K&K-Fragen. Dörthe Stein über gewerkschaftlichen Handlungsdruck in der ITK-Branche hin zu ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitKaum ein Trend hat die Welt in den letzten drei Jahrzehnten so sehr geprägt wie die zumindest im globalen Norden inzwischen alle Lebensbereiche durchdringende Digitalisierung. Deren Bedeutung für den Klimawandel, den Folgen und Potentialen für eine ökologisch und sozial nachhaltige Produktion und der Notwendigkeit gewerkschaftlichen Handelns geht der folgende Beitrag am Beispiel der boomenden Informationstechnologie- und Telekommunikationsbranche (ITK) nach…“ Artikel von Dörthe Stein, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 02/2020

K&K-Fragen

Dörthe Stein* über gewerkschaftlichen Handlungsdruck in der ITK-Branche hin zu ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit

Kaum ein Trend hat die Welt in den letzten drei Jahrzehnten so sehr geprägt wie die zumindest im globalen Norden inzwischen alle Lebensbereiche durchdringende Digitalisierung. Deren Bedeutung für den Klimawandel, den Folgen und Potentialen für eine ökologisch und sozial nachhaltige Produktion und der Notwendigkeit gewerkschaftlichen Handelns geht der folgende Beitrag am Beispiel der boomenden Informationstechnologie- und Telekommunikationsbranche (ITK) nach.

Eingebettet in die übliche Wirtschaftsmaxime des »Schneller, Höher, Weiter« konnten Chancen der digitalen Entwicklung für ein nachhaltigeres und sozialeres Wirtschaften (z.B. intelligente Heizungssteuerung, weniger Reisen durch digitale Konferenzsysteme, Rechenzentren als Heizkraftwerke) bisher nur marginal genutzt werden. Mögliche positive Effekte werden ungebrochen durch Marktdynamiken, wie Absatzzwängen und dem sich daraus ergebenden Innovationsdruck, oder die allgemeine Globalisierung nivelliert. So sind heute in Folge der Globalisierung mehr Geschäftsreisen als vor drei Jahrzehnten zu verzeichnen, immer aufgeblähtere Softwarecodes fordern immer mehr Computer-Ressourcen, die wiederum die Vorteile einer höheren Datenverarbeitungskapazität von Rechnern bei gleichem Stromverbrauch zu Nichte machen. Auch die beginnende Wiederverwertung von in Rechenzentren produzierter Abwärme konnte den infolge der Digitalisierung steigenden Stromverbrauch bisher nicht ausgleichen.

Parallel zur Digitalisierung der Welt hat sich nicht nur die Dringlichkeit von Maßnahmen zum Erhalt natürlicher Ressourcen und zur Klimaneutralität verschärft, auch die soziale Frage drängt sich angesichts menschenunwürdiger Bedingungen in der Produktion (s. z.B. Foxconn) und in der Förderung von ITK-relevanten Rohstoffen (z.B. seltene Erden) und regelmäßig wiederkehrender Panikmeldungen über den bevorstehenden Abbau von bis zu 60 Prozent[1] der deutschen Arbeitsplätze als Digitalisierungsfolge auf.

Scheint es sich bei Letzterem eher um Panikmache als um den langfristig zu erwartenden realen Verlust von Arbeitsplätzen über alle Branchen hinweg betrachtet zu handeln, kann der Zusammenhang von Digitalisierung und steigenden CO2-Emission als Tatsache betrachtet werden.

