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Reeder nutzen Pandemie als Gelegenheit für Entlassungen von Seeleuten und Lohndumping. Gewerkschaftsbund ITF fordert besseren Schutz

Dossier

Soliaktion der ILWU in Oakland mit Kreuzfaht-Besatzung im Mai 2020“»In einer Zeit, in der Seeleute die Welt in Bewegung halten«, dürfe Covid-19 nicht als Vorwand dienen, ihre Löhne zu senken und ihre Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. – Mit einem eindringlichen Appell hat sich unmittelbar vor dem diesjährigen 1. Mai die Internationale Transportarbeiterföderation (ITF), globaler Zusammenschluss nationaler Branchengewerkschaften, an die Weltöffentlichkeit gewandt. Anlass sind zum einen die Probleme, unter denen Seeleute aktuell leiden, weil administrative Maßnahmen gegen die Coronapandemie den an sich üblichen Austausch von Besatzungen be- oder verhindern. Zum anderen prangert die ITF Versuche einzelner Reeder oder Bemannungsagenturen an, unter dem Vorwand pandemiebedingter Schwierigkeiten Arbeits- und Tarifverträge außer Kraft zu setzen oder geltende Gesundheits- oder Sicherheitsstandards zu untergraben. Seeleute, so unterstreicht der ITF-Appell, spielten eine »entscheidende Rolle« in globalen Lieferketten und arbeiteten auch in Zeiten der Pandemie weiter daran, lebenswichtige Güter und Passagiere zu transportieren, einschließlich notwendiger medizinischer Versorgung, Ausrüstung und Produkte – »selbstlos und trotz Risikos, selbst an Covid-19 zu erkranken«. Da sei es »völlig inakzeptabel«, wenn Unternehmen versuchten, die Pandemie zu nutzen, um etwa beim Crewwechsel Besatzungen, die zu nationalen Tarifen arbeiten, durch Seeleute, die dies zu wesentlich schlechteren internationalen Bedingungen tun, zu ersetzen. Beispielhaft wirft die ITF Fährreedereien wie Condor Ferries, Stena Line und P & O Ferries vor, Seeleute entlassen oder sie zu unbezahltem Urlaub gedrängt zu haben. Das kanadische Unternehmen BC Ferries habe einen Tarifvertrag für ungerechtfertigte Entlassungen aufgehoben und versucht, Schiffe mit kleinerer Besatzung zu betreiben. Zwar sei dies auf Druck der Gewerkschaft später teilweise aufgehoben worden, dennoch missachte die Reederei weiterhin geltende Tarife…“ Artikel von Burkhard Ilschner in der jungen Welt vom 05.05.2020 externer Link. Siehe dazu:

  • Sergio Bologna über die Probleme in der Containerschifffahrt: »Die Seeleute haben am meisten gelitten« New
    Ein Gespräch von Paul Simon bei Jungle World 2021/47 vom 25. November 2021 externer Link mit dem Logistikexperten und Historiker Sergio Bologna über die Probleme in der Containerschifffahrt. Sergio Bologna: „… Es ist nicht nur die Schifffahrt, sondern das ganze System der globalen Lieferketten, das in einer Krise steckt. (…) Die Seeleute haben in der Pandemie am meisten gelitten. Viele mussten viel länger auf den Schiffen bleiben, als ihre Verträge vorsahen, manchmal über ein Jahr lang. Es gab Besatzungen, die haben richtig gehungert. Wenn ein Schiff nicht in einen Hafen einlaufen konnte, weil dieser wegen Infektionen geschlossen war, mussten sie oft Wochen oder sogar Monate warten. Niemand hat sich um die Versorgung mit Lebensmitteln gekümmert, das musste die Reederei