Die neue „Working Class“: „Sie strampeln sich wahnsinnig ab, aber sie kommen nie auf die sichere Seite“

Niedriglohn: Habe Arbeit, brauche Geld„Zur neuen „Working Class“ zählt die Journalistin Julia Friedrichs Menschen, die alleine von ihrem Arbeitsnetto leben und nicht in der Lage sind, Rücklagen aufzubauen. In Deutschland seien das ungefähr 50 Prozent der Arbeitenden, sagte Friedrichs im Dlf. Sie warnt vor fatalen Folgen für die Gesellschaft. (…) Vielen jüngeren Menschen geht es sogar heute schon wirtschaftlich schlechter als den eigenen Eltern. Zu diesem Schluss kommt die Journalistin und Autorin Julia Friedrichs in ihrem Buch „Working Class“, Untertitel: „Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“. Dazu begleitete Friedrichs Menschen in Deutschland, die sich trotz Arbeit ihr Leben kaum leisten können oder zumindest nicht in der Lage sind, Rücklagen aufzubauen. (…) Die neue „Working Class“ seien Menschen, die dies gerade nicht könnten. Sie arbeiteten oft in Dienstleistungsberufen, seien oft Frauen und oft auch Menschen mit Migrationsgeschichte – insgesamt „eine sehr vielfältige und diverse Gruppe“. Dazu zählten etwa 50 Prozent der Menschen, die in Deutschland arbeiten. (…) Um Gegenzusteuern bedürfte es nach Ansicht von Friedrichs nicht nur höherer Löhne und ein anderes Steuersystem, sondern auch „ein Anerkennen, dass bestimmte Berufe notwendig“ seien, die dann auch entsprechend bezahlt werden müssten – „sei es in der Reinigung, sei es in der Pflege oder bei den Kassiererinnen – ich glaube, die Liste ließe sich noch sehr, sehr lange fortführen.“ Julia Friedrichs im Gespräch mit Änne Seidel beim Deutschlandfunk am 1. Mai 2021 externer Link Audio Datei (Audiolänge: ca. 9:30 Min.) und mehr dazu:

  • Working Class: Die Wohlstandsillusion New
    Es ist die deutsche Variante des „American Dream“, das Versprechen an die Kinder „Ihr sollt es einmal besser haben.“ Allein: Es trägt in vielen Fällen nicht mehr. Journalistin Julia Friedrichs hinterfragt in ihrem Sachbuch „Working Class: Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“ die Wohlstandsillusion.
    Julia Friedrichs interviewte Experten aus der Wissenschaft und Politik, Reinigungs- und Lehrkräfte sowie Büromenschen. Alle kämpfen, um ihr Überleben zu sichern. Die Generation nach den Babyboomern ist die erste nach dem Zweiten Weltkrieg, die ihre Eltern mehrheitlich nicht wirtschaftlich übertreffen wird. Obwohl die Wirtschaft ein Jahrzehnt lang wuchs, besitzt die Mehrheit in diesem Land kaum Kapital, kein Vermögen. Doch sich Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten, ist schwieriger geworden, insbesondere für die junge Generation. Die Hälfte von ihnen fürchtet, im Alter arm zu sein. Für Essay und Diskurs setzt Julia Friedrichs den Fokus ihrer gesellschaftlichen Studie auf die Frage: Was macht das mit Menschen, die an den Aufstieg durch Arbeit glaubten, wenn sie merken, dass für sie gilt: Wir werden es einmal schlechter haben? Und was genau hat sich in den letzten Jahrzehnten zu Ungunsten der „Working Class“ verschoben?…“ Text und Podcast (ca 30 min) von Julia Friedrichs am 30.01.2022 in der Sendung „Essay und Diskurs“ beim Deutschlandfunk externer Link Audio Datei und darin:
    „… Heute schaffen Arbeiter nicht mehr unter Tage, nur selten in der Fabrik am Fließband. Sie reinigen, sie unterrichten, sie schleppen Pakete die Treppe hinauf und Schmutzwäsche wieder hinunter, sie sitzen an der Supermarktkasse oder füllen Regale. Sie verlegen schnelles Internet und antworten an der Hotline. Sie pflegen Opa oder uns, wenn wir krank sind.
