Die NSU-Urteilsbegründung: Voller Verständnis. Für die Täter

Der NSU war nicht zu dritt!„… In seiner Urteilsbegründung erläutert das Gericht nun, warum es von der Ahnungslosigkeit des Angeklagten E. so überzeugt ist. Zwar habe es eine „lockere persönliche Beziehung“ zur NSU-Zelle und eine „ideologische Verbundenheit“ gegeben, aber dies habe André E. nach Überzeugung der Richter „keine tief gehenden Einblicke in die Lebensumstände der drei untergetauchten Personen“ vermittelt. Vielmehr dürfte E. davon ausgegangen sein, „die drei würden ihren Lebensunterhalt aus grundsätzlich erlaubten und nicht schwerstkriminellen Quellen bestreiten“. Auch die Möglichkeit, dass das Trio terroristische Anschläge verübte, müsse sich André E. nicht erschlossen haben. Zwar sei ihm „die verbal geäußerte Ausländerfeindlichkeit der drei Personen geläufig“ gewesen. „Der Schluss von diesen Äußerungen auf deren Bereitschaft, ihre Ausländerfeindlichkeit in die Tat umzusetzen und Menschen aus ausländerfeindlich-rassistischen Motiven zu töten, liegt fern und wurde vom Angeklagten E. daher auch nicht gezogen.“ Auch der Umstand, dass seine drei Bekannten untergetaucht seien, hätte E. nach Meinung der Richter nicht unbedingt misstrauisch werden lassen müssen. Da ein konspiratives Leben im Untergrund nicht eng mit der Begehung von Raubüberfällen verknüpft sein müsse, habe er nicht damit rechnen können, dass seine drei Freunde die Wohnmobile, die er für sie mietete, für Raubüberfälle und einen Anschlag verwendeten. Erst 2006 sei der Kontakt zum Trio enger geworden, und zu diesem Zeitpunkt habe E. wohl auch von den Raubüberfällen des Trios erfahren. Das große Verständnis des Senats für den vermeintlich ahnungslosen André E. überrascht dann doch. Warum messen die Richter dem Umstand, dass E. das Trio bereits seit dessen Abtauchen 1998 kannte, den Flüchtigen 2000 eine Wohnung in Zwickau besorgte und zu der Zeit der Auto-Anmietungen als Mitgründer der Neonazi-Kameradschaft „Weiße Bruderschaft Erzgebirge“ die gleiche ideologische und gewalttätige Orientierung besaß wie Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, so wenig Bedeutung bei?...“ – aus dem Beitrag „Das Werk von 650 Tagen“ von Andreas Förster am 02. Mai 2020 im Freitag online externer Link (Ausgabe 18/2020). Siehe dazu fünf weitere aktuelle Beiträge – darunter die Stellungnahme von Elif Kubaşık auf NSU-Watch – zur Bewertung der Urteilsbegründung aus Sicht der Angehörigen der Opfer, die sich insgesamt von der bundesdeutschen Justiz kein bisschen verstanden fühlen:

„„Formelhaft, ahistorisch und kalt““ von Konrad Litschko am 02. Mai 2020 in der taz online externer Link zu den Reaktionen der Angehörigen der Opfer unter anderem: „… Elif Kubaşık saß im NSU-Prozess, immer wieder. Sie sagte als Zeugin aus, sie sprach ein Schlusswort, sie reiste auch zur Urteilsverkündung am 11. Juli 2018. „Dieser Tag hat sich bei mir eingebrannt“, schreibt Elif Kubaşık. Weil der Vorsitzende Richter Manfred Götzl seinen Urteilsspruch nur „kalt“ heruntergelesen habe. Weil er sie, die Opferangehörigen, darin mit keinem Wort erwähnte. Weil er Ismail Yozgat, den Vater des erschossenen Halit Yozgat, „mit Unbarmherzigkeit“ zum Schweigen brachte, als dieser im Saal vor Schmerz aufschrie. Und weil Götzl nichts zu den vielen offenen Fragen sagte, welche die Familien bis heute zur NSU-Terrorserie umtreiben. Elif Kubaşık musste damals den Saal verlassen. Und nun wiederholt sich alles. Denn vor wenigen Tagen legte Götzls Senat seine schriftliche Begründung des NSU-Urteils vor. Auf 3.025 Seiten sezieren die RichterInnen darin die Schuld von Beate Zschäpe und den vier Mitangeklagten an der NSU-Terrorserie, an den zehn Morden, den zwei Anschlägen und den 15 Raubüberfällen. Beate Zschäpe erhielt dafür lebenslängliche Haft, vier Mitangeklagte bekamen Haftstrafen von zweieinhalb bis zehn Jahren. Aber auch auf diesen 3.025 finden sich keine Ausführungen dazu, welche Folgen die Morde für die Angehörigen hatten. Und auch keine Worte zum jahrelangen Versagen der ErmittlerInnen und VerfassungsschützerInnen bei der NSU-Terrorserie. Für Elif Kubaşık ist das schwer zu verkraften. Deshalb schrieb sie nun ihre Erklärung, adressiert an Götzls Senat...“

