Gleiche Arbeit in weniger Zeit? Wer Arbeitszeit verkürzen will, muss auch den Leistungsdruck begrenzen

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitDie Forderung nach Arbeitszeitverkürzung zählt unter Linken innerhalb wie außerhalb von Gewerkschaften seit jeher zu den ehrenwertesten Anliegen. Gewerkschaftslinken steht sie für eine Tarifpolitik, die nicht bloß mehr vom Gleichen anstrebt, sondern ein anderes, besseres Leben: Alle sollen in die Lage versetzt werden, ihre Interessen und Fähigkeiten in ihrer Vielseitigkeit zu entwickeln, allen soll es möglich sein, ein Leben in Würde zu führen (Negt 1984). In feministischen Diskussionen gilt die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit als Voraussetzung für eine gerechte Verteilung der Haushalts- und Sorgearbeiten jenseits des Betriebs. (…) Wer Kolleg:innen für den Kampf um Arbeitszeitverkürzung gewinnen will – und wie sonst sollte sie durchzusetzen sein? – muss also auch sagen können, wie der Arbeitsverdichtung Einhalt geboten werden kann. Die verbreitete Forderung »Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich« bleibt an der Oberfläche. Welche Möglichkeiten, Leistungsbemessung zu beeinflussen und Leistungsdruck zu reduzieren, stehen Beschäftigten, Betriebsrat und Gewerkschaft zur Verfügung? (…) Umzusetzen wäre das über Tarifverträge, die die Festlegung eines zumutbaren Arbeitspensums und einer entsprechenden Brutto-Personalbemessung in Betriebsvereinbarungen regeln…“ Artikel von Stefan Schoppengerd in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 9/2021 am Beispiel der Entlastungsbewegung in den Krankenhäusern:

Gleiche Arbeit in weniger Zeit?

Wer Arbeitszeit verkürzen will, muss auch den Leistungsdruck begrenzen

Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung zählt unter Linken innerhalb wie außerhalb von Gewerkschaften seit jeher zu den ehrenwertesten Anliegen. Gewerkschaftslinken steht sie für eine Tarifpolitik, die nicht bloß mehr vom Gleichen anstrebt, sondern ein anderes, besseres Leben: Alle sollen in die Lage versetzt werden, ihre Interessen und Fähigkeiten in ihrer Vielseitigkeit zu entwickeln, allen soll es möglich sein, ein ­Leben in Würde zu führen (Negt 1984). In feministischen Diskussionen gilt die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit als Voraus­set­zung für eine gerechte Verteilung der Haushalts- und Sorgearbeiten jenseits des Betriebs. Einer Kapitalismuskritik, die die Lohnarbeit als entfremdetes Handeln in Herrschafts­verhältnissen überwinden will, gilt Arbeitszeitverkürzung als schrittweise Ermöglichung anderer Beziehungen zwischen den arbeitenden Menschen und anderer Verhältnisse zwischen Produzieren und Müßiggang.

Bei Karl Marx ist die Frage der Verfügung über Arbeitszeit Dreh- und Angelpunkt der Kapitalverwertung durch Mehrwertproduktion und damit eine Frage des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen: »Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andererseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaus­tauschs besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.« (MEW 23, 249; zit. n. Mayer-Ahuja 2021: 405)

Einfluss aufs Kräfteverhältnis hat aber auch, welche der Konfliktparteien ihr Interesse als Beitrag zur sinnvollen gesellschaftlichen Entwicklung vertreten kann. In den gegenwärtigen Transformationsdiskussionen wird die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ökologisch akzentuiert. Wenn die Zeichen der Zeit auf eine weniger ressourcenintensive Wirtschafts­weise stehen, steckt darin nicht auch die Möglichkeit einer weniger ­arbeitsintensiven Wirt­schaft? Wenn es, bei Strafe des Untergangs, nötig ist, den Pfad endlosen Wachstums zu verlassen, steckt in einer Politik der Arbeitszeitverkürzung nicht die Hoffnung, dass es dabei nicht um Verzicht, sondern sogar um ein besseres Leben gehen könnte? Und ist es so nicht möglich, dass Umwelt- und Arbeiter:innenbewegung an einem Strang ziehen, statt in unerquicklicher Konfrontation ihre Kräfte zu verausgaben?

