Rezension von Robert Becker: Abgruppiert! Roman aus der Arbeitswelt

Robert Becker: Abgruppiert! Roman aus der ArbeitsweltRezension von J.-F. Anders vom März 2015 zu Robert Becker: Abgruppiert! Roman aus der Arbeitswelt

Arbeiter als Schreiber und als Thema von deutschsprachigen Gegenwartsromanen haben Seltenheitswert – zuletzt vermutlich gab es das in der BRD in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Da gab es mal den „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ und seine Publikationen. Aber seit 2015 gibt es wieder einen deutschen Gegenwartsroman, der von Arbeitern und Arbeiterinnen in einem mittelständischen Industriebetrieb handelt: Robert Becker: Abgruppiert! Roman aus der Arbeitswelt, 240 Seiten, Books on Demand (BoD), Norderstedt, 2015, 8, 99 Euro (s.u.)

Über den Autor:

Hier schreibt ein Autor, der sich in seinem Thema – der heutigen industriellen Arbeitswelt – wirklich auskennt, der sich nicht nur mal kundig gemacht hat, sondern der im Werkzeugbau offenbar wirklich Bescheid weiß (über Spritzgusswerkzeuge für Kunststoffräder, über Fräsarbeiten, Bohrungen, Schleifen und Erodieren) – und der darüber hinaus ein genauer Beobachter von betrieblichen Gruppenbeziehungen und ihren Entwicklungen aus der Sicht >von unten< ist.

Inhalt des Buchs

Der Erzähler Robert Becker, Metallfacharbeiter in einem mittelständischen hessischen Industriebetrieb, legt mit seinem Buch sein Tagebuch vor: „betriebliche Aufzeichnungen“ nennt er es. Tatsächlich sind es nicht nur betriebliche Aufzeichnungen, gelegentlich sind sie eher privater – familiärer – Natur. Aber im Wesentlichen sind es betriebliche Aufzeichnungen darüber, was sich an seiner neuen Arbeitsstelle 11 Monate lang aktuell abspielte.

Das zentrale Thema ist die Abgruppierung großer Teile der Belegschaft, d.h.: Die Arbeitsplätze werden „neu bewertet“ – mit dem Ergebnis, dass die Betroffenen monatlich mehrere hundert Euro weniger in der Tasche haben.

Ort des Geschehens ist ein mittelständischer Industriebetrieb, der nicht tarifgebunden ist, in dem kein Flächentarifvertrag gilt oder ein Haustarif existiert; in dem es keinen Betriebsrat gibt (ein früherer Versuch, einen Betriebsrat zu gründen, war durch die Geschäftsleitung erfolgreich sabotiert worden); in dem nur ein geringer gewerkschaftlicher Organisationsgrad besteht: „Die Gewerkschaft bekommt hier kein richtiges Bein an die Erde. Sie waren auch schon seit vielen Jahren nicht mehr auf einer Betriebsversammlung hier im Haus. Kein Wunder: Wie mir Manfred erzählt hat, gibt es nur alle Schaltjahre mal eine Versammlung, und die ist von der Geschäftsleitung einberufen, um den Leuten von der schwierigen Geschäftslage zu erzählen und ihnen bestenfalls noch ein frohes Fest zu wünschen.

Dieser Betrieb hat eine knallharte Geschäftsleitung, die mit allen Mitteln versucht, die Belegschaft einzuschüchtern: „Die Chefs sind ganz rabiat. Der Uwe hat jetzt schon eine Abmahnung“ – wegen „Störung des Betriebsfriedens“ durch die >beleidigende< Äußerung, dass die Leute „systematisch minderbewertet werden“ und dass sich die Firma auf Kosten der Leute eine goldene Nase verdient.

Und die Belegschaft dieses Industriebetriebs?: „ein bunter Haufen – verschiedene Grüppchen“, zum größeren Teil eingeschüchtert und ängstlich. „Wahrscheinlich hat jeder Angst, dass er bei einer Neubewertung der Arbeit Geld verliert.“ „Jeder hofft, dass der Kelch der Abgruppierung an ihm vorbeigeht. Diejenigen, die dabei nicht schlechter abschneiden als vorher, werden keinen Finger für die anderen krumm machen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Hohen Herren werden nicht so dumm sein, alle abzugruppieren.“

Die Belegschaft ist eingeschüchtert. Trotzdem werden „die Leute immer stinkiger…, weil das Geld nicht stimmt und kein einziger Weiterbildungslehrgang genehmigt wurde.“ Aber auch die Engagierteren wissen nicht, was sie sagen oder tun sollten.

