Wenn der mit dem Messer kommt: Warum die Vorgeschichte der tödlichen Polizeischüsse in Bremen-Gröpelingen nirgends vorkommt
Dossier
„… Am Donnerstagnachmittag wurde M. in Bremen-Gröpelingen von der Polizei erschossen. Von einem Mitarbeiter der Espabau, einer Wohnungsbaugesellschaft, wurde vorher die Polizei gerufen. Erzählungen von Anwohnerinnen zufolge war der Mieter M. mit dem Vorgehen des Mitarbeiters nicht einverstanden, verhielt sich aber nicht auffällig oder aggressiv. Auch als die Polizei eintraf, blieb M. ruhig. Erst als sich die Polizistinnen (2 Uniformierte und 2 in zivil) nähern und M. gegenüber Maßnahmen ergreifen wollten, kam bei M. ein größeres Messer zum Vorschein. Auf Videos, die von Anwohnerinnen gemacht wurden, kann man dann sehen, dass M. zunächst unentschlossen ist, wohin er gehen soll. Drei der Polizistinnen befinden sich in einigen Metern Entfernung, eher in einer Rückwärtsbewegung, einer von ihnen geht aber auf M. zu und sprüht aus nächster Nähe Pfefferspray auf M. Der rennt in diesem Moment in die Richtung des sprühenden Polizisten. Ein anderer Polizist eröffnet sofort das Feuer und trifft M. mit zwei Kugeln in den oberen Teil seines Körpers. Das Video endet. M. wird kurze Zeit später abtransportiert und verstirbt an den Schussverletzungen. Todesursache: Polizei. Anwohner*innen erzählten, dass sie während des Polizeieinsatzes und auch noch längere Zeit danach ihre Häuser nicht verlassen durften. (…) Als Reaktion auf die Tötung von M. wurde am späten Nachmittag der Tatort besucht. Es wurden Gespräche mit den Anwohner*innen geführt und angekündigt, dass später am Abend eine Demonstration stattfinden würde, die in besagtem Innenhof enden sollte. Am späten Abend sind etwa 50 Personen in einer Spontandemonstration etwa eine halbe Stunde durch Gröpelingen zum Tatort gezogen…“ – aus dem Beitrag „Todesursache: Polizei“ am 20. Juni 2020 bei end of the road
– worin auch noch über die (zivile) Begleitung der Demonstration berichtet wird… Siehe dazu einen ergänzenden Beitrag zu den Bremer Todesschüssen – und einen Hintergrundbeitrag zum sehr passenden Thema Polizei und Arme…
- Neues Beweismaterial aufgetaucht. Tödliche Schüsse in Gröpelingen: Ermittlungen wieder aufgenommen
„Die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen zu den tödlichen Schüssen der Polizei auf einen 54-Jährigen in Gröpelingen eingestellt. Nun müssen wieder aufgenommen werden. Es gibt neues Beweismaterial. (…) Die Generalstaatsanwaltschaft hat der Beschwerde des Anwaltes der Familie des Getöteten gegen die Einstellung des Verfahrens stattgegeben und weitere Ermittlungen angeordnet. (…) „Es ist neues Beweismaterial aufgetaucht“, erklärte Arne Kluger, Sprecher der Behörde. Gemeint sind bislang nicht bekannte Videoaufzeichnungen. Damit auch die in die Entscheidung der Staatsanwaltschaft einfließen können, habe man den Fall in den Status eines Ermittlungsverfahrens zurückgesetzt, über das am Ende erneut die Anklagebehörde zu entscheiden hat, erläuterte Kluger. „Das Ermittlungsverfahren ist wieder offen.“ Für Anwalt van Lengerich bedeutet dies, dass „sämtliche Ermittlungen neu geführt werden können“. Somit bestünde die Möglichkeit, diesmal zu einer anderen Entscheidung zu kommen. Soll heißen, dass doch Anklage gegen einen oder mehrere Polizisten erhoben wird.“ Artikel von Ralf Michel vom 28.01.2021 im Weser Kurier online - Todesschüsse, die – trotz aller staatsanwaltschaftlichen Bemühungen – nicht einfach akzeptiert werden dürfen: Proteste in Bremen als Auftakt einer Kampagne gegen Straffreiheit
„… Am 18. Juni wurde der 54-jährige Mohamed I. im Bremer Arbeiterviertel Gröpelingen während seiner Kellerräumung von Polizisten erschossen. Jetzt haben am Donnerstag, dem 2. Juli, seine Tochter und Schwägerin zusammen mit verschiedenen Gruppen eine Demonstration durch die Bremer Innenstadt organisiert, an der sich etwa 350 Personen beteiligten. Die Demonstration war geprägt von kämpferischen Reden, die den Tod von Mohamed als das benannten, was es war: Ein Mord. Die Angehörigen erzählten, was für ein Mensch Mohamed war, dass er zwar psychisch krank war, aber ein freundlicher und zurückhaltender Mann, der bei den Nachbarn und besonders den Kindern sehr beliebt war. Dass es nie Probleme mit ihm gab. Sie forderten, dass die Ermordung ihres Vaters und Schwagers lückenlos aufgeklärt wird, dass die Polizisten zur Rechenschaft für ihren Mord gezogen werden und dass die Polizei Bremen sich endlich äußert