[Am Bsp. Lesbos] Wenn die Hilfe nicht mehr hilft: Helfen zu wollen, kann in der Flüchtlingsarbeit auch schaden

Keine Macht für Niemand!Gut gemeint heißt nicht automatisch gut gemacht. Helfende in der Flüchtlingsarbeit sollten ihre Strategien überdenken. Wenn man auf Lesbos mit Geflüchteten arbeitet, ist es wichtig, die eigene Rolle und die eigene Beteiligung an den Ereignissen zu reflektieren: Ist man Teil eines Problems oder Teil einer Lösung? Beispiele für problematische Entwicklungen finden sich in den Nachwirkungen des Brandes in Moria. Einige Flüchtlingshelfer und NGO-Mitarbeiter, die auf Lesbos an Ort und Stelle sind, kritisierten die nach dem Brand von der Armee aufgebaute Notunterkunft sehr scharf: Da sie auf dem Gelände eines ehemaligen, aber nicht vollständig geräumten Schießplatzes eingerichtet und mit Stacheldraht umzäunt wurde, fühlten sie sich an ein Konzentrationslager erinnert. (…) Viele beschlossen, lieber unterzutauchen, als das neue Lager zu beziehen. Andere ließen sich registrieren, zeigten sich aber überzeugt, dass sie dort sterben würden. (…) Ein weiteres Beispiel für Schaden, den NGOs anrichten können, wenn sie außerhalb ihrer Zuständigkeit handeln, ist das Flugzeug, das die niederländische NGO »Let’s bring them here« finanziert und angeschafft hat. Weder die niederländische noch die griechische Regierung unterstützten das Projekt. Ungeachtet dessen blieb die NGO bei ihren Plänen, Geflüchtete von der Insel auszufliegen, und am 5. Oktober hob das Flugzeug ab. Selbstverständlich erhielt die Maschine keine Landeerlaubnis und musste umkehren. (…) sollte nicht in Frage gestellt werden, dass Griechenland dafür verantwortlich ist, die Menschenrechte der an seinen Küsten Angekommenen zu achten und ihre Versorgung zu garantieren. Diese Aufgabe kann und sollte keine NGO für sich beanspruchen. Man nennt sie schließlich nicht umsonst Nichtregierungsorganisationen…“ Artikel von Shirin Tinnesand in der Jungle World vom 26.11.2020 externer Link in der Übersetzung aus dem Englischen durch Kirsten Achtelik – siehe dazu:

  • Falsche Solidarität – Ungewohnter Hilferuf aus Moria New
    Die Moria White Helmets bitten mögliche Helfer:innen sich von der Insel Lesbos fernzuhalten. Grund dafür ist nicht nur die COVID-Pandemie. „Wir verstehen es wirklich nicht mehr“, schreiben die Moria White Helmets in einer Mitteilung. Zusammen mit anderen lokalen Gruppen sind sie sich einig, dass jede:r, der/die nach Lesbos kommt, ein COVID-Risiko mit sich bringt. Mit nur einem Krankenhaus auf der Insel würde man den Geflüchteten die bereits stark limitierten Plätze wegnehmen. Darum heißt der dringliche Appell: „Vielen Dank für eure Hilfsbereitschaft, aber bleibt in euren Ländern.“ Es sei nicht der richtige Moment, um nach Lesbos zu kommen. Die COVID-Infektionszahlen sind auf einem neuen Rekordhoch. Dieser Appell wurde bereits vor einiger Zeit an potentielle Helfer:innen gemacht. Gebracht scheint dies wenig zu haben. Während die lokalen NGOs und Organisationen den Geflüchteten erklären, vorsichtig zu sein, kommen immer mehr Freiwillige auf die Insel und bewerben sich selbst – ganz ohne Gesichtsmaske. „Wir bitten euch, wir sind in einer äußerst schlechten Situation. Versteht, dass Corona tödlich ist und kein Witz. Wir müssen das ernst nehmen.“ Auf dieses Problem macht auch der deutsche Journalist Thomas Osten Sacken seit einiger Zeit aufmerksam. „Zum guten Ton gehört es, sich hier selbst abzulichten und dann ganz viel davon zu erzählen, wie man sich fühlt und was man gerade so denkt“, schreibt er etwa auf Facebook. „Am Besten, man bricht vor den Flüchtlingen noch in Tränen aus und lässt sich dann noch ein wenig von ihnen bedauern – ja auch das habe ich schon erlebt.“ Osten Sacken arbeitet selbst seit vielen Jahren für NGOs und ist mit den Strukturen bestens vertraut. Darum kritisiert er, wenn Freiwillige humanitären Krisen nutzen, um ihr eigenes Image aufzubessern oder gar Bilder falsch kontextualisieren. (…) „Ich lernte kürzlich, dass inzwischen irgendwelche Psychologen gar Kurse für PR-Leute aus NGOs anbieten, wie man ganz gezielt mit Bildern Mitleid erzeugen und so den Spendenfluss erhöhen kann: There is no Business like NGO-Business“, schreibt Osten Sacken. Dabei dokumentieren diese Bilder nichts, sagt er weiter, sondern triggern nur. „Sie erzählen den immer selben Narrativ, in dem man sich längst eingerichtet hat, der wohliges Schauern erzeugt, ein paar mehr Spenden generiert, die das Problem nicht lösen helfen und vielen über Jahre ein nicht unbeträchtliches Auskommen schafft.“ Das Moria Corona Awareness Team (MCAT) hat am Wochenende ebenfalls über die NGO-Situation berichtet. Laut einer Liste behaupten 73 Organisationen auf Lesbos für die Geflüchteten zu arbeiten. Bei 7500 Geflüchteten auf der Insel würde dies eine Organisation auf 100 Personen bedeuten. „Und noch immer warten Geflüchtete, um duschen zu können und so viele andere Dinge“, schreibt das MCAT in einer Mitteilung. „Je länger wir hier arbeiten, desto mehr Fragen haben wir.“ „Vielleicht liegen wir falsch, aber wenn jeweils zehn Organisationen sich auf ein Feld spezialisieren würde, wäre alles etwas einfacher und schneller.“ Auch würde man so Geld sparen. Denn: Aus einem Bericht der größeren NGOs habe das MCAT erfahren, dass viele der Spendengelder für die Organisationsstruktur der NGO verwendet wird. Dies sollte möglichen Spender:innen bewusst sein…“ Artikel von Christoph Pleininger vom 29. November 2020 im Alerta.blog externer Link
  • siehe auch unser Dossier: Humanitäre Krise in Griechenland droht zu eskalieren
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=182313
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