„Nacht der Solidarität“? Berlin zählt Obdachlose. Strichliste nach Reisepass…

Homelessness is not a crime„… Zählsorge statt Seelsorge. In der „Nacht der Solidarität“ waren über 3.700 freiwillige Helferinnen und Helfer stadtweit damit beschäftigt, all die Menschen zu zählen und zu befragen, die nachts auf öffentlichem Straßenland schlafen. Vorbild für eine solche Erhebung durch die Bürger sind Städte wie Paris und New York. Und jetzt eben Berlin. In einer Presseerklärung des Senats hieß es, die Stadt folge damit einer langjährigen Forderung von Sozialverbänden und Sozialarbeitern. Aber wollen das eben auch die Betroffenen? Man werde auf Grundlage der erstmals erhobenen Zahlen die Hilfs- und Beratungsangebote ausweiten und spezialisieren. „Denn niemand soll auf der Straße leben müssen!“ Was die Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die LINKE) geflissentlich überhört: Es hat hierzu auch kritische Stimmen gegeben, und das nicht nur aus der Hausbesetzerszene („Zählt nicht uns, sondern Eure Tage!“), sondern auch von den Unbehausten selbst. „Zählen ist keine Solidarität!“, sagt Stefan Schneider von der Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen e.V., der gemeinsam mit dem Berliner Wohnungslosenparlament die Protestmahnwache angemeldet hat. Die Kritik der Unbedachten: Die Ergebnisse der Zählung werden nicht stimmen; die Wohnungslosigkeit vieler Frauen werde gar nicht erfasst (Stichwort Wohnungsprostitution), auch nicht derjenigen Menschen, die auf Dachböden und in Kellern versteckt „Platte“ machten. Zum anderen habe eine bloße Umfrage für so manche Betroffene auch etwas Entwürdigendes, weil sie ja ohne ein konkretes Hilfsangebot daherkommt…“ – aus dem Beitrag „Zählen ist keine Solidarität“von Karsten Krampitz am 30. Januar 2020 im Freitag online externer Link über eine ganz seltsame Form der Solidarität – die es ja nach offizieller Lesart durchaus sein sollte, was aber die Frage nahe legt, warum dann nicht stattdessen zur Unterstützung jener mobilisieren, die in dieser „Frage“ ohnehin aktiv sind…? Siehe dazu weitere Beiträge – aus denen auch nicht deutlich wird, warum die „Nationalität“ abgefragt werden soll…

  • „Gut versteckt“ von Barbara Dribbusch am 30. Januar 2020 in der taz online externer Link berichtet dazu: „… Und so stapft das fünfköpfige Team, die Mehrzahl Frauen, durch die Nacht im bürgerlichen Berlin-Friedenau. Es ist mild für Januar. In den Kleingärten, in denen angeblich oft Obdachlose nächtigen, springen wegen des Teams die Bewegungsmelder an. Ansonsten ist alles dunkel. Die Freiwilligen dürfen nur in öffentlich begehbare Räume, und das ist auch ein methodisches Problem: Wie will man Obdachlose zählen, die nicht erfasst werden wollen, die bestimmte Viertel und Verstecke viel besser kennen als das Zählteam, die sich dann womöglich auf privatem Grund verbergen, der für die ZählerInnen gar nicht zugänglich ist? Ein freundlicher Sicherheitsmann eines Krankenhauses führt das Team in das Kellergeschoss mit dem Bettenlager. Hier sollen ab und an Obdachlose eindringen, einer hat sich mal in ein Krankenhausbett gelegt. Heute ist alles leer. Wieder draußen, es ist Mitternacht, wird ein älterer Mensch gesichtet, schwankend hinter einer Litfaßsäule. Er weckt die Hoffnung. Als er einen Hausschlüssel zückt und sich einem Hauseingang nähert, ist auch diese Hoffnung dahin…“
  • „Berlin zählt seine Obdachlosen“ von Ben Knight am 29. Januar 2020 in der Deutschen Welle externer Link zu den ausgesprochen seltsamen Fragen unter anderem: „… In der „Nacht der Solidarität“, wie die Aktion auch in Paris genannt wurde, werden 3700 Freiwillige in Dreier- bis Fünfergruppen ausschwärmen. Ausgerüstet mit laminierten Stadtplänen sollen sie zwischen Mittwoch, 22 Uhr, und Donnerstag, 1 Uhr, über 600 Zonen in genau festgelegten Routen ablaufen. Sie sind auf der Suche nach Obdachlosen, die vom bestehenden Hilfsangebot nicht erreicht werden – und auch in kalten Winternächten auf der Straße nächtigen. Die Freiwilligen werden die Obdachlosen aber nicht nur zählen, sondern auch Fragen nach Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit und Dauer der Obdachlosigkeit stellen. In jedem Team wird eine Person dabei sein, die beruflich oder durch Ehrenamt Erfahrung mit Obdachlosen hat. Manche waren sogar selbst einmal ohne festen Wohnsitz. Die Freiwilligen wurden für die Zählung