Studie: EU-Migrationspolitik spielt mit dem Leben von Flüchtlingen

EU: No Entrance. Titelbild zum isw-report 104 - Auf der Flucht. Fluchtursachen. Festung Europa. Alternativen. (Festung Europa, Februar 2016)„… Wissenschaftler haben harsche Kritik an der Flüchtlingspolitik der Europäischen Union geübt. „Wir sehen, dass die seit 2015 forciert eingeschlagene Politik der EU und ihrer Mitgliedsländer, die Grenzen gegenüber Fluchtmigranten dichtzumachen, mit dem Leben der Flüchtenden spielt“, sagte die Göttinger Migrationsforscherin Sabine Hess am Freitag. „Mehr noch, sie widerspricht den Schutzgeboten, wie sie die internationale Flüchtlingskonvention oder die europäische Menschenrechtscharta vorsehen.“ Hess ist Leiterin eines von der Universität Göttingen koordinierten Forschungsprojektes der EU, das die Erfahrungen von Flüchtlingen auf der sogenannten Balkanroute dokumentiert. Dazu haben die Wissenschaftler mehr als 500 Geflüchtete befragt. Ein nun vorgelegter Bericht beschreibt die Risiken, die verschiedenen Formen von Gewalt, Entbehrungen und Leid, mit denen die Flüchtlinge zwischen 2013 und 2018 auf ihrem Weg nach Europa konfrontiert waren. „Der Bericht zeigt sehr klar, dass es eine direkte Korrelation zwischen dem Ausmaß an lebensbedrohlichen Risiken und Menschenrechtsverstößen an den Grenzen sowie den Migrations- und Grenzpolitiken der EU gibt“, sagte Hess. Ko-Autor Vasileios Petrogiannis von der Universität Uppsala in Schweden betonte: „Zurückblickend lässt sich sagen, dass 2015 einen der wenigen historischen Momente in der europäischen Geschichte darstellt, in dem Staaten versucht haben, einen humanitären Fluchtkorridor zu errichten.“ Beitrag vom 7. September 2020 von und bei MiGAZIN externer Link und weitere Informationen zur Studie:

  • Siehe die Presseinformation vom 04.09.2020 der Uni Göttingen externer Link: „Fünf Jahre später: Balkanroute bleibt Ausnahmeerscheinung – Forschungsbericht rekonstruiert Fluchtbewegung von 2015 anhand von 500 Interviews“
  • Der Bericht „Border Experiences and Practices of Refugees“ wurde auf Englisch veröffentlicht und kann unter www.respondmigration.com/wp-blog/border-experiences-and-practices-of-refugees-comparative-report externer Link heruntergeladen werden. In der RESPOND Working Paper Series finden sich unter www.respondmigration.com/wp-blog externer Link ähnliche Berichte zu europäischen Grenzregimen und -praktiken in Italien, der Türkei, Griechenland, Ungarn, Österreich, Polen, dem Vereinigten Königreich und Schweden.
  • Migrationsforscherin: „Politik des Sterbenlassens“ an EU-Grenzen
    Im tagesschau-Interview von Jasper Steinlein vom 4. September 2020 externer Link weist die Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, Sabine Hess, auf dem Umstand hin: „… Die Ursachen – kriegerische und desaströse politische Systeme, die Flüchtlinge „produzieren“ – haben sich nicht allzu sehr verändert. Auch die Hauptherkunftsländer der Flüchtlingsgruppen sind konstant geblieben. Was sich massiv geändert hat, ist die weltweite und vor allem die europäische Politik. Das heißt: Obwohl Menschen 2015 und jetzt 2020 aus den gleichen Gründen aufbrechen, haben sie andere – schlechtere – Chancen bei der Frage, wie mit ihrer Flucht umgegangen wird. Wenn wir uns vorstellen, dass wir eigentlich immer noch eine internationale Flüchtlingskonvention haben, liegt darin das eigentliche Problem. (…) Wir sehen schon, dass die massive Aufrüstung der Grenzen und der tägliche Rechtsbruch durch Zurückweisungen dazu geführt hat, dass immer weniger Menschen sich auf die Fluchtrouten begeben. So ist zum Beispiel mit der Balkanroute in den Jahren 2015 und 2016 kurzzeitig der Frauenanteil unter den Geflüchteten gestiegen, weil sie für kurze Zeit ein halbwegs sicherer Fluchtkorridor war. Daher kann ich sagen: Die Verschärfung des EU-Asylrechts ist vor allem eine frauenfeindliche Politik. So berichten meine Mitarbeiterinnen, die auf den griechischen Inseln in den letzten Jahren forschen, von Mädchen- und Frauenhandel und Zwangsprostitution in den Lagern. Diese Politik führt auch zu dem Eindruck, dass das Leben von Menschen aus dem Globalen Süden momentan wenig zählt – und das wirft vor dem Hintergrund einer „Black Lives Matter“-Bewegung massive Fragen für Europa auf. Denn es sind schwarze Körper, die an der EU-Außengrenze drastisch abgewehrt werden und sterben. Nicht nur im Mittelmeer, sondern auch entlang der türkisch griechischen Grenze, zwischen Bosnien und Kroatien werden immer wieder Tote aufgefunden. Man könnte auch von einer Politik des Sterbenlassens sprechen. Die Menschen, die überhaupt noch ankommen, sind konfrontiert mit einem sehr verschärften Asylsystem, mit Schnellverfahren, mit prekären Lebensverhältnissen, die eigentlich für europäische Verhältnisse unglaublich sind…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=177741
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