wir eine Kampagne über alle Branchen gebraucht unter dem Slogan: Tabelle statt Mogelpackung Einmalzahlung! Absage an die Konzertierte Aktion und ihre Ergebnisse! Verbunden mit einer breiten Aufklärungskampagne über die finanziellen Auswirkungen und Anträgen, Unterschriftensammlungen etc. gegen die Mogelpackung und für die Aufkündigung der Konzertierten Aktion. Wir hätten klarmachen müssen, dass eine erfolgreiche Tarifrunde nur möglich wird, wenn der Rahmen der K.A. durchbrochen wird. Sozialpartner:innenschaft hat einen sehr konkreten Inhalt gehabt und sehr konkrete Form angenommen. Sie war nicht ganz die Dimension der Zustimmung zur Agenda 2010, die uns einen massiven Niedriglohnsektor, Hartz4/Bürgergeld und eine endlose Zersplitterung der Tariflandschaft beschert hat, aber eine deutliche Steigerung über das übliche Niveau der Konfliktvermeidung und Klassenkollaboration. Wir hätten sie viel konkreter bekämpfen können und müssen. (…)
    Wir werden niemandem Ultimaten stellen und verlangen, dass man gegen den Krieg sein müsse, um in der Tarifrunde richtig kämpfen zu können. Aber wir müssen mit aller Deutlichkeit erklären, dass wir diese Tarifrunden verlieren sollten, damit die Steuerentlastungen und Subventionen für das Kapital und die Aufrüstung der Bundeswehr finanziert werden können…“

Siehe die angesprochenen Tarifrunden und Themen im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=217574
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