Die Sache hat mehrere Haken. Die Gleichung »Weniger Arbeiten = weniger Ressourcen­verbrauch« stimmt in dieser Einfachheit nur selten (vgl. Liebig 2019). Zudem wollen die Bedingungen der Weltmarktkonkurrenz bedacht sein. Nicht zuletzt sind die großen Gewerk­schaften zurückhaltend, was eine Arbeitszeitoffensive angeht, und das liegt nicht einfach daran, dass sie nun mal strukturkonservative Wachstumsfetischisten sind. Stephan Krull stellt in express 7-8/2021 fest, dass der IG Metall noch die Niederlage bei der 35-Stunden-Woche Ost in den Knochen steckt. Dem könnte man erwidern, dass die neueren Erfahrungen mit der Etablierung tariflicher Wahlmöglichkeiten, wie sie zuvor schon von der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) vereinbart wurden, eher von Rückenwind bei der Politisierung der Arbeitszeitfrage zeugen – die Möglichkeit, sich anstelle weiterer Lohnerhöhungen für mehr frei verwendbare Zeit zu entscheiden, fand im begrenzten Kreis der Berechtigten (Schichtarbeiter:innen, Eltern und Pflegende) sehr hohen Zuspruch. Dennoch steht eine flächendeckende Verkürzung von Wochenarbeitszeiten nicht auf der Tagesordnung. Das hat seinen Grund auch darin, dass nicht nur die Niederlage in Ostdeutschland, sondern auch der Erfolg mit der 35-Stunden-Woche im Westen mit einer schweren Hypothek belastet bleibt. Zustande gekommen ist er nur in Form eines Tauschgeschäftes (Leber-Kompromiss), bei dem die IG Metall den Flexibilisierungswünschen der Arbeitgeber nachgab; die Umsetzung der Einigung machte sich vielerorts als Erhöhung des Leistungsdrucks bemerkbar (vgl. Huckenbeck 1999). Auch ohne Arbeitszeitverkürzung ist es in wiederkehrenden Optimie­rungs- und Effizienzsteigerungsschleifen so, dass Beschäftigten mehr Leistung abverlangt wird. Die Aussicht auf Arbeitszeitverkürzung erscheint dann weniger als motivierende Hoffnung denn als vergiftetes Geschenk: gleiche Arbeitsbelastung in noch weniger Zeit.

Was tun gegen Arbeitsverdichtung?

Wer Kolleg:innen für den Kampf um Arbeitszeitverkürzung gewinnen will – und wie sonst sollte sie durchzusetzen sein? – muss also auch sagen können, wie der Arbeitsverdichtung Einhalt geboten werden kann. Die verbreitete Forderung »Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich« bleibt an der Oberfläche.

Welche Möglichkeiten, Leistungsbemessung zu beeinflussen und Leistungsdruck zu redu­zieren, stehen Beschäftigten, Betriebsrat und Gewerkschaft zur Verfügung? Das Beispiel, das in den letzten Jahren für die größte Furore gesorgt hat, sind die Tarifverträge mit Personalbemessungsregeln, die ver.di in einigen Unikliniken geschlossen hat. Ein solcher Vertrag steht auch in der derzeit laufenden Auseinandersetzung an den Berliner Kranken­häusern im Mittelpunkt. 2015 hat ver.di zum ersten Mal überhaupt an der Charité in Berlin einen solchen Vertrag mit Vorgaben zur Personalbemessung in der Pflege abgeschlossen. Dem war nicht nur ein Streik vorausgegangen, sondern auch eine juristische Auseinander­setzung über die Frage, ob Personalbemessung überhaupt tariflich geregelt werden kann, oder ob sie nicht in der allei­nigen Hoheit des Arbeitgebers verbleiben sollte. Das Landesarbeits­gericht Berlin machte den Weg frei für eine tarifliche Vereinbarung.

In der derzeit laufenden Auseinandersetzung geht es nicht nur darum, die Personal­bemessungs­regeln auch beim landeseigenen Berliner Krankenhausbetreiber Vivantes durchzusetzen; anders als beim ersten Mal sollen sie diesmal detaillierter und konkreter werden. Die Schwäche des bisherigen Vertrags besteht darin, dass es an genauen Regeln mangelt für den Fall, dass die vorgesehene Personalbemessung unterschritten wird. Dies soll genauer geregelt werden. Damit soll der angestrebte Tarifvertrag dem Vorbild anderer Unikliniken folgen, die zwischenzeitlich ebenfalls »Entlastung per Tarif« durchgesetzt haben.

