BVerfGE: Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen verfassungsgemäß

Nein zum Kopftuch-Verbot! Kein Berufsverbot für Frauen! Und: Kein Kopftuchzwang…„Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat die Verfassungsbeschwerde einer hessischen Rechtsreferendarin gegen das Verbot, bei bestimmten dienstlichen Tätigkeiten ein Kopftuch zu tragen, zurückgewiesen. Danach ist die Entscheidung des Gesetzgebers für eine Pflicht, sich im Rechtsreferendariat in weltanschaulich-religiöser Hinsicht neutral zu verhalten, aus verfassungsrechtlicher Sicht zu respektieren. Zwar stellt diese Pflicht einen Eingriff in die Glaubensfreiheit und weitere Grundrechte der Beschwerdeführerin dar. Dieser ist aber gerechtfertigt. Als rechtfertigende Verfassungsgüter kommen die Grundsätze der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege sowie die negative Religionsfreiheit Dritter in Betracht. Hier kommt keiner der kollidierenden Rechtspositionen ein derart überwiegendes Gewicht zu, das dazu zwänge, der Beschwerdeführerin das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal zu verbieten oder zu erlauben…“ BVerfG-Pressemitteilung Nr. 13/2020 vom 27. Februar 2020 zu Beschluss 1 BvR 811/17 vom 27. August 2019 externer Link (mit abweichender Meinung des Richters Maidowski) – siehe dazu mehrere kritische Wertungen:

  • Justitias Dresscode, zweiter Akt: Minderheiten im demokratischen Staat
    „Heute hat der Zweite Senat einen bereits am 14. Januar 2020 ergangenen Beschluss veröffentlicht, der weitreichende Konsequenzen für die dritte Gewalt in der deutschen Demokratie haben wird. Vordergründig geht es um kopftuchtragende Rechtsreferendarinnen, doch mitverhandelt wird, ob im Deutschland des 21. Jahrhunderts kopftuchtragende Richterinnen auch nur denkbar sind. Die Antwort des Zweiten Senats ist für sieben Richter*innen klar: nein. Kopftuchtragende Juristinnen, mögen sie noch so qualifiziert sein, dürfen nicht einmal den Anschein erwecken, für den deutschen Staat tätig zu sein. Der Richter Maidowski arbeitet in seinem Sondervotum die Unterschiede zwischen hauptamtlichen Richterinnen und Staatsanwälten einerseits, Rechtsreferendarinnen andererseits heraus. Doch auch dieses Sondervotum bleibt einer fragwürdigen Vorstellung verhaftet: Zur deutschen Justiz gehöre das Kopftuch nicht. Der Senat verfehlt damit spektakulär die vornehmste Aufgabe eines Verfassungsgerichts: den grundrechtlichen Schutz von Minderheiten sicherzustellen.(…) Die zentrale Norm ist hier Art. 33 Abs. 3 GG: „Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.“ Klarer kann das Grundgesetz eigentlich nicht verbieten, was der Zweite Senat hier dennoch macht: Personen wegen ihres religiösen Bekenntnisses vom Amt der Richterin auszuschließen. Es gibt schlicht keine Lesart der Norm, derzufolge diese nur die nach außen unsichtbare Religiosität schützen könnte. Es geht vielmehr gerade darum, religiöse Pluralität in öffentlichen Ämtern sicherzustellen…“ Kommentar von Anna Katharina Mangold vom 27. Februar 2020 beim Verfassungsblog externer Link
  • Wie in Polen und Ungarn: Karlsruhe billigt ein Kopftuchverbot für Richterinnen. Damit schützt es die Mehrheit, nicht die Grundrechte