Wäre das Internet ein Land, stünde es laut Greenpeace 2016[2] mit dem Verbrauch von sieben Prozent der weltweiten Energie an sechster Stelle aller Länder. Der Anteil der Digitalisierung an den weltweiten CO2-Emissionen übersteigt bereits heute mit vier Prozent den des internationalen Flugverkehrs (The Shift Project 2019).[3] Das weltweite Datentransfervolumen verdoppelt sich alle 18 Monate.[4] Dies ist ursächlich für die jährliche Steigerung des »digitalen« Stromverbrauches um satte neun Prozent. In Frankfurt am Main entfallen auf alle Rechenzentren bereits mehr als 20 Prozent des städtischen Stromverbrauchs.[5]

Bemerkenswert ist, dass der Hauptverbrauch an Strom derzeit nicht etwa auf die industrielle Produktion, sondern auf die EndverbraucherInnen entfällt. Videostreaming-Dienste a la Netflix und Co. sind derzeit mit 70 bis 80 Prozent des globalen Internet-Traffics die Haupttreiber des durch Digitalisierung verursachten Energieverbrauches.[6]

Für Gewerkschaften sind die aufgezeigten Entwicklungen aus mehreren Gründen relevant.

Der ITK-Sektor boomt. Derzeit arbeiten in Deutschland ca. 1,2 Millionen Menschen in der ITK-Branche – Tendenz steigend! Eine gewerkschaftliche Organisierung dieser Branche ist jedoch bisher nur unzureichend gelungen. Beschäftigte der Branche ziehen es häufig vor, ihre Belange selber in die Hand zu nehmen, anstatt sich auf betriebliche oder überbetriebliche Stellvertretungen zu verlassen. Im Zweifelsfall wird ob der branchenspezifisch rosigen Arbeitsmarklage hierzulande eher der Job gewechselt, als dass sich auf zum Teil langwierige, klassische Arbeitskämpfe eingelassen wird.

Dennoch darf die Branche hierzulande nicht aus dem Fokus gewerkschaftlicher Organisierungsbemühungen rücken. Hierfür ist ihre ökonomische, ökologische und soziale Bedeutung zu hoch. Zudem ist das bei den Beschäftigten vorhandene Know-How über die aktuellen technischen Entwicklungen für eine kritische gesellschaftspolitische Einordung derselben unverzichtbar.

Wer sonst, wenn nicht die EntwicklerInnen höchstselbst, könnten in Zukunft besser vor den aus Digitalisierung resultierenden Gefahren warnen, zum Beispiel aus allumfassenden Überwachungsmöglichkeiten oder einer Algorithmisierung des sozialen Lebens? Vor allem Menschen mit fachlichem Wissen sind in der Lage, Konzepte der digitalen Selbstverteidigung zu entwickeln und sie der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen.

Bereits in der Vergangenheit zeichneten sich netzpolitische Initiativen immer durch Leute vom Fach und ihr Know-How aus. Diese Initiativen – seit Neuestem auch gekoppelt mit Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit (z.b. in dem Netzwerk »Bits und Bäume«) – wie seit 30 Jahren verbreitete Commons-Ansätze in der Software-Produktion zeigen, dass Nerds sehr wohl organisierbar sind, allerdings offenbar vornehmlich auf Basis der Selbstorganisation.

Gewerkschaften des ITK-Sektors hierzulande müssen, wollen sie erfolgreich sein, diesen Bedürfnissen nach Selbstorganisation Rechnung tragen. Thematische Schwerpunkte jenseits der üblichen Zuspitzung auf Fragen der Entlohnung könnten dabei helfen.

Sowohl ein Aufgreifen der skizzierten Zusammenhänge zwischen »Bits und Bäumen« als auch eine kritische Betrachtung der in der ITK-Branche hergestellten Produkte können weitere Bausteine gewerkschaftlicher Arbeit darstellen. Überwachungstechnologien oder unter Zeitdruck erstellter, deshalb unnötig aufgeblähter und übermäßig stromverschlingender Softwarecode beweisen: es ist bei Weitem nicht alles Gold, was glänzt.