Diese Entwicklung der Entlastungsbewegung in den Krankenhäusern zeigt erneut, dass der Teufel im Detail steckt. Ver.di würde gegenüber den dezentralen Tarifauseinandersetzungen eigentlich eine gesetzliche Regelung der Personalbemessung in der Pflege bevorzugen und hat dazu gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) eine Neufassung der Pflegepersonalregelung (PPR 2.0) ausgearbeitet, die nun droht, in ­irgendwelchen Schubladen des Gesundheitsministeriums in Vergessenheit zu geraten. Nichtsdestotrotz kann die PPR 2.0 exemplarisch vorführen, wie knifflig die Ausarbeitung konkreter Personalvorgaben ist. Beim Verhältnis von Patient:innen pro Pflegekraft ist die Schwere der Erkrankungen zu berück­sichtigen, die nach einem differenzierten Schlüssel in Zeitbedarf übersetzt wird. Bei der Deckung des Bedarfs kann das Personal nicht einfach nach Köpfen gezählt werden, sondern das Ausbildungsniveau muss berücksichtigt werden. Solche allgemeinen Regeln wären eigentlich noch zu ergänzen um die jeweiligen betrieblichen Besonderheiten, zum Beispiel nach den unterschiedlichen räumlichen, baulichen und technischen Gegebenheiten. Kurzum: Eine belastbare Regelung des Pflegepersonalbedarfs setzt genaue Kenntnisse des Berufs und der betrieblichen Abläufe voraus.

Nun ist es ja keineswegs so, dass die detaillierte Erfassung von Arbeitsabläufen und die präzise Messung von Zeitaufwand für einzelne Arbeitsschritte der Industrie völlig fremd wären, im Gegenteil. Der 1924 gegründete Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung (bis heute: REFA) hat genau diesen Auftrag. Die REFA-Methoden leisteten und leisten der Unter­nehmer­seite gute Dienste in der Optimierung zergliederter, tayloristischer Arbeitsprozesse, bei der Festlegung von Band­geschwindigkeiten und Akkordsätzen. Größere Unternehmen haben (sofern sie nicht in Gänze an externe Unternehmensberatungen ausgelagert sind) eigene Abteilungen für Zeitwirtschaft, die den Zeit- und Personalbedarf planen – nicht nur in den taylorisierten Abteilungen. Knackpunkt bei etwaiger Begrenzung von Leistungsan­forde­rungen sind die Mitbestimmungsmöglichkeiten.

Mitbestimmung im Leistungsentgelt

Diese unterscheiden sich erheblich, je nachdem, wie die Entlohnung im fraglichen Bereich geregelt ist. »Arbeit im Akkord« und andere Formen der Bezahlung nach Leistung (Prämien) gelten zwar landläufig als Gipfel der Arbeitshetze, und tatsächlich wurden sie erfunden, um aus den Lohnabhängigen ein Maximum herauszuholen. Sie sind aber inzwischen die Entlohnungs­mechanismen, in denen per Betriebsverfassung und Tarifverträgen die weitest­gehenden Einflussmöglichkeiten von Betriebsräten auf die Arbeitsanforderungen bestehen. Im Akkord beispielsweise dient die sogenannte »Vorgabezeit« als Bezugsgröße der Abrechnung; das ist die Zeit, die für das Erstellen eines Werkstücks oder fürs Erledigen eines bestimmten Arbeitsschrittes als Norm angenommen wird, und deren Unterschreitung mit mehr Geld honoriert wird. Die Vorgabezeitermittlung und die Festlegung von Einzelheiten bei der Bezahlung unterliegen der Mitbestimmung des Betriebsrates. Das Betriebsverfassungsgesetz sieht in  Paragraph 87 die Mitbestimmung bei Einführung und Änderung von Entlohnungs­methoden ebenso vor wie bei der Festsetzung von Akkord- und Prämiensätze sowie bei anderen leistungsbezogenen Entgelten. Darüber hinaus sehen die Entgelt-Rahmentarifverträge in der Metallindustrie vor, dass die Einzelheiten der Bezahlung nach Leistung in detaillierten Betriebsvereinbarungen zu regeln sind.