    „Warum haben wir ein Verfassungsgericht? Damit die Grundrechte des Einzelnen auch gegen Gesetze der Mehrheit geschützt werden. Gerade weil sich die Mehrheit gern dadurch Akzeptanz verschafft, dass sie unbeliebte Minderheiten drangsaliert, ist die Kontrolle durch ein Verfassungsgericht notwendig, um die Rechte von Minderheiten zu sichern. Nun hat das Bundesverfassungsgericht akzeptiert, dass in Hessen Richterinnen das Tragen eines muslimischen Kopftuchs verboten werden darf. Das ist ein Gesetz, das erkennbar darauf abzielte, Musliminnen auszugrenzen. Doch das Bundesverfassungsgericht hat dies nun gebilligt. Der Staat habe hier einen Einschätzungsspielraum. Mit derartigen Entscheidungen nimmt sich das Bundesverfassungsgericht selbst aus dem Spiel. Es entscheidet nicht im Zweifel für die Grundrechte, sondern dient nur noch als Legitimation der diskriminierenden Mehrheit. So stellt man sich auch in Polen und Ungarn die Rolle von Verfassungsrichtern vor. (…) [Der Zweite Senat] lässt es zu, dass Kopftücher auf der Richterbank verboten werden, um das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Justiz zu sichern. Die Sichtbarkeit von Muslimen sei geeignet, „das Bild der Justiz in ihrer Gesamtheit zu beeinträchtigen“. Was für ein Signal des höchsten deutschen Gerichts sieben Tage nach den antimuslimischen Morden von Hanau. Wer Diskriminierung von oben zulässt, braucht sich über den tödlichen Rassismus von unten nicht zu wundern.“ Kommentar von Christian Rath vom 27. Februar 2020 in der taz online externer Link
  • Ein Bundesverfassungsgericht des Ressentiments
    „… Der Staat dürfe „Maßnahmen ergreifen, die die Neutralität der Justiz aus der Sichtweise eines objektiven Dritten unterstreichen sollen“ (Rn. 92). Warum aber soll ein schlichtes Kopftuch, für dessen prozessadäquate Gestaltung gegebenenfalls Vorgaben gemacht werden könnten (weiß wie Bluse und Schal?), eine sozialkommunikative Neutralitätsgefährdung sein, obgleich auch das Gericht zutreffend davon ausgeht, dass Religiosität als solche kein Indiz für Voreingenommenheit ist (Rn. 99)? Und wer ist eigentlich der „objektive“ Dritte, den der Senat hier beharrlich bemüht? Setzt Objektivität nicht gerade voraus, sich um ein angemessenes Verständnis für die legitimen religiösen Bedürfnisse einer Amtsträgerin zu bemühen? Der objektive Dritte ist letztlich wohl nur Chiffre für Ressentiments und unhinterfragte Normalitätsvorstellungen, die am Bundesverfassungsgericht selbst gepflegt werden. Für ein Gericht, dessen Rechtfertigung entscheidend auch darin besteht, in den Händen politischer Mehrheiten nicht immer gut aufgehobene Minderheitenrechte gegen Übergriffe zu schützen (wie Andreas Voßkuhle in einem Gastbeitrag in der FAZ gerade am 27. Februar 2020 betonte), ist das ein Armutszeugnis…“ Gastbeitrag von Klaus F. Gärditz vom 27. Februar 2020 bei Legal Tribune Online externer Link
  • Anm.: Allerdings enthält das jetzige Urteil auch eine unausgesprochene Aufforderung zu Widerstand. Denn wenn das bei der Entscheidung maßgebliche Hessische Ländergesetz zum Kopftuchverbot die Neutralität der Justiz aus der „Sichtweise eines objektiven Dritten“ sicherstellt, wie das Gericht unterstellt, kann das praktisch widerlegt werden, indem man alle Verwaltungshandlungen ablehnt, die religiös einseitig sind. Entweder gar keine religiösen Symbole oder auch das Kopftuch. Oder anders gefragt: Hat der oder die „objektive Dritte“ nun Verständnis für Rassismus oder ist er oder sie antirassistisch eingestellt?
  • Siehe auch: Muslima gegen Müller. Bundesarbeitsgericht überweist Klage einer Kopftuchträgerin gegen Drogeriemarkt an Europäischen Gerichtshof externer Link
  • Wir erinnern an die Kampagne im LabourNet-Archiv: Nein zum Kopftuch-Verbot! Kein Berufsverbot für Frauen! Und: Kein Kopftuchzwang…
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=163740
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