zu einem respektvollen Umgang verpflichtet: So dürfen sie nicht in Zelte und Hütten hineinschauen, mit Taschenlampen ins Gesicht leuchten, Fotos machen oder Menschen aufwecken. Auch das Duzen ist tabu. (…) Doch es geht nicht nur um die Gesamtzahl. Die Behörden wollen zum Beispiel auch herausfinden, aus welchen Ländern die Obdachlosen kommen. Denn soviel ist schon bekannt: Von den amtlich erfassten 36.000 Menschen in Notunterkünften sind 16 Prozent Frauen und mehr als die Hälfte stammt aus Nicht-EU-Staaten. Daher liegen die Fragen in 14 Sprachen vor. „Obdachlosigkeit ist heute viel internationaler und weiblicher. Wir erleben auch zunehmend obdachlose Menschen mit einer schweren Behinderung und mehr ältere Menschen, die obdachlos sind“, sagt Sozialsenatorin Breitenbach. „Daraufhin haben wir gesagt, wir müssen Wohnungslosenhilfe so aufstellen, dass sie an die Bedürfnisse der wohnungslosen Menschen angepasst ist, dass sie dort auch ankommt. Und sie muss umfassend sein.“ So geschah es auch beim Vorbild Paris: Bei der Obdachlosenzählung in Frankreichs Hauptstadt fanden die Behörden zum Beispiel heraus, dass der Frauenanteil höher war als angenommen, und richteten daraufhin mehr Unterkünfte für Frauen ein…“
  • So viel Nacht und so wenig Solidarität
    Berlins Obdachlose sollen in der sogenannten ‚Nacht der Solidarität‘ vom 29. auf den 30. Januar von mehr als 4000 Freiwilligen und hunderten Sozialarbeiter*innen gezählt und befragt werden. Ziel ist es, so die Senatsverwaltung, die Angebote zu verbessern und die Verwaltung zu vereinheitlichen. Wir denken es ist an der Zeit praktische Solidarität mit Obdachlosen zu üben, allerdings nicht mit dieser Zählung. Wir kritisieren diese scharf, da sie das Problem nicht ernst nimmt, sondern eine Elendsverwaltung fordert und fördert. Stattdessen schlagen wir vor das Eigentum an Wohnraum abzuschaffen. Obdachlosigkeit muss nicht sein, wenn wir Zwangsräumungen unmöglich machen, Spekulant*innen enteignen und Wohnungen in Eigenregie gerecht verteilen. Das Recht auf Wohnen darf nicht an Pässe, an die dicke des Portmonaies oder der Gunst von Verwaltungen und Eigentümer*innen abhängen. Deshalb appellieren wir an die Macht der Solidarität. (…) Eine kurze Begriffsgeschichte der „Nacht der Solidarität“ Die Idee der “Nacht der Solidarität” kommt aus Frankreich. In Paris wird am 29.1. bereits zum dritten Mal eine Zählung dieser Art durchgeführt. Auch hier unter dem Motto.“nuit de la solidarité”. Um das Vorhaben der Zählung sowie ihren propagandistischen Wert für die Senatsverwaltung zu verstehen, ist es wichtig, die Entstehung dieser Kampagne genauer zu beleuchten. Der Titel für diese Zählung ist geklaut. Die erste “nuit de la solidarité” wurde von Aktivist*innen für das Recht auf Wohnen (droit au logement) durchgeführt. Im Oktober 2007 besetzten über zweihundert Obdachlose und Aktivist*innen gemeinsam die Rue de la Banque in Paris und forderten angemessenen Wohnraum für die Betroffenen. Im Februar 2008 folgte ein Bündnis von 28 Pariser Initiativen und führte auf dem sehr zentralen Place de la République die “Nuit solidaire pour le logement” (Solidarische Nacht für das Wohnen) durch. Ähnliche Aktionen folgten in den Jahren darauf in anderen französischen Städten. Diese Nächte der Solidarität, die ihren Namen verdienten, waren also keine Kampagnen der herrschenden Politik, sondern selbstorganisierte Proteste gegen die bestehende Stadtpolitik. In der Erklärung des Vorhabens zur sogenannten „Nacht der Solidarität“ zeigt der erste Satz wohin der Weg führt: „Wohnungslosigkeit ist eine große Herausforderung.“ Schon hier verrät sich, dass die Wohnungslosigkeit nicht als das Ergebnis von der herrschenden Stadtpolitik ist, sondern eine Herausforderung für diese darstellt, auf das sie nun reagieren will. Auch ansonsten wird das Thema nicht im Kontext der herrschenden Gesellschaftsstruktur begriffen, sondern zu einer Frage der Verwaltung verklärt…“ Informativer Beitrag vom 29.01.2020 externer Link bei Indymedia und zugleich ein Aufurf zu Protestmahnwache vom Wohnungslosenparlament | vor dem Roten Rathaus (S-/ U-Alexanderplatz) am 29.01. um 18 Uhr sowie zur  Aktionswoche gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn | berlinweit 20.03. – 28.03.
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=162118
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