Tarifgeschichtlicher Meilenstein in dieser Hinsicht war der Lohnrahmentarifvertrag II, der 1973 von der IG Metall in Baden-Württemberg erkämpft wurde. Dieser sieht nicht nur erweiterte Pausenzeiten (»Steinkühlerpause«) für Bandarbeiter:innen vor, sondern auch die Ausweitung der Mitbestimmung auf Bandgeschwindigkeiten und Taktzeiten, auf Gruppen­arbeit und Gestaltung des Akkords. Die IG Metall unter Führung ihres Bezirksleiters Franz Steinkühler griff damit Proteste und Aktionen auf, die sich bereits seit einigen Jahren, nicht zuletzt in den migrantisch geprägten »wilden« Streiks des Sommers 1973, gegen einen zunehmend unerträglich werdenden Leistungsdruck am Arbeitsplatz gewandt hatten (zu dieser Vorgeschichte: Beck o.J.). Der Konflikt steht für das Anliegen einer »Humanisierung der Arbeit«. So schrieb Franz Steinkühler im Rückblick: »Tayloristische und heute wieder verstärkt re-taylorisierte Arbeit in der Industrie sind durch strikte Hierarchien und zentralisierte Unternehmensorganisation, parzellierte Arbeitsvollzüge, weitgehende Trennung von Hand- und Kopfarbeit, Minimierung qualifizierter Anforderungsprofile und Verringerung der Anlernzeiten geprägt. (…) Die Enteignung von schulischen und beruflichen Qualifika­tionen dadurch, dass man vernunft- und phantasiebegabte Wesen wie dressierte Affen an ein Band oder eine Maschine stellt, setzt sich als ein Prozess der Enteignung in ihrem persönlichen und öffentlichen Leben fort. (…) Sie haben oft nicht mehr die Kraft und auch nicht das Selbstbewusstsein, sich politisch einzumischen, zu widersprechen, eigene Positionen zu beziehen.« (2008: 86f)

Zeitentgelt ohne Leistungsregulierung

Während es also in den verschiedenen Formen des Leistungsentgeltes inzwischen tarifliche Vorgaben und betriebliche Mitbestimmungsmöglichkeiten gibt, die Arbeitsverdichtung und Druck begrenzen, gibt es diese im Zeitentgelt – der Bezahlung einer vertraglich vereinbarten Arbeitszeit nach einem festen Entgelt – nicht in gleicher Weise. Weil im Zeitentgelt oft keine präzise Definition von Leistungserwartungen stattfindet, können die zahlreichen, mehr oder weniger subtilen Formen des Leistungsdrucks hier Raum greifen. Die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie genau eine Aufgabe erledigt wird, schlägt in Stress um, wenn sie mit der Verantwortung verkoppelt ist, Kundenwünsche pünktlich zu bedienen, dabei möglichst Jahr für Jahr effizienter und im Vergleich der Benchmarks immer besser zu werden. »Während also indirekte Steuerung oft zu einer Verdichtung von Arbeit führt (da Abstimmungsprozesse in Teams verlagert werden und dort auch gegenseitige Disziplinierung von KollegInnen stattfindet, wenn die Zielerreichung in Frage steht), trägt Vertrauensarbeitszeit zur massiven Verlängerung von Arbeitszeiten bei. Hinzu kommt, dass ‚Überstunden‘, die weder angeordnet noch dokumentiert werden, unbezahlt bleiben und kein Recht auf Zuschläge begründen.« (Mayer-Ahuja 2021: 402)

Vor dem Hintergrund der vergleichsweise schwach ausgeprägten Leistungsregulierung ist auf Seiten der Unternehmen eine deutliche Präferenz fürs Zeitentgelt zu erkennen. Die IG Metall hat das früh erkannt und ihren Betriebsräten nahegelegt, einem Wechsel vom Leistungs- ins Zeitentgelt in der Regel die nötige Zustimmung zu versagen (Lang u.a. 1997: 236). Der Trend ist dennoch eindeutig. Angaben des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall zufolge waren vor zwanzig Jahren die Anteile von Metallindustrie-Beschäftigten im Zeitent­gelt und im Leistungsentgelt noch etwa gleich groß; 2020 betrug der stetig wachsende Anteil des Zeitentgelts schon 78,9 Prozent. (Gesamtmetall 2021) Dahinter dürften Beispiele betrieb­licher ­Umstellungen des Entlohnungsgrundsatzes ebenso stecken wie ein Strukturwandel unter den Beschäftigten, in dem die Zahl der Angestellten, bei denen Zeitentgelt die Regel ist, stetig wächst.