Elif Kubaşıks Erklärung zum schriftlichen Urteil im NSU-Prozess“ am 01. Mai 2020 im Twitter-Kanal NSU-Watch externer Link – worin es grundsätzlich heißt:… „Ich wollte ein gerechtes Urteil. Aber dann kam der Tag, als Sie als Gericht das Urteil gesprochen haben. Dieser Tag hat sich bei mir eingebrannt. Ich habe nicht verstanden, warum wir Ihnen kein Wort wert waren. Die Gerechtigkeit, die ich uns gegenüber erhofft hatte, hat das Urteil nicht gebracht. Es ist, als ob Mehmet nur eine Nummer für Sie gewesen ist, als ob es unsere Fragen nicht gegeben hätte…Die Hoffnung, Antworten zu erhalten, habe ich trotz allem und trotz Ihnen nicht ganz aufgegeben. Es gibt zu viele Menschen, die um die Wahrheit kämpfen, die dafür sorgen, dass Mehmet und all die anderen Opfer nicht vergessen werden…“

„“Mit häss­li­cher Gleich­gül­tig­keit gegen­über den Betrof­fenen““ am 30. April 2020  bei LTO online externer Link zur Reaktion der Anwälte der Angehörigen auf die Urteilsbegründung: „… Das OLG München hatte das schriftliche Urteil in der vergangenen Woche – einen Tag vor dem Ende der Frist – bei der Geschäftsstelle hinterlegt. Zugestellt wurde es aber zunächst nur den Verteidigern und der Staatsanwaltschaft als Revisionsführer. Am Mittwoch und am Donnerstag wurde das Urteil nun auch Vertretern der Nebenkläger zugestellt. Besonders scharf kritisieren die Anwälte den formelhaften Aufbau des Urteils: „Immer wiederkehrende Textbausteine, die über Seiten gehen, erzeugen künstliche Länge.“ Das Urteil gebe „noch nicht einmal das ansatzweise“ wieder, was die Beweisaufnahme ergeben habe. „Diese Art der Urteilsabfassung spiegelt wider, dass die Richter des Oberlandesgerichts München kein Interesse an einer Aufklärung, noch nicht einmal im Rahmen der Anklage hatten und den Betroffenen mit hässlicher Gleichgültigkeit gegenüberstehen,“ heißt es in der Presseerklärung. In der Urteilsbegründung heißt es etwa über die neun Männer mit Migrationshintergrund, die zwischen 2002 und 2006 vom NSU ermordet wurden jeweils, das Opfer gehöre „aufgrund der durch sein Aussehen naheliegenden südländischen Abstammung“ zu der „von den drei Personen ausländerfeindliche-rassistisch definierten Opfergruppe“. Die Sätze sind wortgleich, lediglich der Name wird ausgetauscht. Das Urteil beschreibe die Ermordeten als „austauschbare Statisten“ und reproduziere damit die rassistischen Stereotype des NSU, so die Anwälte der Hinterbliebenen. Das Gericht erwähne nicht, dass die Opfer „Familienväter waren, die Ehefrauen, Kinder, Eltern und Geschwister hinterließen“...“