und ihnen Auskünfte gibt. Es wurde während der gesamten Demonstration durch die Bremer Innenstadt immer wieder gesagt, dass dies kein Einzelfall gewesen ist und sich in eine Reihe von Morden durch die Polizei gerade gegen ausländische Menschen stellt. Unter anderem gab es eine Kundgebung vor dem SPD-Büro, wo sich direkt an den Bremer Innensenator Mäurer gewendet wurde und gefordert wurde, dass er sich äußert. Natürlich zeigte er sein Gesicht nicht und so wurden die Forderungen an die Fassade des Büros angebracht…“ – aus dem Bericht „Demonstration in Bremen: Justice for Mohamed“ am 04. Juli 2020 bei Dem Volke Dienenüber den Auftakt einer Kampagne gegen Straffreiheit
- „In Gedenken an den getöteten 54 jährigen Gröpelinger“ am 22. Juni 2020 bei end of the road
ergänzt: „… Am Donnerstag wurde ein 54 jähriger Bremer von der Polizei bei einem Einsatz getötet. Die Behörden halten sich bisher bedeckt und geben wenig Informationen raus. Unseren Informationen zufolge wurde der Betroffene von der Wohnungsbaugesellschaft Espabau vorher fristlos gekündigt. Nach einem Besuch von Mitarbeitern der Firma bei ihm Zuhause sollte er von der Polizei zwangsweise zur „Untersuchung“ zum sozialpsychiatrischen Dienst gebracht werden. Dagegen hat sich der Mann gewehrt, dabei später auch ein Messer in die Hand genommen um sich zu verteidigen. Die Polizist*innen haben die Situation mit vier auf ihn gerichteten Waffen und Pfefferspray weiter eskaliert. Nachdem die Polizei Pfefferspray einsetze, lief der Mann los und wurde mit zwei Schüssen getötet. Wir fragen uns: Warum sollte der Mann gegen seinen Willen in Begleitung von Polizei zu einer Untersuchung gebracht werden? Warum gehen bewaffnete Polizist*innen zu einer Person, die bekanntermaßen an starken Ängsten leidet? Warum wurde der Einsatz nicht abgebrochen als klar wurde dass die Situation eskalierte? In den Medien wird immer davon gesprochen, der Mann sei „psychisch krank“ gewesen und habe ein Messer gehabt, als sei dies die Erklärung für seinen Tod und die Rechtfertigung für die Tötung. Wir sagen: Was ist das für ein krankes System, in dem Menschen in solche schwierigen Lebenslagen gedrängt werden? In dem eine Firma einer Person ihr Zuhause aufkündigen kann? In dem ein Mensch mit psychischen Problemen soweit in die Enge getrieben wird, dass er sich vier bewaffnete Personen gegenüber sieht…“
- „Der Klassencharakter der Polizei“ von Hannes Kerger und Bernhard Pirkl am 18. Juni 2020 in der jungle world
(Ausgabe 25/2020) zur Polizei als Einrichtung des Kampfes gegen die Armen, an den Beispielen der USA und der BRD, worin es unter anderem heißt: „… Es steht außer Frage, dass die Polizei von Rassismus geprägt ist. Das legen auch in Deutschland die Verdächtigungen gegen die Opferfamilien nach den NSU-Morden oder der Widerstand der Polizeigewerkschaften gegen das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz offen. Die Frage ist aber nicht, ob die Polizei eine rassistische Institution ist, sondern warum das Ressentiment besonders in dieser Institution so wirkmächtig ist. Die Annahme eines Systems weißer Privilegien, das der Ursprung und Grund von Ausbeutungs- und Repressionsverhältnissen sei, greift zu kurz und wird im Übrigen auch der heterogenen Lebenswelt (post-)migrantischer Subjekte nicht gerecht, die ebenso gut auch als Kleinunternehmer und Gewerbetreibende eine Lobby organisieren können, um sichtbare Armut aus dem Stadtbild oder etwa vor ihren Läden zu vertreiben, statt zu denen zu gehören, die vertrieben werden. Der institutionelle Rassismus in Polizei und Sicherheitsbehörden hat seinen Grund in der schwerpunktmäßigen Verfolgung von blue collar crimes, also den Delikten und dem abweichenden Verhalten, die für Arbeiter und Arme spezifisch sind. Bereits in den fünfziger und sechziger Jahren wurde die soziale Selektivität in der kritischen Kriminologie dahingehend diskutiert, dass insbesondere die Kriminalität der sogenannten gefährlichen Klassen, der Surplusbevölkerung, polizeilich und strafrechtlich verfolgt wurde, während gegen white collar crimes die üblichen repressiven Mittel seltener eingesetzt wurden. So werden beispielsweise in den USA Eigentumsdelikte strafrechtlich verfolgt, die Zurückhaltung von Lohn jedoch nicht, obwohl diese einer 2017 veröffentlichten Studie zufolge in den USA einen geschätzten Schaden von 15 Milliarden US-Dollar verursachte und betroffene Arbeiter um durchschnittlich etwa 3 300 US-Dollar pro Jahr brachte...“