„Wohnen minus Freiheit“: Schleswig-Holstein eröffnet Abschiebungsgefängnis in Glückstadt – auch für Frauen und Kinder
Dossier
„Passend zum 60. Jahrestag des Berliner Mauerbaus wird die Landesregierung Schleswig-Holstein am Montag, den 16. August, das neue norddeutsche Abschiebungsgefängnis in Glückstadt in Betrieb nehmen. Die Anlage, eingebettet in ein 1936 für eine geplant tausendjährige Zukunft von Gewalt und Unterdrückung erbautes Kasernenareal, ist mit einer 6 Meter hohen Mauer umgeben, die an Höhe und Betoniertheit alles übertrifft, was je durch Berlin oder zwischen Süd- und Nordamerika durch die Wüste gezogen worden ist. Damit nicht genug, wird auch innerhalb des Geländes der natürliche Freiheitsdrang der betroffenen Inhaftierten durch ein martialisches System zahlreicher 5 Meter hoher mit diversen schwerstverletzungsintensiven NATO-Draht-Rollen gekrönten Metallgitterzaunbarrieren klein gehalten…“ Pressemitteilung vom 13.08.2021 beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein
, siehe mehr daraus und dazu:
- Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Hinter den verschärften Abschiebungsmaßnahmen stehen Menschen – zum Beispiel Ibrahim, der im Abschiebeknast Glückstadt sitzt. Ein Besuch.
„Ein Besuch in der Abschiebehafteinrichtung Glückstadt (AHE) in Schleswig-Holstein bedeutet Warten. Es heißt Ausweise abgeben an der Pforte. Es heißt, sich Türen aufschließen lassen von Wärter:innen, die viele Schlüssel am Gürtel tragen und hinter einem wieder abschließen: auf, zu, auf, zu. Es heißt, Handys in den Spind, abgetastet werden, Schuhe ausziehen. Die Wärterin knetet sie mit behandschuhten Händen durch, aber viel, viel weniger gründlich als der Wärter die Turnschuhe des Übersetzers. Der Übersetzer steht in Socken da, sein Gesicht wirkt abwesend. Er versteht Fragen nicht mehr. Erst als er seine Schuhe wieder hat, kommt er zurück. „Das erinnert mich an das, was ich durchgemacht hab“, sagt der junge Mann, der vor einigen Jahren aus Syrien über Bulgarien nach Deutschland gekommen ist und seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Er hat keinen sicheren Aufenthalt. Die Abschiebehafteinrichtung Glückstadt ist eine ehemalige Militärkaserne, Baujahr 1936, und liegt am Rand der Stadt. Seit 2021 nutzen Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern den Komplex als Abschiebeknast. Eröffnet wurde er unter dem Motto „Wohnen minus Freiheit“. Er ist ausgelegt für 60 Menschen. Weil sich zu wenig Personal fand, gibt es derzeit nur 42 Plätze. (…) Ibrahim Erdam hat einen von ihnen. Der 24-Jährige, weiches Gesicht, ruhige Art, ist heute der einzige Inhaftierte, der an einem der Tische im Besuchsraum sitzt. Als die Tür aufgeht, steht er auf und lächelt. Wie es ihm geht? Sei schwer zu übersetzen, sagt der Übersetzer, sowas wie: „Naja.“ Ibrahim fragt zurück: „Wie fühlt sich das an, wenn deine Freiheit weggenommen wird?“ Seit dem 16. April sitzt Ibrahim in Abschiebehaft. Er kommt aus einer kurdischen Familie, ist in Syrien geboren, aber in der Türkei aufgewachsen. Nach Deutschland kam er in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Jetzt ist er ein Dublin-Fall und soll nach Finnland abgeschoben werden, wo er auf der Flucht über Griechenland im vergangenen Jahr registriert wurde. (…) Die Geschichte von Ibrahim ist nicht außergewöhnlich. Es gibt zehntausende Menschen in Deutschland, die aktuell in Dublin-Verfahren stecken. Ein Teil von ihnen ist in Abschiebehaft, wie viele genau, dazu gibt es keine Zahlen. (…) Er selbst könne seine Gedanken kontrollieren, aber merke, dass es vielen anderen nicht so gehe, sagt Ibrahim. Nachts höre er sie singen, schreien und gegen die Wand schlagen. Vor einigen Tagen habe jemand versucht, sich umzubringen. Er habe den Krankenwagen, der die Person abgeholt hat, vom Fenster aus gesehen. Mittlerweile sei die Person wieder da. Die Haftleitung hat sich bis Redaktionsschluss nicht dazu geäußert. Es wäre nicht der erste Fall dieser Art in der AHE Glückstadt. Anfang vergangenen Jahres brannte es kurz nacheinander zwei Mal in Zellen von Inhaftierten. Der taz sagte ein junger Mann, der nach Marokko abgeschoben werden sollte, damals, dass er seine Matratze angezündet habe, weil er sich umbringen wollte. Update: Am Mittag des 5.5. erreicht uns die Nachricht von Ibrahims Abschiebung. Er sitze im Flugzeug nach Finnland, schreiben seine Unterstützer:innen.“ Bericht von Amira Klute vom 2. Mai 2025 in der taz online - Demo am 25. Mai 2024: Kein Abschiebegefängnis in Glückstadt und anderswo! „Bis das Gefängnis wieder schließt“
„Am 16. August 2021 wurde das Abschiebegefängnis in Glückstadt in Betrieb genommen. Das Gefängnis wird von Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg gemeinsam genutzt. Für eine Inhaftierung reicht bereits der Verdacht aus, dass ein Mensch sich seiner Abschiebung entziehen könnte. Für die meisten Inhaftierten endet die Gefangenschaft mit ihrer Abschiebung.