Vor diesem Hintergrund finden auch in der IG Metall Diskussionen über einen neuen Ansatz der Leistungsbemessung statt, der sich die erwähnten Auseinandersetzungen in den Krankenhäusern zum Vorbild nimmt. Wie Hartmut Meine u.a. in ihrem »Handbuch Arbeit – Entgelt – Leistung« schreiben, besteht die Überlegung darin, »dass ein festes monatliches Grundentgelt mit einer Leistungszulage gezahlt wird und, unabhängig vom Entgelt, im Tarif­vertrag Regelungen zur Mitbestimmung über die Personalbemessung durchgesetzt werden. Dieser Ansatz ist konfliktgeladen, denn er wird auf den massiven Widerstand der Arbeitgeber treffen.« (Meine u.a. 2018: 324)

Wie in der Uniklinik?

Umzusetzen wäre das über Tarifverträge, die die Festlegung eines zumutbaren Arbeits­pensums und einer entsprechenden Brutto-Personalbemessung in Betriebsverein­barungen regeln. Ersteres wäre »das quantitative Arbeitspensum, das von den Beschäftigten für die Dauer eines Arbeitslebens und bei Einhaltung der vereinbarten Arbeitszeit ohne Gesundheits­beeinträchtigung erbracht werden kann« (ebd.: 327). Brutto-Personalbesetzung wäre die Zahl der dafür vorzusehenden Leute unter Berücksichtigung von Urlaub, Krankenstand und ggf. zusätzlicher freier Tage.

Beides wäre mit Reklamationsrechten von Betriebsrat und Beschäftigten zu gestalten, soll heißen: Wenn das definierte und dokumentierte Arbeitspensum nicht mit dem eingesetzten Personal und innerhalb der tariflichen Arbeitszeit zu schaffen ist, können Beschäftigte eine Änderung von Pensum und/oder Personalbemessung verlangen.

Dieses Modell hat auch Eingang in die Beschlüsse des letzten IGM-Gewerkschaftstages gefunden. Ein solches Modell hat sich die IG Metall auf ihrem Gewerkschaftstag 2019 zu eigen gemacht. In der Entschließung zur Betriebs- und Tarifpolitik heißt es: »Wir streben tarifpolitische Regelungen zur Leistungs- und Personalbemessung an. Notwendig ist hierzu ein tariflich verankertes Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates, unabhängig vom Entgelt­grund­satz.« (E3.001) Ein konkreter Antrag der Geschäftsstelle Braunschweig wurde als »Material« angenommen: »Es werden tarifliche Regelungen unabhängig vom Entgeltgrund­satz (also auch im Zeitentgelt) zur Personalbemessung in Form von Mitbestimmungsrechten der Betriebsräte angestrebt. Sie sollen folgende Elemente beinhalten:

  • »Mindestpersonalbesetzung ist zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat für jeden Bereich bezogen auf vereinbartes qualitatives und quantitatives Arbeitspensum zu verhandeln.
  • Individuelle Rechte der Beschäftigten zur Anzeige bei Überlast
  • Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei faktischer Unterbesetzung
  • Verfahrensregeln bei Verstoß (Beispiel: wird die Unterbesetzung nicht abgestellt, folgt die Reduzierung der Arbeitspakete)
  • Schlichtungsverfahren bei Streitigkeiten«