selbst tun. Es gab Beispiele von Schiffen, auf denen verstorbene Mitglieder der Mannschaft monatelang im Kühlraum lagen, weil kein Hafen erlaubte, die Leiche an Land zu bringen. Die Pandemie hat ein Schlaglicht auf die wirklich katastrophalen Arbeitsbedingungen in einigen Branchen geworfen. (…) Ob aber Produktion tatsächlich wieder zurück in die Zentren verlagert wird, also ein sogenanntes reshoring statt­finden kann, ist zweifelhaft. Die Unternehmen wollen ja weiterhin billige Arbeitskräfte. Und hat man erst mal Fabriken und Werke in Asien aufgebaut, kann man sie nicht so leicht wieder aufgeben. (…) Viele Teile der Lieferketten sind schon stark automatisiert, die Häfen sind voller Maschinen, der Prozess der Be- und Entladung findet über Computer statt. Aber die derzeitige Krise in den Lieferketten hat gezeigt, wie wichtig die Arbeitskräfte eben doch sind. Letztlich geht es immer um die Bedingungen, unter denen die Menschen arbeiten, das ist ein ganz klassisch marxis­tischer Gedanke. Die Industrieproduktion wurde wegen der Arbeitskosten verlagert. Die Pandemie sorgte für eine Krise in der Produktion, weil sie nicht die Maschinen, sondern die Arbeitskräfte betraf. Und die Logistik kriegt Probleme, weil ihr nicht die künstliche Intelligenz, sondern die Arbeitskräfte fehlen. Die ganze Geschichte hängt immer daran, wie die Leute ausgebeutet werden…“
  • Tarifbruch auf hoher See: Gewerkschaften kontrollieren bei der diesjährigen »Maritimen Woche« wieder Schiffe in deutschen Häfen – Corona-Folgen im Mittelpunkt 
    „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – davon sind die Organisatoren der »Maritimen Woche 2021« überzeugt. (…) Seit Jahrzehnten organisiert die ITF immer im Spätsommer ihre maritime Aktionswoche. Dabei werden alljährlich allein in deutschen Häfen Dutzende Verstöße auf Schiffen gegen die gültigen ITF-Tarifverträge festgestellt. In solchen Fällen werden Frachter auch schon mal mit Hilfe der Hafenarbeiter so lange blockiert, bis säumige Reeder beispielsweise die fällige Heuer an ihre Matrosen nachzahlen. In einem Fall durfte ein Auszubildender, der bereits länger als zwölf Monate ohne Urlaub an Bord lebte, mit Hilfe der Inspektoren endlich die Heimreise antreten. Mit manchen Reedern, die sich künftig Ärger lieber ersparen wollen, schließt ITF dann auch neue Tarifverträge für einzelne Schiffe ab. Aktuell stehen die Corona-Folgen im Mittelpunkt. »In dieser Woche werden wir Informationen darüber sammeln, wie sich dies auf das Leben der Seeleute und ihrer Familien ausgewirkt hat, ob sie Zugang zu Impfungen hatten«, sagt Susana Ventura, die die ITF-Kampagne in Deutschland leitet. Für die 1,6 Millionen Seeleute, die Waren zwischen den Häfen der Welt transportieren, habe die Pandemie eine noch nie da gewesene Mobilitäts- und Gesundheitskrise verursacht. Nach Angaben der UN-Schifffahrtsorganisation IMO saßen im September 2020 rund 400 000 Seeleute fest und konnten wegen pandemiebedingter Reisebeschränkungen nach Ende ihres Kontraktes nicht in die Heimat zurückkehren. Ähnlich viele Seeleute warteten auf Aufnahme auf ihren Schiffen. »Und die Krise beim Besatzungswechsel ist noch lange nicht vorbei«, mahnt Ventura. (…) Während die Schifffahrts- und Logistikbranche von einem extremen Nachfrageboom im Welthandel profitiert, fehlt es an internationaler Harmonisierung der sogenannten Verbringungsvorschriften für Seeleute. Auch mangelt es an Impfstoffen im globalen Süden. Die Mehrheit der Schiffer kommt aus südostasiatischen Ländern…“ Artikel von Hermannus Pfeiffer vom 6. September 2021 bei neues Deutschland online externer Link – siehe auch ITF Dockers auf Twitter externer Link