„Abgruppiert!“ lässt den Leser/die Leserin nun detailliert miterleben, wie die Belegschaft mit dem Reallohnabbau umgeht; wie die Geschäftsleitung vorgeht; welche Schwierigkeiten die Belegschaft hat, sich dagegen zu wehren; und wie unterschiedlich die Kolleginnen und Kollegen sich verhalten.

Ein wesentlicher Teil des Buches sind die (häufig auf hessisch geführten) Gespräche, in denen sich nicht nur die Individualität der jeweils Sprechenden zeigt, sondern darüber hinaus auch klassische Argumentationsmuster deutlich werden.

Sichtbar gemacht wird vom Autor mit diesem Roman ein Lernprozess nicht nur Einzelner, sondern einer ganzen Belegschaft.

Und wie es in diesem mittelständischen Industriebetrieb tatsächlich gelingt, Kampfkraft zu entwickeln, das zeigt Robert Becker im Fortgang seiner „betrieblichen Aufzeichnungen“.

Doch nicht nur das zeigt er: Ganz deutlich wird auch die Gefahr von Rückschlägen und des gänzlichen Scheiterns – durch Unerfahrenheit, Naivität, Ratlosigkeit oder durch unbedachte Aufmüpfigkeit – der (meist nur wenigen) aktiven Kollegen bzw. Kolleginnen.

Warum das Buch wichtig ist

Die Leistung dieses “Romans aus der Arbeitswelt“ ist: Man gewinnt Einsichten, wie Entwicklungen in einer Belegschaft eines Industriebetriebs ablaufen, wie Mutlosigkeit, Resignation, Arschkriecherei und Machtlosigkeit herbeigeführt und aufrechterhalten werden; wie schwierig es ist, selbst kleinste Erfolge zu erzielen, und warum immer wieder Rückschläge drohen; aber eben auch: wann und wodurch Erfolge möglich werden.

Wo das Buch erschienen ist

Aufschlussreich ist übrigens, wie ich finde, in was für einem Verlag dieser Roman erschienen ist – nämlich nicht in einem Literatur-Verlag. Zu vermuten ist – leider – dass kein deutschsprachiger Literaturverlag bereit war, diesen Roman herauszubringen. Literatur über die heutige Arbeitswelt aus der Perspektive der Arbeitenden, so aufschlussreich und gut geschrieben sie auch immer sein mag, hat aktuell vermutlich keine Chance, in einem literarischen Verlag veröffentlicht zu werden.

Was dem Buch zu wünschen ist

Mit dem Ende des Buches ist die Geschichte dieses Kampfs einer Belegschaft sicherlich nicht zu Ende. Zu vermuten ist, dass die Probleme für die Belegschaft durchaus noch massiver werden – sowie sich die politischen bzw. ökonomischen Rahmenbedingungen ändern und wenn die Geschäftsleitung ihre Vorgehensweise gegen die Belegschaft ändert. Ich hoffe: das LeserInnen-Interesse an diesem Roman ist so groß, dass sich Robert Becker veranlasst fühlt, eine Fortsetzung seiner „betrieblichen Aufzeichnungen“ über die Arbeitswelt >von unten< zu veröffentlichen.

  • Siehe zum Buch: Abgruppiert: Roman aus der Arbeitswelt
    Robert Becker
    ISBN      3738672885, 9783738672886
    BoD – Books on Demand externer Link, 09.02.2015 – 244 Seiten
  • Siehe auch: Kampffeld Firma – „Abgruppiert!“ von Robert Becker
    „„Schon nach wenigen Tagen an meinem neuen Arbeitsplatz muss ich sagen: ‚Hier geht es ja genau so weiter, wie es in der alten Firma aufgehört hat.’“ – so beginnt das Betriebstagebuch von Robert Becker: „Abgruppiert! Roman aus der Arbeitswelt“. Selbstverlag 2015. Arbeitswelt? Das klingt wie fremde Welt und anderer Stern. „Arbeiterroman“ war ein gescheitertes Projekt der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Der staatlich geförderte „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ veröffentlicht jetzt hauptsächlich Todesnachrichten und Nachrufe…“ Besprechung von Wal Buchenberg im Karl-Marx-Forum externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=76587
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