Inwiefern solche Papiere praktisch aufgegriffen werden, steht nochmal auf einem anderen Blatt. Neue Ideen, dem Leistungsdruck Einhalt zu gebieten, liegen jedenfalls bereits auf dem Tisch, und die Verbindung offensiver Arbeitszeitpolitik mit Mitbestimmung bei der Leistungs- und Personalbemessung stellt sich vom Schreibtisch aus betrachtet als runde Sache dar. »Allerdings reduziert sich damit die Kompromissfähigkeit der Gewerkschaften im Gegensatz zu früheren Auseinandersetzungen, in denen die Arbeitszeitverkürzung zum Teil im Tausch für eine höhere Flexibilisierung der Arbeit erreicht wurde.« (Kunkel 2020: 93) Anders ausgedrückt: einerseits durch Arbeitszeitverkürzung die Bedingungen der Produktion des absoluten Mehrwerts verschlechtern und gleichzeitig die Möglichkeit verbauen wollen, dies (teilweise) durch Erhöhung des relativen Mehrwerts (also Produktivitätssteigerung und Arbeitsverdichtung) wieder wettzumachen, weil auf einmal lästige Beschäftigtenvertre­te­r:in­nen mit am Tisch sitzen, wenn über Umfang und Beanspruchung des Personals entschieden wird – das dürfte vom Kapital und seinen Verbündeten in Zivilgesellschaft und Politik als Frechheit sondergleichen verstanden werden. Die größte Schwierigkeit bei der Durchsetzung von Mitbestimmung bei der Personal- und Leistungsbemessung besteht nicht darin, dass die Materie so komplex ist – unlösbare Probleme gibt es da nicht –, sondern darin, dass solche Regeln das Direk­tionsrecht der Arbeitgeberseite beschneiden und das betriebliche Herrschaftsgefüge par­tiell demokratisieren würden.

Für aktive Beschäftigte und aufgeklärte Betriebsräte heißt das natürlich nicht, dass sie die Füße stillhalten müssen, bis es zur großen Gewerkschaftskampagne kommt. Es kann sich lohnen, um den Entgeltgrundsatz zu streiten; und nachzuvollziehen, wie das Unternehmen zu seiner Personalbesetzung kommt, ist einer Auseinandersetzung auf Augenhöhe immer zuträglich.

Artikel von Stefan Schoppengerd in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 9/2021

Literatur:

  • Beck, Ursel (o.J.): 1973 – Steinkühlerpause erstreikt. Online unter http://archiv.labournet.de/diskussion/arbeitsalltag/az/steinkuehlerpause.html  
  • Gesamtmetall (2021): Zahlen 2021. Die Metall- und Elektro-Industrie in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin. Online unter www.gesamtmetall.de externer Link
  • Huckenbeck, Kirsten (1999): Eine Frage der Zeit. Zu Geschichte und Perspektiven der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung. Online unter: https://archiv.labournet.de/diskussion/arbeitsalltag/wozzeit.html
  • Kunkel, Kalle (2020): Gewerkschaftliche Arbeitszeit- und Leistungspolitik – altes Terrain mit neuen Fragen. In: Stützle, Ingo (Hrsg.): Work-Work-Balance: Marx, die Poren des Arbeitstags und neue Offensiven des Kapitals. Berlin: Dietz Verlag, S. 93-113.
  • Liebig, Steffen (2019): Arbeitszeitverkürzung für eine nachhaltigere Wirtschaft? Über mögliche Berührungspunkte zwischen sozial-ökologischen Arbeitszeitkonzepten und gegenwärtiger Tarifpolitik. In: Dörre et al. (Hrsg.): Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften. Wiesbaden: Springer, S. 211-228.
  • Mayer-Ahuja, Nicole (2021): Streit um Zeit. Marx’ Beitrag zur Analyse von aktuellen Veränderungen der Arbeitswelt. In: Sablowski, Thomas u.a. (Hrsg.): Auf den Schultern von Karl Marx. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 395-410.
  • Lang, Klaus / Meine, Hartmut / Ohl, Klaus (Hrsg.) (1997): Handbuch Arbeit-Entgelt-Leistung. Ein praktischer Ratgeber. 2. Auflage. Frankfurt a.M.: Bund-Verlag.
  • Meine, Hartmut/Rohnert, Richard/Schulte-Meine, Elke/Vetter, Stephan (Hrsg.) (2018): Handbuch Arbeit-Entgelt-Leistung. Entgelt-Rahmentarifverträge im Betrieb. 7. Auflage. Frankfurt a.M.: Bund-Verlag.
  • Negt, Oskar (1984): Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit. Frankfurt am Main/New York: Campus.
  • Steinkühler, Franz (2008): Menschengerechte Arbeit – geschichtliche Herausforderung und Gegenwartsaufgabe. Durchsetzung und Bedeutung des Lohnrahmentarifvertrags II. In: Wagner, Hilde (Hrsg.): Arbeit und Leistung – gestern und heute. Ein gewerkschaftliches Politikfeld. Hamburg: VSA, S. 83-96.

Siehe zum Hintergrund im LabourNet Germany:

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