  • Zoff auf See. Tarifgespräche: ITF bricht vorerst Gespräche mit Reedereien ab. Verdi fordert mehr Wertschätzung für Seeleute 
    „Für viele Beobachter war es abzusehen: Die Tarifgespräche für Seeleute der globalen Handelsschiffahrt sind am Donnerstag vorerst gescheitert. Das hat handfeste Gründe. Wie die weltweit agierende Gewerkschaft auch der Seefahrer, die Internationale Transportarbeiterföderation (ITF) mitteilte, hat sie die Verhandlungsrunde aus Ärger über ein unzumutbares Angebot der Reeder abgebrochen. (…) Nach den Vorstellungen der ITF sollte die ILO-Mindestheuer ab dem 1. Januar 2022 auf 683 US-Dollar monatlich angehoben werden – umgerechnet 1,40 US-Dollar pro Werktag mehr gegenüber dem derzeitigen Satz. (…) Berechtigt erscheint die Forderung der ITF allemal – schließlich gehören nach bisherigen Kenntnissen etliche Reedereien zu den Krisengewinnern der Coronapandemie: Nach anfänglich heftigen Einbrüchen Anfang 2020 präsentieren viele Unternehmen seit Sommer vergangenen Jahres satte Umsatz- und Gewinnzuwächse. (…) Die Mängel bei den Arbeitsbedingungen an Bord sind teils schlimmer als in früheren Erhebungen dokumentiert. Beschrieben werden unter anderem anhaltende Probleme bei Mannschaftswechseln unter Pandemiebedingungen und beanstandet wird der miserable Zugang für Seeleute zu Covid-Impfstoffen. Eindringlich mahnt der SHI, Seeleute weltweit endlich als sogenannte Schlüsselarbeitskräfte anzuerkennen und ihnen so nicht nur praktische Hilfe im Alltag zukommen zu lassen, sondern auch Wertschätzung zu zollen…“ Artikel von Burkhard Ilschner in der jungen Welt vom 30. April 2021 externer Link
  • ZDFzoom: Die Sklaven der Weltmeere. Wie Seeleute schikaniert werden 
    „“ZDFzoom“ hat zahlreiche Missstände der Arbeits- und Lebensbedingungen von Seeleuten aufgedeckt. Viele deutsche Reedereien lassen ihre Schiffe in sogenannte Billiglohnländer ausflaggen. Seeleute klagen im Interview mit „ZDFzoom“ unter anderem über Trinkwassermangel und schlechte Verpflegung an Bord mancher Schiffe. Auch Gewerkschafter bestätigen solche Fälle. Das seien unhaltbare Zustände, sagt die Transportarbeitergewerkschaft ITF. Im Notfall kein Verlass auf Billigflagge: Das sogenannte Ausflaggen von Schiffen kann weitreichende Folgen für die Seeleute haben. Das zeigt das Schicksal der Crew eines Schiffes im bulgarischen Schwarzmeerhafen Varna. „ZDFzoom“ traf Seeleute, die inzwischen fast zwei Jahre auf ihrem Schiff leben, weil eine russische Reederei wegen Zahlungsunfähigkeit den Frachter aufgegeben hat. (…)  Mit dem Corona-Pandemie-Ausbruch und dem Rückgang des Welthandels habe sich die Lage verschärft: Laut der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) wurden allein in den vergangenen drei Monaten sechs Schiffe von ihren Reedereien aufgegeben. Für die Besatzungen bedeutet das in den meisten Fällen, dass sie ohne Bezahlung auf den Schiffen zurückgelassen werden. Bund resigniert: Trotz wirtschaftlicher Anreize des Bundes flaggen hierzulande Reedereien ihre Flotten weiter aus, statt zur deutschen Flagge zurückzukehren… Film von Arndt Ginzel (29 min) in der Reihe ZDFzoom am 13.08.2020, Video beim ZDF externer Link verfügbar bis 12.08.2021