„“Wir waren Ihnen kein Wort wert““ von Annette Ramelsberger am 30. April 2020 in der Süddeutschen Zeitung online externer Link fasst die Kritiken von Angehörigen und Anwälten zusammen: „… Es ist für die Opfer wie ein Déjà vu. Bereits beim mündlichen Urteilsspruch am 11. Juli 2018 hatten die Familien der zehn Ermordeten Stunde um Stunde darauf gewartet, dass das Gericht sich zumindest mit einem Satz an sie wendet. Vier Stunden lang hatte Richter Manfred Götzl das Urteil verkündet, doch für die Familien, die fünf Jahre lang auf Gerechtigkeit gehofft hatten, auf eine Anerkennung ihres Leidens, hatte er keinen Satz übrig. Die Opfer warteten vergebens. (…) Anwälte einer ganzen Reihe von Opferfamilien greifen das Gericht nun in ungewöhnlich scharfer Weise an. Der Rechtsstaat habe die Opfer des NSU-Terrors im Stich gelassen, schreiben die 19 Anwälte aus Berlin, Kiel, Köln, Frankfurt, Stuttgart und Hamburg. Das Gericht stehe den Betroffenen „mit hässlicher Gleichgültigkeit“ und „extremer Kälte“ gegenüber. Das schriftliche Urteil sei ein „Mahnmal des Versagens des Rechtsstaats, der die Angehörigen der NSU-Mordopfer über Jahre erst kriminalisierte und nun endgültig im Stich gelassen hat.“ Der Senat unter Vorsitz von Götzl sei seiner Aufgabe der Wahrheitsfindung und der Wiederherstellung des Rechtsfriedens nicht gewachsen gewesen. „Das Urteil hat die Ergebnisse der fünfjährigen Beweisaufnahme bis zur Unkenntlichkeit verkürzt oder dreist verschwiegen.“ Vor allem die Beschreibung der Mordopfer im Urteil ist für die Anwälte so, als hätten die Richter durch die Augen der Täter gesehen. Sie nennen dafür Beispiele, etwa, wie Mehmet Kubaşık bezeichnet wird: „Aufgrund der durch sein Aussehen naheliegenden südländischen Abstammung gehörte Mehmet Kubaşık zu der von den drei Personen ausländerfeindlich-rassistisch definierten Opfergruppe“. Gemeint ist damit, dass der NSU ausländisch aussehende Menschen als Opfer ansah, die er töten und aus Deutschland vertreiben wollte...“

„So muss das OLG Mün­chen das NSU-Urteil ver­öf­f­ent­li­chen“ von Martin W. Huff  am 30. April 2020 bei LTO online externer Link zur vielfach hinterfragten Publikationsstrategie des Justizapparates unter anderem – unter vielen Hinweisen auf Grundsatzbeschlüsse: „… Denn obwohl beim Oberlandesgericht zahlreiche Anfragen von Medienvertretern und sonstigen Interessierten eingehen, gibt es noch keine endgültige Aussage, wie und wann eine Veröffentlichung genau stattfindet. Dass das OLG München die Anfragen von Medienvertreten ablehnen wird, ist bei der klaren Rechtslage kaum vorstellbar, auch wenn es darüber offenbar einige Missverständnisse gab. Nicht so eindeutig ist, ob das Gericht die Urteilsgründe auch an andere Interessierte auf Anfrage herausgeben oder gar in einschlägigen juristischen Datenbanken publizieren muss. Denn obwohl beim Oberlandesgericht zahlreiche Anfragen von Medienvertretern und sonstigen Interessierten eingehen, gibt es noch keine endgültige Aussage, wie und wann eine Veröffentlichung genau stattfindet. Dass das OLG München die Anfragen von Medienvertreten ablehnen wird, ist bei der klaren Rechtslage kaum vorstellbar, auch wenn es darüber offenbar einige Missverständnisse gab . Nicht so eindeutig ist, ob das Gericht die Urteilsgründe auch an andere Interessierte auf Anfrage herausgeben oder gar in einschlägigen juristischen Datenbanken publizieren muss...“

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