Digitalisierung: Begriffe besetzen, Fakten schaffen. Wie Unternehmen neue Technik in ihrem Sinne einsetzen

isw-Wirtschaftsinfo 52 vom 27. November 2017Begriffe wie „Agilität“, „Experimentierräume“ oder „digitale Labore“ werden von Unternehmensvertretern immer häufiger als „Sachzwang“-Vorwände genannt, um die Art des Einsatzes neuer Technik zu begründen. Agilität klingt nach Flexibilität – und scheint aus Sicht der Beschäftigten auf den ersten Blick keine Veränderung zum heutigen Stand zu sein. Es geht aber um mehr: Ziel ist eine grundlegende Umgestaltung der Arbeitsabläufe. (…) Ein enormer Aufwand wird betrieben, um die Digitalisierung im Sinne der Unternehmen voranzubringen. Unternehmensvertreter warten nicht auf Gesetzesänderungen – sondern setzen Veränderungen der Arbeitsbedingungen durch. (…) Übereifrige Beschäftigte oder unter Druck gesetzte Projektmitglieder verschicken Mails, Zwischenergebnisse und Arbeitsaufträge am Wochenende oder im Urlaub. Führungskräfte drängen auf eine Erreichbarkeit rund-um-die-Uhr. Diese bewusst erzeugten Verstösse gegen das Arbeitszeitgesetz werden dann als „Sachzwangargumente“ gegen Arbeitsschutzbestimmungen genutzt...“ Artikel von Marcus Schwarzbach vom 14.10.2018 – wir danken!

Digitalisierung: Begriffe besetzen, Fakten schaffen

Wie Unternehmen neue Technik in ihrem Sinne einsetzen

Begriffe wie „Agilität“, „Experimentierräume“ oder „digitale Labore“ werden von Unternehmensvertretern immer häufiger als „Sachzwang“-Vorwände genannt, um die Art des Einsatzes neuer Technik zu begründen.

Agilität klingt nach Flexibilität – und scheint aus Sicht der Beschäftigten auf den ersten Blick keine Veränderung zum heutigen Stand zu sein. Es geht aber um mehr: Ziel ist eine grundlegende Umgestaltung der Arbeitsabläufe. „Bei agilen Unternehmen handelt es sich um Unternehmen, die eine möglichst hohe Beweglichkeit anstreben, um schnell auf Veränderungen von Gesellschaft, Technik und Kundennachfrage reagieren zu können. Dafür gilt die Überführung von hierarchischen Strukturen in bedarfsorientierte, selbstorganisierte Projekt- und Netzstrukturen als zentrale Voraussetzung“, so definiert die Kommission »Arbeit der Zukunft“ der Hans-Böckler-Stiftung den Begriff (Kerstin Jürgens / Reiner Hoffmann „Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission »Arbeit der Zukunft«“, Seite 149)

Eine Studie der Haufe Akademie macht die Entwicklung deutlich. Die Mehrheit der Befragten (77 Prozent) gibt an, heute schon in einem Unternehmen zu arbeiten, das sie als eher selbstgesteuert wahrnehmen (Studie „Smart Workforce – Arbeitswelten der Zukunft“, siehe www.haufe.de/personal/hr-management/agile-organisation-mitarbeiter-sollen-ans-steuer_80_366806.html externer Link). Das reicht aber aus Sicht von Großkonzernen nicht aus: „Warum ein Konzern agil sein muss wie ein Start-up“, überschreibt etwa das Capital Magazin ein Interview mit der Vorstandsvorsitzenden von Nestlé Deutschland, Béatrice Guillaume-Grabisch. „Wenn wir mit der Veränderungsgeschwindigkeit nicht mithalten oder als Großkonzerne die Agilität der Start-ups nicht in unsere Struktur integrieren können, dann werden wir einige große Chancen verpassen“, suggeriert die Firmenchefin eine Form der „Alternativlosigkeit“  (Warum ein Konzern agil sein muss wie ein Start-up , www.capital.de/karriere/nestle-beatrice-guillaume-grabischwarum-ein-konzern-agil-sein-muss-wie-ein-start-up externer Link).