  • Gefangen auf den Blechbüchsen 
    Weltweit sitzen bis zu 200 000 Seeleute auf Frachtern fest. Das Leben an Bord ist häufig monoton. Viele plagt die Ungewissheit, wann sie zurück nach Hause können. (…) Immer öfter muss die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) eingreifen. »Täglich kommen neue Fälle hinzu und der Druck, endlich eine Lösung für die rund 200 000 Seeleute zu finden, die weltweit an Bord festsitzen und meist kaserniert sind, ist immens«, sagt Sven Hemme, ITF-Inspektor in Bremerhaven. Er koordiniert die Arbeiter der ITF in den Häfen zwischen Emden und Greifswald und tut, was er kann, um den Seeleuten an Deck zu helfen. Er klärt sie über ihre Rechte auf und verschickt Informationsmaterial über Whatsapp und Facebook, denn Männer wie Wilfredo Conde müssen nicht an Bord ausharren, bis der internationale Flugverkehr wieder aufgenommen wird und die Philippinen alle im Ausland gestrandeten Seeleute wieder einreisen lassen. »Wer nicht mehr kann, körperlich und geistig ausgelaugt ist, den oder die holen wir auch von Bord«, so der 41jährige Gewerkschafter. (…) An Bord von Kreuzfahrtschiffen hat es in der Pandemie bereits Suizide von Crewmitgliedern gegeben, in der Handelsschifffahrt sind bislang keine Fälle bekannt. Doch die Situation der Seeleute ist nach neun, zwölf und in Einzelfällen auch bis zu 15 Monaten an Bord nicht mehr zumutbar. Darauf weisen Reeder genauso hin wie die Gewerkschaften. Seit Wochen laufen politische Verhandlungen, aber Kompromisse sind bisher nicht zustande gekommen, um die Seeleute von Bord zu holen und die an Land wartende Ablösung auf die Schiffe zu holen. Deshalb erhöht die ITF seit Mitte Juni den Druck…“ Artikel von Knut Henkel vom 25.06.2020 in der Jungle World externer Link
  • (Nicht nur) Die Besatzungen von Kreuzfahrt-Schiffen werden in der Epidemie alleine gelassen – es sei denn, eine Gewerkschaft wie die Westküstendocker der USA organisiert Solidarität 
    Siehe zur Situation der Seeleute in verschiedenen Häfen dieser Welt drei Beiträge, darunter einen Bericht über die vorbildliche Organisierung der Solidarität durch die ILWU in den USA:

    • „»Das Leben der Seeleute ist von Unsicherheit geprägt«“ am 14. Mai 2020 in der jungle world externer Link (Ausgabe 20/2020) ist ein Interview von Knut Henkel mit Hamani Amadou von der Internationalen Transportarbeiter-Födera­tion über ein Kreuzfahrtschiff, das in Cuxhaven festliegt, worin dieser unter anderem hervor hebt: „… Die Seeleute auf Frachtern stehen nicht so im medialen Rampenlicht wie die Kollegen auf Kreuzfahrtschiffen, sind aber deutlich länger an Bord. Die Situation der Seeleute ist dramatisch, weil Crewwechsel seit Anfang März aufgrund der Reisebeschränkungen nicht stattfinden können. Wir wissen von Seeleuten, die seit zwölf Monaten