    Die Working Class ist vielfältig geworden, weiblicher, migrantischer, eher in Dienstleistungsberufen angestellt, aber noch immer gilt: Es sind Menschen, die arbeiten, um Geld zum Leben zu haben. Menschen, die keine Unternehmensanteile halten, über keine Mietshäuser verfügen, keine Erbschaften erwarten. Menschen, für die es heißt: Nettoeinkommen gleich Monatsbudget. (…) Deren Aufstiegschancen sind seit 1995 gesunken. Im „Broken Elevator“ hängt die Working Class fest, auf der Rolltreppe rennt sie, um sich zu halten.
    Soweit der abstrakte Befund. Dahinter aber verbergen sich viele einzelne, gar nicht abstrakte Leben. Menschen, die Pläne hatten, die bisher nicht aufgingen. Hoffnungen, die sich noch nicht erfüllen. Dahinter stecken die großen, fast philosophischen Fragen, wie die nach dem Wert der Arbeit und wer ihn bemisst. Und die, die sich jeden Morgen stellen: Wie motiviert man sich eigentlich, weiterzumachen, wenn man doch weiß, dass all die Anstrengung einen vermutlich nicht die Rolltreppe hinauf tragen wird? (…) David Graeber, der 2020 viel zu früh verstorbene Ethnologe an der London School of Economics, schrieb in seinem Buch Bullshit-Jobs: „Angenommen, wir würden alle eines Morgens aufwachen und feststellen, dass nicht nur Krankenschwestern, Müllarbeiter und Mechaniker verschwunden sind, sondern dass auch Busfahrer, Lebensmittelverkäufer, Feuerwehrleute und Schnellrestaurantköche in eine andere Dimension transportiert wurden: Die Folgen wären katastrophal.“
    Nicht ganz klar dagegen sei, ob die Welt leiden würde, wenn alle Private Equity Manager, Marketingexperten, Versicherungsfachleute oder Telefonverkäufer verschwänden. „Aber gerade dort arbeiten vielfach die Menschen, die besonders hohe Gehälter beziehen.“ Und von denen einige zudem auf die, die sie auf die unterschiedlichste Art umsorgen, herabblicken. Dass Saits Arbeit notwendig und sinnvoll ist, ist unstrittig. Dass er sie – auch ohne Studium – ordentlich und zuverlässig erledigt auch. Warum also soll jemand wie Sait keinen Anspruch darauf haben zu hoffen, dass er auf diese Arbeit ein sicheres, ein gutes Leben bauen kann? Eine Generation zuvor war das noch möglich. Sogar für Ungelernte. (…) Die Ursachen sind zahlreich. Es gibt nicht den einen Grund. Sondern, fatalerweise eine ganze Reihe von Hindernisse, die sich vor den Jüngeren der Working Class auftürmte, als sie ihren Aufstieg versuchten.
    Einige sollen hier schnell mit einem Schlagwort beschriftet werden: Globalisierung. Deregulierung, der Aufstieg des Finanzkapitalismus. All das spürte auch die Working Class. Firmenteile wurden verlagert, Belegschaften im Land unter Druck gesetzt. Die Löhne der unteren 40 Prozent stiegen – inflationsbereinigt – über mehr als zwei Jahrzehnte kaum. Gewerkschaften schwächelten. Sozialdemokratische Parteien auch. Und Ökonominnen versprachen, dass der Reichtum quasi automatisch nach unten durchsickern würde, wenn man die, die ohnehin schon viel haben, nur steuerlich entlaste.
    Ein weiteres Hindernis, das die Treppe für die Jüngeren blockiert, wird selten erwähnt. Wohl auch, weil es keine fernen Mächte wie die Superreichen der Welt oder Spitzenpolitiker dort platziert haben, sondern die, die einem weitaus näher sind: ältere Kolleginnen, der Betriebsrat, die eigenen Eltern. Manche nennen die Generation derer, die jetzt um die 70 sind, die goldene Generation. Wer im Westdeutschland der Nachkriegsjahre geboren wurde, war aus wirtschaftlicher Sicht immer zur richtigen Zeit in der richtigen Lebensphase. Im Alter ist diese Generation so wohlhabend wie keine Kohorte vor ihr – und vermutlich so gut versorgt, wie auch keine nach ihr…“
  • „Working Class: Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben“ von Julia Friedrichs erschien im März 2021 im Berlin Verlag externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=189716
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