Seit der Eröffnung des Knastes wurden mehr als 500 Menschen inhaftiert. Es ist mehr als deutlich geworden, dass das von der schleswig-holsteinischen Regierung propagierte „Wohnen minus Freiheit“ an Zynismus nicht zu überbieten ist. Stacheldraht, eine 6m hohe Mauer, Schließzeiten, ein vergitterter Innenhof sowie eine Isolationszelle mit Fixieroption sind das absolute Gegenteil von Freiheit. Die Gefangenen berichten immer wieder über die unhaltbaren Zustände und zeigen Widerstand – sei es durch Hungerstreiks oder Ausbruchsversuche. Die psychischen Belastungen für die Inhaftierten sind durch die Umgebung, ungerechte Behandlung und den Freiheitsentzug enorm. Die medizinische Versorgung der Gefangenen ist katastrophal. Immer wieder kam es in den letzten Monaten zu Suizidversuchen und Selbstverletzungen. Mindestens zwei Brände gab es im Knast, u.a. weil ein Inhaftierter aus Verzweiflung seine Matratze entzündete. Die Hungerstreiks, Suizid- und Ausbruchsversuche zeigen wie aussichtslos und zermürbend die Gefangenschaft für die Menschen ist.
Der Abschiebeknast ist ein weiteres Element der systematischen Verhinderung und Kriminalisierung von Flucht. Neben den europäischen Asylrechtsverschärfungen, immer härteren Abschiebegesetzen und einer seit Jahren ihre Mauern immer höher ziehenden Festung Europa dient Glückstadt als ein weiteres Symbol des deutschen und europäischen Grenzregimes. Setzen wir unsere Solidarität dieser Abschottungspolitik entgegen: Freiheit gibt es nur, wenn dies Freiheit für alle Menschen weltweit bedeutet.
Solange der Knast weiter besteht, rufen wir dazu auf für die Freiheit aller Inhaftierten zu kämpfen. Ihr mutiger Widerstand muss gehört und nach draußen getragen werden. Freiheit für alle Inhaftierten! Bis das Gefängnis wieder schließt! Gegen jede Abschiebung und jedes Abschiebegefängnis!“ Aufruf der Kampagne gegen das Abschiebegefängnis in Glückstadt(SH) zur Demonstration „Bis das Gefängnis wieder schließt!“ am Samstag, 25.05.24, 13Uhr, Start: Bahnhof Glückstadt
- Demo am 13.5.2023 in Glückstadt: Gegen jede Abschiebung und jedes Abschiebegefängnis!
„Seit August 2021 ist das Abschiebegefängnis in Glückstadt (Schleswig-Holstein) bereits in Betrieb und allein im Jahr 2022 wurden über 200 Menschen dort inhaftiert. Das Gefängnis wird von Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg gemeinsam genutzt. Für eine Inhaftierung reicht bereits der Verdacht aus, dass ein Mensch sich seiner Abschiebung entziehen könnte. Für die meisten Inhaftierten endet die Gefangenschaft mit ihrer Abschiebung. Mit dem zynischen Motto „Wohnen minus Freiheit“ wird versucht, den Knast als besonders humane Hafteinrichtung darzustellen und so die menschenverachtende Realität der Abschiebehaft zu verschleiern. Eine sechs Meter hohe Mauer, Schließzeiten, ein vergitterter Innenhof sowie eine Isolationszelle mit Fixieroption für Inhaftierte haben nichts mit „Wohnen“ zu tun. Die Berichte von Inhaftierten sprechen ebenfalls für sich. Die psychischen Belastungen durch die Umgebung, ungerechte Behandlung und den Freiheitsentzug sind enorm.