an Bord sind und ihr Schiff seit Wochen nicht verlassen haben, weil in den meisten Häfen seit Anfang März der Landgang nicht mehr möglich ist. Das ist kaum zu ertragen. Das grundsätzliche Problem ist, dass Seeleute, deren Vertrag ausläuft, nicht von Bord kommen, weil das unter den Infektionsschutzmaßnahmen nicht vorgesehen ist. Selbst wenn sie von Bord kommen sollten, taucht das nächste Problem auf: Viele können nicht in ihr Heimatland zurückfliegen, entweder weil es kaum Flüge gibt oder weil das jeweilige Land die Einreise verweigert. Das betrifft auch Seeleute, die einen Arbeitsvertrag haben, aber nicht an Bord der jeweiligen Schiffe kommen und deshalb ihre Arbeit nicht antreten können. Die Situation ist katastrophal: Die Seeleute sitzen an Bord oder an Land fest und wissen nicht, wie lange das alles dauern wird. Normalerweise werden jeden Monat 100 000 der weltweit 1,7 Millionen Seeleute ausgetauscht. Das geschieht seit Anfang März jedoch nicht mehr. Daher wissen die Seeleute nicht, wann sie von oder an Bord kommen, ihr Leben ist von Unsicherheit geprägt. Viele sind noch nicht mal in Verbindung mit ihren Familien. Sie wissen nicht, was zu Hause passiert. Das ist ein zweiter Unsicherheitsfaktor, der ihren Bordalltag prägt. Das ist hart und liegt meist daran, dass ihre Handykarten kein Gut­haben mehr haben. Aufgrund der Infektionsschutzmaßnahmen dürfen sie nicht von Bord, sind also auf die Häfen angewiesen, wo die Seemannsmissionen sie mit Aufladekarten für das Internet versorgen. Das funktioniert aber nicht überall. So sind viele See­leute vom Rest der Welt abgeschnitten. Das ist kaum zu ertragen. Längst nicht alle Frachtschiffe haben einen W-Lan-Zugang, und wenn doch, dann funktioniert der oft auch nur im Hafen. Wenn das Schiff auf See ist, steht nur die teure Satellitenverbindung zur Verfügung und die ist in aller Regel für private Belange gesperrt…“
    • „Solidarity Helps Seafarers on Cruise Ships“ am 21. Mai 2020 bei Portside externer Link dokumentiert ist ein Bericht der Dockergewerkschaft ILWU über verschiedene Probleme von Besatzungen von Kreuzfahrtschiffen in den Häfen von Oakland, San Francisco und Los Angeles – und was die ILWU organisiert, um ihnen zu ermöglichen, zu mindestens das jeweilige Schiff verlassen zu können. Dafür haben sich verschiedene ILWU-Lokalorganisationen zusammen geschlossen, die verschiedenste Formen von Hilfeleistungen organisieren – aber eben vor allem für das Recht der Besatzungen eintreten, an Land gehen zu können, statt auf dem Schiff eingesperrt bleiben zu müssen. Und dann wird der Kampf fortgesetzt dafür, dass sie nach Hause reisen dürfen.
    • „Stranded in Tunisia with an Uncertain Future: A Seafarer’s Insight“ am 14. Mai 2020 bei Human Rights at Sea externer Link ist ein Teil einer ganzen Reihe von Erfahrungsberichten auf der Webseite dieser Initiative, in denen Seeleute ihre Erfahrungen schildern, die sie beim „Festliegen“ in verschiedenen Häfen rund um die Welt gemacht haben, inklusive der Furcht vor den finanziellen Auswirkungen – und bei denen immer wieder deutlich wird, wie wichtig es ist, dass vor Ort zu mindestens solidarische Kontakte hergestellt werden, besser noch Solidarität organisiert wird.