Selbst bei Gewerkschaftsvertretern finden diese Ansätze Zustimmung. „Während Managementmethoden wie Zielvereinbarungen und indirekte Steuerung meist eine Arbeitsintensivierung verursachen, bietet Agilität das Potenzial für nachhaltige, gute Arbeit“ argumentiert Nadine Müller von der ver.di-Bundesverwaltung (Zeitschrift GUTE ARBEIT, Sonderausgabe 9-2018, Seite 33, siehe  https://innovation-gute-arbeit.verdi.de/++file++5b8949cbf1b4cd0e9725f1de/download/verdi_sonderausgabe_gute_arbeit_2018_onlineversion.pdf externer Link ).  „Je konsequenter agile Methoden umgesetzt sind – vor allem je mehr die Beschäftigten über zeitliche Ressourcen verfügen –, umso größer sind die Möglichkeiten zu selbstbestimmtem Arbeiten und desto geringer sind die Arbeitsbelastungen“, behauptet Müller, Referentin im Bereich „Innovation und Gute Arbeit“ der ver.di-Bundesverwaltung  ist. In den Betrieben sieht es anders aus. Denn eine Verdi-Studie verdeutlicht, dass die Beschäftigten „ihre Arbeitsintensität als insgesamt problematisch“ einschätzen, so Müller. „Fast zwei Drittel der agil Arbeitenden machen Überstunden. Mit dem Umfang der Mehrarbeit nehmen die Belastungen zu. Mit der Anzahl der Überstunden steigt der Anteil der Beschäftigten, die ihre Arbeitszeit in den Abend ausweiten“.

Experimentierräume

Zunehmend sprechen Unternehmensvertretern von „Experimentierräumen“ oder „Experimentierklauseln“: Ein wichtiges Element sollen „digitale Labore“ sein, neudeutsch „digital Labs“ genannt. „Orientiert an Erfahrungen der Startup-Szene werden damit »unternehmensinterne Denkfabriken« bezeichnet, in denen kreative Freiräume für unternehmensinterne Mitarbeiterteams geschaffen werden“, erläutert der Management-Berater Ernst Tiemeyer in der Zeitschrift „Computer und Arbeit“ Ausgabe 3/2017. Wichtig sei, „das richtige Bewusstsein im Unternehmen zu schaffen“. Zusammengesetzte Teams mit kreativen Beschäftigten, die aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen kommen – etwa Anwendungsentwickler und Produktdesigner – sollen „unbelastet von zentralen Unternehmenszwängen Ideen für neue Geschäftsmodelle und innovative digitale Produkte entwickelt werden, die für die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens erfolgreich nutzbar sind“.

„Grundvoraussetzung für die Transformation“ in die digitale Arbeitswelt seien „Freiräume für Experimente“, fordern Unternehmensvertreter von Bertelsmann, Beiersdorf, BMW, Bayer-Konzern, Münchener Rückversicherung, Telekom und TUI in einem Positionspapier (siehe: Arbeit in der digitalen Transformation, http://www.acatech.de/fileadmin/user_upload/Baumstruktur_nach_Website/Acatech/root/de/Publikationen/acatech_diskutiert/170609_DISKUSSION_HR-Kreis_WEB.pdf externer Link ).

Erfolgreich werden diese Neuerungen nur, indem „Experimentierräume  im  Sinne  kontrollierter  Veränderung“ durchgesetzt werden. „Zielgruppenorientierte Experimentierräume ermöglichen es,  eine  passgenauere  Mitbestimmungskultur  zu  entwickeln  und  tarifliche  oder  gesetzlich  formulierte  Öffnungsbereiche  zu  schaffen. Dies gilt als Voraussetzung zum Erproben alternativer Mitbestimmungswege“.

Innovationen setzen „Experimente“ voraus, betont ebenfalls der Autor von „Das Silicon Valley Mindset”, Mario Herger: Bisherige Innovationen wurden „vor allem von Experten durchgeführt. Von Spezialisten, die sich in der Materie sehr gut auskennen und sie optimieren können“. Er setzt „disruptive Innovation“ dagegen. Diese wird „von Nichtexperten geschaffen und überrascht deshalb oft die eigentlichen Experten. Weil sie gut erklären können, warum etwas nicht klappen wird, sind die völlig verblüfft, wenn jemand einen kombinierten, innovativen Ansatz hat, der die Rahmenbedingungen ändert. Darum werden diese Ansätze von den Experten so lange ignoriert, bis es zu spät ist“ (http://econlittera.bankstil.de/das-silicon-valley-mindset-was-wir-vom-innovationsweltmeister-lernen-und-mit-unseren-staerken-verbinden-koennen-von-dr-mario-herger externer Link).

