Musterfall Stuttgart: Rassismus in den Polizeistrukturen

Dossier

Stop racial profiling!„… Man sollte der Stuttgarter Polizei, insbesondere ihrem Präsidenten Franz Lutz, und dem baden-württembergischen Innenminister Thomas Strobl (CDU) dankbar sein. Viel prägnanter, als es eine Studie über racial profiling jemals vermocht hätte, zeigen sie, wie rassistisch diskriminierende Polizeiarbeit in der Praxis funktioniert und gerechtfertigt wird. Bereits kurz nach den Krawallen in der Stuttgarter Innenstadt hatte die Bild-Zeitung die polizeiliche Sortierung der festgenommenen Tatverdächtigen verkündet: »Zwölf Ausländer, neun Deutsche, drei Deutsche mit Migrationshintergrund.« Mittlerweile gibt es 39 Tatverdächtige, und die Stuttgarter Polizei betreibt, nein, keine »Stammbaumforschung«, wie die Stuttgarter Zeitung zunächst berichtet hatte, sondern »Recherchen bundesweit bei den Standesämtern«, wie Lutz korrigierte. »Bei weiteren elf deutschen Staats­angehörigen mit Migrationshintergrund steht dieser Migrationshintergrund noch nicht gesichert fest.« Lutz hat hier unfreiwillig eine gute Definition ­eines zentralen Elements des racial profiling geliefert. Gäbe es nun noch eine ehrliche Antwort auf die Frage, wie die Polizei den Migrationshintergrund, der ja vorgeblich erst gesichert festgestellt werden soll, ­bereits festgestellt hat, hätte man auch die Polizeikriterien für racial profiling ermittelt. Diese ehrliche Antwort wird es nicht geben, doch darf man aufgrund von Erfahrungswerten mutmaßen, dass Hautfarbe und Name ausschlaggebend sind. Strobl gebührt das Verdienst, den Zweck des Unternehmens verkündet zu haben: »Nicht zuletzt sollen für eine breite öffentliche Diskussion gegebenenfalls eindeutige und verlässliche Informationen zu den Tatverdächtigen kommuniziert werden können.« Damit sind natürlich nicht Informationen über Armut, Ausgrenzung, ­Erfahrungen mit Polizeigewalt und Schikanen oder dergleichen gemeint, und selbstverständlich kommt es Strobl nicht in den Sinn, ein rechts­kräftiges Urteil abzuwarten – es soll der Migrationshintergrund von juristisch betrachtet Unschuldigen »kommuniziert werden«. Umso dringlicher ist es, den US-amerikanischen Slogan »Defund the police« aufzugreifen. Der Auf­gabenbereich der Polizei kann erheblich verkleinert werden...“ – aus dem Beitrag „Verdächtiger Hintergrund“ von Jörn Schulz am 16. Juli 2020 in der jungle world externer Link (Ausgabe 29/2020). Siehe dazu auch einen Kommentar (einer Vertreterin der Amadeu Antonio Stiftung), einen Tweet über die Lobeshymnen eines olivgrünen Ministerpräsidenten auf die rassistische Vorgehensweise der Polizei und weitere:

  • Krawallnacht in Stuttgart: Polizist spricht von „Kanaken“, eine Strafe muss er nicht befürchten – Anzeige gegen Polizisten abgelehnt New
    „… Während den Ausschreitungen in Stuttgart in der Nacht vom 21. Juni nahm sich ein Polizeihauptmeister die Zeit, um vom Ort des Geschehens seinen Berufskollegen zu berichten. In seiner WhatsApp Voice Message wiegelte er gegen Migrant*innen auf, indem er die Jugendlichen auf dem Stuttgarter Schlossplatz mit den Worten „nur Kanaken“ identifizierte. Die Nachricht wurde aus den eigenen Reihen geleakt und sorgte bundesweit für Furore. Der Künstler und Bürgerrechtler Joshua Sonnenschein („Mordka“) hat den Beamten angezeigt. Darf ein Beamter das? Jawohl. Beamte dürfen im Dienst Bürger*innen verschmähen, solange sie es unter ihresgleichen tun. Dies geht aus einer Entscheidung der Stuttgarter Staatsanwaltschaft hervor, die eine Klageerhebung gegen den Stuttgarter Polizeihauptmeister S. abgewiesen hat. (…) Wer wundert sich da noch über einen 15-jährigen deutschen Jungen mit staatlich aufoktroyiertem Migrationshintergrund, der zum Monster-Schläger mutiert, obwohl er im Beweisvideo nicht ein einziges Mal um sich schlägt? Wen überrascht es da noch, warum Fälle mit Todesfolge in Polizeigewahrsam ohne Konsequenzen für die diensthabenden Polizeibeamten bleiben, wie im Falle Ahmads aus Syrien oder Jallohs aus Sierra Leone, die fixiert in ihren Zellen verbrannten. Wen erstaunt es, dass Polizeicomputer ungestraft missbraucht werden, um Menschen zu terrorisieren. Ja, wir leben im selben Land, aber in zwei unterschiedlichen Rechtssystemen, de facto in zwei Welten…“ Gastbeitrag von Joshua Sonnenschein vom 25. September 2020 bei der Frankfurter Rundschau online externer Link
  • „Stammbaumforschung“ nach Krawallen in Stuttgart: Seelengespenst des hässlichen Deutschtums“ von Anetta Kahane am 13. Juli 2020 bei FR online externer Link kommentiert zum polizeilichen Vorgehen: „… Die Polizei will nach den Krawallen in Stuttgart Stammbaumforschung bei den Tatverdächtigen betreiben. Wie bitte?! Das ist blanker Rassismus. Denn was soll dabei rauskommen? Seit Jahren, jedenfalls solange ich denken kann, wird bei Verbrechen, wenn sie von Menschen mit Migrationsgeschichte begangen werden, die Herkunft genannt. Seitdem es mehr Eingewanderte gibt, die nun auch deutsche Staatsbürger sind, weist so mancher Polizeisprecher süffisant auf den deutschen Pass hin. Nach dem Motto: „Der hat zwar einen deutschen Pass, aber …“ Und nun Stammbaumforschung. Das ist gegen das Gesetz und ein Skandal. Die absurde Idee vom reinen, deutschen Blut ging schon immer an der Realität vorbei und hat als Wahn die Welt und die Menschlichkeit an den Rand des Abgrunds geführt. Rassismus geht davon aus, dass Menschen genetische Merkmale haben, nach denen ihre ganze Existenz, ihr Wert, ihre Eigenschaften bestimmt werden können. Tausendmal als Unsinn bewiesen, hält sich die Ideologie doch wie ein Seelengespenst des hässlichen Deutschtums. (…) Denn Empathie und Moral mögen dem Durchsetzen von Gesetzen helfen, ersetzen sie aber nicht. Schließlich appelliert ja auch niemand an die Moral von Dieben, das Stehlen doch bitte zu lassen, sondern fordert die Durchsetzung des Gesetzes. Es ist doch so: In Deutschland leben rund 81 Millionen Menschen. Etwa eine Million davon sind Schwarz, 21 Millionen haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Insgesamt ist das dann wohl ein gutes Viertel der Bevölkerung in diesem Land. Diesen wesentlichen Teil der Mitmenschen zu diskriminieren, ist keine Frage der Moral mehr. Hier geht es an die Substanz des Staatswesens und der Demokratie. Hier ist nicht Empathie oder Moral gefragt, sondern ein grundsätzliches Umdenken. Etwa so grundsätzlich wie bei der Frage, ob Frauen nicht vielleicht auch Menschen sind, denen Gleichberechtigung zukommen müsste...“
  • Es sei wichtig die Hintergründe der Täter von Stuttgart zu kennen, sagt MP Winfried Kretschmann mit Blick auf die Debatte um vermeintliche „Stammbaumabfragen“ Nur so seien präventive Maßnahmen zu treffen, um Gewalttaten zu verhindern. Die deutsche Polizei verdiene Respekt“ – so am 14. Juli 2020 im Twitter-Kanal von Phoenix externer Link (der folgende Thread ist aus verschiedenen Gründen wichtig zu lesen). Wobei Phoenix nichts dazu meldet, warum dieser Herr Kretschmann der Polizei Respekt zollt – vielleicht weil sie es wagt, Rassismus offen zu betreiben?

Siehe dazu im LabourNet:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=175718
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