    • Siehe auch unseren Beitrag Kreuzfahrtschiffe unter »Billigflaggen« bei Coronainfektionen auf Hilfe anderer Staaten angewiesen – Kritik von internationaler Transportarbeiter-Gewerkschaft ITF
  • Vergessene Helden. Kaum jemand kümmert sich um die Seeleute, deren Arbeit auch in der Coronakrise unverzichtbar ist 
    “… Täglich ist Jörn Hille, ein stämmiger Mann mit ovaler Brille und graumeliertem Kinnbart, zwischen den Terminals und Kais im Hamburger Hafen unterwegs. In Hamburg-Waltershof, nur einen Steinwurf vom Eurogate-Terminal entfernt, steht sein Schreibtisch im Seemannsclub Duckdalben. Rund ein Dutzend Schiffe pro Tag fährt das Team des Duckdalbens derzeit an. »Wir sind zwar in Kurzarbeit, denn der Seemannsclub ist seit dem 23. März geschlossen. Aber wir lassen die Seeleute an Bord nicht im Stich.« Anders als in den Häfen von London oder Rotterdam, wo der Service der Seemannsclubs auf Null reduziert wurde, haben Hille und seine Kollegen einen Notbetrieb auf die Beine gestellt. Das ist wichtig, denn die Seemannsclubs in den großen Häfen sind die Tankstellen fern der Heimat: Hier werden Telefonkarten, Schokolade, Chips und andere Gebrauchsgüter für die Zeit auf See gebunkert. All das und etwas mehr hat Hille auch heute dabei. Das Wichtigste, die Telefonkarten, und ein paar Infoflyer trägt er im Rucksack, der Rest wartet im VW-Bus mit dem Duckdalben-Logo unten an der Kaikante. Hille hat das Deck erreicht. Dort nimmt ihn der Watchman, mittlerweile mit Maske über Mund und Nase, in Empfang. Per Funk hat er die Crew und die Offiziere über den unerwarteten Besuch des Seemannsdiakons informiert. Einer der ersten, der an Deck kommt, ist Bootsmann Nicanor Cadeliña. Er nutzt die Chance, begrüßt Hille auf Englisch und fragt ihn leise, ob er denn auch Lesebrillen besorgen kann, als der ihm die Liste mit dem Angebot des Duckdalbens in die Hand drückt. »Ja, die können wir vorbeibringen. Welche Stärke und auf welchen Namen«, fragt der Diakon und sucht Zettel und Stift, um die Bestellung sofort zu notieren. (…) 90 Prozent des Warenverkehrs zwischen den Kontinenten werden per Schiff abgewickelt. Ohne Seeleute, die die großen Pötte über die Weltmeere dirigieren, läuft wenig bis gar nichts. Rund fünf Monate sind Bootsmann Cadeliña und Matrose Iven Delgado an Bord des Frachters. Kohle, aber auch Eisenerz haben sie nach Europa gebracht und hoffen, Ende Mai, wenn die Verträge auslaufen, wieder zurück zu ihren Familien auf die Philippinen zu kommen. Doch das ist derzeit kaum realistisch, so Seemannsdiakon Hille. »Die Philippinen haben die Grenzen komplett zugemacht. In Manila sitzen 500 Seeleute fest, der Crewwechsel ist derzeit das zentrale Problem«, erklärt er. Normalerweise werden die Besatzungen nach bestimmtem Turnus ausgetauscht, doch derzeit geht das nicht. Das wissen auch die Seeleute an Bord und genau deshalb ist derzeit die Kommunikation noch wichtiger als gewöhnlich. (…) Kasernierung an Bord lautet die bittere Realität für die rund 1,7 Millionen Seeleute, die weltweit im Einsatz sind und dafür sorgen, dass Güter – vom Auto über das T-Shirt bis zum medizinischen Equipment – weltweit verfügbar sind. »Seeleute sind systemrelevant, sorgen dafür, das Produktionsprozesse nicht ins Stocken kommen, Nahrungsmittel nicht knapp werden und Benzin oder auch Strom produziert werden können. Doch bei den Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus hat kaum jemand an sie gedacht«, kritisiert Hille. »Nicht überall in den Häfen ist die medizinische Versorgung der Crews gewährleistet«. Corona-Schutzmaßnahmen werden so zum Bumerang. (…) Die Seemannsmissionen sind so etwas wie die Seismografen für Probleme an Bord und gut mit den Gewerkschaften, dem hafenärztlichen Dienst und der Schifffahrtspolizei vernetzt…“ Artikel von Knut Henkel vom 24.05.2020 in Neues Deutschland online externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=171826
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