Hungerstreiks und Ausbruchsversuche zeigen, wie aussichtslos und zermürbend die Gefangenschaft für die Menschen ist. Abschiebehaft ist ein Teil des Kriegs gegen Geflüchtete und Migrant:innen, genau wie die immer weiter voranschreitende militärische Aufrüstung der EU-Außengrenzen oder die zunehmende Kriminalisierung von Seenotrettung. Wir sind solidarisch mit allen Menschen auf der Flucht, mit allen Menschen, die die Hoffnung auf Frieden, Gleichberechtigung und Perspektive zur Migration bewegt. Wir wissen, Freiheit gibt es nur, wenn dies Freiheit für alle Menschen weltweit bedeutet! In diesem Sinne rufen wir zur überregionalen Demonstration am 13.05.2023 in Glückstadt auf! Gegen jede Abschiebung und jedes Abschiebegefängnis! No one is free, until everyone is free!“ Aufruf auf der Kampagnenseitezur Demo: Treffpunkt: 13 Uhr am Hafen in Glückstadt, 13.30-14.30 Uhr Zwischenkundgebung auf dem Marktplatz (400 Meter vom BHF), danach weiter zum Knast
- Weiter aus der Pressemitteilung vom 13.08.2021 beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein
(„Spurwechsel statt Abschiebungshaft! Zur Inbetriebnahme in Glückstadt fordert der Flüchtlingsrat eine unabhängige Rechtsberatung im künftigen Abschiebungsgefängnis“): „… Abschiebungshaft ist ein anachronistisches Instrument rückwärtsgewandter nationalistischer Migrationskontrollpolitik, das abgeschafft gehört. Dass es stattdessen grundsätzlich möglich sein soll, unter 60 Abschiebungshäftlingen in Glückstadt sogar Frauen und Kinder einzusperren, ist für den Flüchtlingsrat besonders kritikwürdig. Weder mit noch so viel Sportgeräten, Internetzugängen, vermeintlicher Souveränität der Betroffenen beim Selbsteinschluss, noch mit dem euphemistischen Wording vom „Wohnen minus Freiheit“ können die drei beteiligten Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Schleswig-Holstein darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier um einen Freiheitsentzug ohne Straftatbestand handelt. Denn inhaftiert werden nun künftig auch in Glückstadt nur solche Menschen, denen nichts weiter vorgeworfen wird, als dass sie an dem Ort, wo sie leben, gern bleiben wollen…“, siehe dazu Pro Asyl:
- PRO ASYL kritisiert Ausbau der Abschiebehaft am Beispiel Glückstadt
„Anlässlich der heutigen Eröffnung einer 3‑Länder-Abschiebehaftanstalt in Norddeutschland fordert PRO ASYL ein Ende der „Abschieberitis“. Die Bundesregierung muss Europarecht respektieren, rechtsstaatliche Prinzipien müssen auch für Geflüchtete gelten. Rechtsanwalt Peter Fahlbusch kritisiert: „Rund die Hälfte aller Menschen sitzt zu Unrecht in Abschiebehaft“. Heute geht die gemeinsame Abschiebehaftanstalt von Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern in Glückstadt in Betrieb. PRO ASYL kritisiert, die ehemalige Marinekaserne vermittle durch Sportplätze, Gebetsräume und Kickertische den Eindruck einer „schönen“ Abschiebehaft, dies verschleiere aber, dass dort Menschen eingesperrt werden, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen. „Geflüchtete werden wie Straftäter behandelt und in ihren Freiheitsrechten beraubt. Abschiebehaft wird immer mehr zum Regelfall“, kommentiert Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. Aktuelle Zahlen aus einer Antwort der Bundesregierungauf eine Anfrage der Linken im Bundestag belegen, dass vor allem Bayern, Bremen, Hamburg und Niedersachsen stark auf Abschiebehaft setzen. Mehr Haft führt aber nicht zu mehr Abschiebungen, wie ein Blick in die Praxis zeigt: Berlin ließ im Jahr 2019 nur 18 Ausreisepflichtige in Haft setzen – und schob doch 995 Menschen ab. (…) Laut der Antwort der Bundesregierung
auf die Anfrage der Linken lag die Abschiebungshaftkapazität in Deutschland mit Stand Ende Mai 2021 bei 619 Plätzen. Ende April 2017 waren es noch unter 400 Plätzen gewesen. Dennoch spricht die Bundesregierung von einer unvorhersehbaren „Notlage“ bei Abschiebungshaftplätzen, weshalb es den Ländern gesetzgeberisch bis Mitte 2022 ermöglicht wurde, Geflüchtete in regulären Gefängnissen zu inhaftieren – eine Praxis, die europarechtswidrig ist. Die Bundesregierung muss sich deshalb aktuell vor dem EuGH rechtfertigen, am 16. September wird hierzu in Luxemburg die mündliche Verhandlung stattfinden.“ Pressemitteilung vom 16.08.2021
- »Die Hälfte der Menschen in Abschiebehaft ist zu Unrecht inhaftiert«
„Am 16. August geht die Abschiebehaftanstalt von Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern in Betrieb. In der ehemaligen Marinekaserne sollen bis zu 60 Geflüchtete unterkommen; 18 Mio. Euro zahlen die drei Länder jährlich dafür. Rechtsanwalt Peter Fahlbusch kritisiert im Interview die strukturellen Missstände in Abschiebehaftanstalten…“ Interview am 13.08.2021 bei Pro Asyl
Siehe die Kampagnenseite von: Kein Abschiebegefängnis in Glückstadt und anderswo! Kampagne gegen das Abschiebegefängnis in Glückstadt (SH)