Fakten schaffen – im betrieblichen Alltag

Ein enormer Aufwand wird betrieben, um die Digitalisierung im Sinne der Unternehmen voranzubringen. Unternehmensvertreter warten nicht auf Gesetzesänderungen – sondern setzen Veränderungen der Arbeitsbedingungen durch. Smartphones werden als Diensthandys eingesetzt, firmeninterne Kommunikationssoftware nicht mehr nur ins Intranet gestellt, sondern für das Internet freigeschaltet. So wird ständige Erreichbarkeit gefördert und erzwungen. Übereifrige Beschäftigte oder unter Druck gesetzte Projektmitglieder verschicken Mails, Zwischenergebnisse und Arbeitsaufträge am Wochenende oder im Urlaub. Führungskräfte drängen auf eine Erreichbarkeit rund-um-die-Uhr. Diese bewusst erzeugten Verstösse gegen das Arbeitszeitgesetz werden dann als „Sachzwangargumente“ gegen Arbeitsschutzbestimmungen genutzt.

Ein Projekt der Firma innogy mit dem Titel „Orts- und zeitunabhängiges Lernen ermöglichen“ loben Kapitalvertreter im Positionspapier „Arbeit in der digitalen Transformation“ besonders:  „Im Selbststudium oder im Austausch mit anderen haben die Beschäftigten die Möglichkeit, flexibel zu lernen – etwa im Moment des Bedarfs, unabhängig von Ort und Zeit; dies bringt große Vorteile für sie mit sich“. Denn „mit der zunehmenden Verflechtung von Arbeit und Freizeit“ (!) sollen „Möglichkeiten orts- und zeitunabhängigen Lernens“ gefördert werden (siehe http://www.acatech.de/fileadmin/user_upload/Baumstruktur_nach_Website/Acatech/root/de/Publikationen/acatech_diskutiert/170609_DISKUSSION_HR-Kreis_WEB.pdf externer Link ). Dass gerade die Verschmelzung von Arbeit und Privatleben zu krankmachende Arbeitsbedingungen führt, wird ignoriert.

Die Unternehmensvertreter zeichnen dagegen „ein positives Bild der zukünftigen Arbeitswelt: Wenn wir die Chancen der Digitalisierung nutzen, sichern wir Wohlstand und Beschäftigung in Deutschland“. Andererseits „hemmt Überregulierung häufig die gebotenen Veränderungen“. Dazu müssen aber die Rechte der Beschäftigten beschnitten werden. „Neue, dem gesellschaftlichen Wandel angepasste Regelungen zu Höchstarbeitszeit, Mindestpausen, Ruhezeiten sowie Arbeit an Sonn- und Feiertagen sollten größere Freiräume zur Gestaltung der Arbeit schaffen“, so die Forderungen.

Auch andere Unternehmen propagieren dieses Vorgehen. Joachim Ritter, 1&1 Internet SE, erklärt, „dass Agilität in unserem kaum planbaren Kontext vor allem experimentellen Freiraum benötigt“(in Häusling, Agile Organisationen, Haufe Fachbuch, 2018 Seite 246)

Unternehmer-Wunsch von Wissenschaft und Bundesregierung aufgenommen

Die im Positionspapier formulierten Erwartungen des Kapitals werden von Regierungspolitikern und Wissenschaftlern aufgenommen. Rechtzeitig vor der Bundestagswahl hat die damalige Bundesarbeitsministerin Nahles eine „Experimentierklausel“ in den Bundesanzeiger aufnehmen lassen. Danach kann vom Arbeitszeitgesetz verschlechternd abgewichen werden. Voraussetzung für dieses Unterlaufen des Gesetzes soll die Zustimmung der Tarifvertragsparteien und des Betriebsrats sein, gleichzeitig wird eine wissenschaftliche Begleitung verlangt („Zukunftsfähige Unternehmen und Verwaltungen im digitalen Wandel“, siehe: http://t1p.de/Richtlinie-Bundesanzeiger externer Link ). Der Druck auf Gewerkschaften und Betriebsräte wird in den nächsten Monaten zunehmen. In Österreich haben FPÖ und ÖVP den 12-Stundentag beschlossen.

Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat „dazu aufgerufen, mehr Anstrengungen in einen durchgreifenden digitalen Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft zu unternehmen“ (https://www.bundestag.de/hib#url=L3ByZXNzZS9oaWIvLS81NDg0NzA=&mod=mod45459 externer Link), meldet der Bundestag. Es gehe um mehr als nur die Frage nach einer modernen Infrastruktur, sagt der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Christoph M. Schmidt. Er empfiehlt, eine Digitalisierungskommission einzusetzen, die „innovationshemmende Regulierungen auf den Prüfstand“ stellen und „Anregungen für eine innovationsfreundlichere Gesetzeslage in Deutschland“ geben soll (http://docplayer.org/67726084-Fuer-eine-zukunftsorientierte-wirtschaftspolitik-jahresgutachten.html externer Link).

Marcus Schwarzbach, Berater für Betriebsräte, am 14.10.2018 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=138764
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