Die vergessene Migration – Auch in der DDR gab es Zuwanderer. Ehe sie sich die Anerkennung erkämpfen konnten, war das Land nicht mehr da
„Die Erzählungen über den Osten, sie haben wieder Konjunktur, die Erklärungen der Gründe für Rassismus und Ressentiment, für den Erfolg der AfD. Eine dabei weit verbreitete Erklärung lautet: Die DDR war kein Einwanderungsland – und wo keine Migranten lebten und leben, da gedeihen Vorurteile besonders gut. Siehe Westen: Dort gab es Gastarbeiter, ist die AfD schwächer. Belege für die Plausibilität dieser Erzählung kann man finden. In die DDR immigierten viel weniger Menschen als in die Bundesrepublik, im Osten leben auch heute noch wesentlich weniger Migranten als im Westen oder Süden. Dass etwas an der Vorstellung von einer quasi migrationsfreien DDR dennoch nicht ganz stimmen kann, zeigt schon ein Blick auf die Ausschreitungen, die zu Beginn der 1990er Jahre in Ostdeutschland stattfanden: In Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda etwa richteten sich die rassistischen Attacken unter anderem gegen Wohnheime von Vertragsarbeitern aus Vietnam und Mosambik. Auch im Landkreis Zwickau lebten in den 1980er Jahren Tausende ausländische Vertragsarbeiter – in der gesamten DDR waren es 1989 fast 100.000. In den Städten und Gemeinden der Industriehochburg in Westsachsen – Zwickau, Meerane, Crimmitschau, Wilkau-Haßlau, Werdau und andere – standen DDR-Bürger und Migranten zusammen in den Volkseigenen Betrieben an Werkbank und Webstuhl. Einer von ihnen war Nguyen Hoang, Vorsitzender des vor 20 Jahren gegründeten Vereins der Vietnamesen Westsachen-Zwickau e. V., der sich um Integration und Kulturpflege bemüht. Etwa 600 Mitglieder sind in dem Verein organisiert, die meisten frühere Textilarbeiter. (…) Eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung um den Platz von und den Umgang mit Vertrags- oder eben Gastarbeitern wie nach 1973 im Westen, an der diese auch selbst partizipierten, hatte bis zur Wende nicht stattgefunden. Nachholen ließ sich das später nicht mehr. Denn als die Betriebe schlossen, verschwanden nicht nur viele Vertragsarbeiter abrupt aus den Leben jener, mit denen sie am Arbeitsplatz Seite an Seite gestanden hatten – sondern mit den Arbeitsplätzen verschwand auch das Einzige, was dauerhaft miteinander verbunden hatte.“ Beitrag von Nelli Tügel vom 10. September 2019 aus ‚der Freitag‘ Ausgabe 32/2019