Parallel zu aktuellen und zugleich klassischen Gewerkschaftsthemen, wie etwa der Arbeitsverdichtung, die sich durch Digitalisierung ergibt, könnte ein Aufgreifen der genannten Themen die gesellschaftspolitische Rolle von Gewerkschaften in Fragen der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit befeuern. Jenseits der im globalen Norden vorherrschenden Themenstellungen existieren zudem eine Menge ebenfalls als Digitalisierungsfolge zu betrachtende internationale Missstände, die die Solidarität hiesiger GewerkschafterInnen verdienen.

Sofern Solidarität und Bekenntnisse zur Klimagerechtigkeit mehr als nur Worthülsen sein sollen, müssen insbesondere hiesige ­Gewerkschaften Diskurse der nachhaltigen Ökonomie vorantreiben. Vor allem aber sind die sozialen Kämpfe zu ihrer Durchsetzung vor der eigenen Haustür zu führen.

Das vorherrschende Paradigma der Arbeitsplatzsicherung zur Befriedung partikularer Brancheninteressen im Sinne des eigenen Stammklientels ist dabei nicht immer hilfreich. Benötigt wird vielmehr eine branchenübergreifende Auseinandersetzung darüber, welche Güter künftig mit ökologischen und sozialen Zielen, wie zum Beispiel der Klimagerechtigkeit, vereinbar sind. Diese Auseinandersetzung muss selbstverständlich auch Antworten auf die Frage nach dem Umgang mit denen, deren Arbeitsplätze dann künftig obsolet würden, hervorbringen. Politische Konzepte, bei denen wieder jene mit vergleichsweise geringem Einkommen die Zeche derer zahlen, die über Jahrzehnte persönlichen Profit aus der Ausbeutung von Mensch und Natur gezogen haben, sind nicht akzeptabel.

Ein Schelm, wer dabei die K-Frage – die Kapitalismusfrage – in Augenschein nimmt! Die skizzierte Utopie von ernsthaft für globale Klimagerechtigkeit und soziale Nachhaltigkeit eintretenden Gewerkschaften muss zwingend mit dem Kampf für echte, d.h. Fragen der Produktion betreffende, wirtschaftliche Mitbestimmung verknüpft werden.

Als ernstzunehmender Machtfaktor könnte dabei ein gewerkschaftlich organisierter ITK-Sektor dienen. Wirkungsvolle Formen des Streiks zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer Forderungen wären dann nur wenige Mausklicks entfernt.

Artikel von Dörthe Stein, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 02/2020

*  Dörthe Stein arbeitet in der ITK-Branche, ist ehemalige Betriebsrätin und Mitglied der FAU Frankfurt.

Anmerkungen:

1          Vgl. Brzeski, Carsten/Burk, Inga: »Die Roboter kommen. Folgen der Automatisierung für den deutschen Arbeitsmarkt«, INGDiBa Economic Research, 2015.

2          Vgl. Gary, Coock/Jude Lee/Tamina Tsai u.a.: »Clicking Clean: Who Is Winning The Race To Build A Green Internet?«, Washington, Januar 2017.

3          Maxim Efoui-Hess: »Climate Crisis: The Unsustainable Use of Online Video. The Shift Project«, Juli 2019

4          IEEE 802.3 Ethernet Working Group: IEEE 802.3 Industry Connections Bandwith Assessment, Juli 2012

5          »Stromfresser Internet. Die Schattenseiten der Digitalisierung«, ZDF-Dokumentation vom 23.9.2018, online unter: https://www.zdf.de/dokumentation/planet-e/planet-e-stromfresser-internet-100.html externer Link [11.02.2020]

6          Cico Network Traffic Forecast 2016 and Ericson Mobility Report belegen, dass 80 Prozent des Internettraffics durch Videos verursacht werden. Eine Extrapolation der Zahl auf den Stromverbrauch des Internets ergibt, das 80 Prozent des durch Internetnutzung verursachten Stroms auf Videostreamingdienste entfallen (s. hierzu auch Anja Höfner, Vivian Frick (Hrsg.): »Bits und Bäume«, München, S. 33)

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