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Tunesien

Zuspitzung der politischen Spannungen unter dem Eindruck der Ereignisse in Ägypten

Artikel von Bernard Schmid, Paris, 11.07.2013

Die (einzige) gute Nachricht zuerst. Frankreichs Staatspräsident François Hollande, welcher am 04. und 05. Juli d.J. in Tunesiens Hauptstadt Tunis verweilte, hat den Tunesier/inne/n vollständigen Zugang zu den Akten über den Mord am Gewerkschaftsgründer und Antikolonialisten Farhat Hached versprochen. Der Begründer des tunesischen Gewerkschaftsdachverbands UGTT (im Jahr 1946) und führende Kämpfer gegen die kolonialistische „Protektoratsmacht“ Frankreich war am 04. Dezember 1952 durch Zuarbeiter des damaligen französischen Auslandsgeheimdienst SDECE ermordet worden. Zum ersten Mal versprach Präsident Hollande, tunesischen Stellen vollständige Akteneinsicht dazu zu gewähren. Der Einblick, den die durch den Staatsgast mitgeführten Dokumente verschafften, vermittelt allerdings nicht den Eindruck, dass dadurch die vollständige Wahrheit beweisfest offengelegt wird.

Aus den mitgebrachten Aktendokumenten geht unzweideutig hervor, dass der französische Geheimdienst Farhat Hached noch kurz vor seinem Tod auf Schritt und Tritt beschattet hat (ein Protokoll dazu liegt vom vorletzten Tag im Leben Hacheds vor) – aber nicht, wer wie die Anordnung zum Mord erteilt hat. Ein früheres Mitglied einer Kommandogruppe des SDECE namens Main Rouge, Antoine Méléro, hat dagegen am 18. Dezember 2009 eindeutige Erklärungen zur Urheberschaft des Mordes abgegeben. Und hinzugefügt: „Wäre es nochmals zu tun, ich würde es wieder tun.“ Farhat Hached sei politisch gefährlich gewesen, und hätte ganz Tunesien anzustecken gedroht. (vgl. http://www.dailymotion.com/video/xbzg3x_aveu-assassinat-farhat-hached_news#.Ud6DcKy9Xv4 externer Link   und http://doc.aljazeera.net/followup/2009/12/20091229123310349449.html externer Link ) Allerdings hat in jüngerer Zeit, nachdem Frankreich nach der demokratischen Revolution in Tunesien zunehmend unter Druck geriet, eine gewisse symbolische Rehabilitierung Farhat Hacheds auch nördlich des Mittelmeers stattgefunden. Am 12. Januar 2013 hatte – auf Einladung von drei Abgeordneten der Linksparteien (Marie-George Buffet, Noël Mamère, Pouria Amirshahi) – ein hochrangig besetztes Kolloquium zum Thema in den Räumen der Pariser Nationalversammlung stattgefunden, in Anwesenheit des Sohnes von Farhat Hached, Noureddine Hached. Labournet war dabei. Und am 30. April dieses Jahres wurde, auf Initiative des rosa-rot-grün geführten Pariser Rathauses hin, eine Place Farhat Hached in der französischen Hauptstadt eingeweiht. Witwe und Sohn Farhat Hacheds wohnten auch dem jüngsten Auftritt François Hollandes in Tunis bei.

Tunesien und Ägypten

Ansonsten gilt: Angewandte Geografie ist eine schwere Sache. Den Eindruck erweckte jedenfalls Frankreichs Präsident François Hollande, der am vergangenen Donnerstag beim Staatsbesuch in Tunis kurzzeitig Tunesien und Ägypten miteinander verwechselte. Dann korrigierte er seinen Versprecher aber doch noch, anders als einen Monat zuvor, als er aufgrund eines anderen Lapsus in Tokyo „das chinesische Volk“ mit dem japanischen verwechselt hatte.

Die Ereignisse in Ägypten kamen Hollande anlässlich seines Staatsbesuchs in Tunesien, des ersten eines französischen Präsidenten seit 2008, tatsächlich ziemlich in die Quere. War die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung, der französischen ebenso wie der tunesischen, am vergangenen Donnerstag und Freitag doch weitaus eher auf Kairo und Alexandria als auf Tunis gerichtet. Dort hielt Hollande am zweiten und letzten Tages seines Besuches eine Rede vor der Verfassungsgebenden Versammlung, die jedoch aufgrund der bedeutenden Ereignisse 1.000 Kilometer weiter östlich weniger stark als erwünscht beachtet wurde.

Auch in Tunesien hat sich das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Kräften angespannt und polarisiert, seitdem in Ägypten mindestens drei Akteure mit unterschiedlichen Interessen – die Massenbewegung, die Armeespitze und das Lager um die Muslimbrüder – miteinander ringen. Die linke tunesische „Volksfront“ forderte unter dem Eindruck der erfolgreichen Bewegung gegen Präsident Mohammed Morsi den Rücktritt der Regierung im eigenen Land und die Auflösung der Verfassunggebenden Versammlung. Auch die erheblich weiter rechts stehende laizistische Oppositionspartei Nidaa Tounès, die neben bürgerlichen Kräften auch solche des alten Regimes umfasst, erhob dieselbe Forderung. Die „amtierende konstituierende Versammlung“ war im Oktober 2011 aus freien Wahlen hervorgegangen, war damals allerdings offiziell nur mit einem einjährigen Mandat ausgestattet worden, um eine neue Verfassung zu schreiben. Letztere wird soeben seit dem 1. Juli d.J. in der Versammlung debattiert, laizistische Oppositionskräfte beklagen jedoch schwere Mängel an dem Verfassungsentwurf und Gummiformulierungen, die autoritäre Interpretationen zumindest ermöglichen.

Der Fraktionsvorsitzende der zusammen mit der islamistischen Partei En-Nahdha regierenden sozialdemokratischen Formation Ettakatol erwiderte auf die Forderung nach Auflösung der Versammlung, dies „könnte einen Bürgerkrieg in Tunesien“ auslösen. Die En-Nahdha nahe stehenden „Ligen zum Schutz der Revolution“ forderten ihrerseits „die Auflösung aller Parteien, die gegen die legitime Führung komplottieren“. En-Nahdha ihrerseits rief zu einer Kundgebung für den abgesetzten ägyptischen Präsidenten Morsi auf – doch nur 100 Leute kamen am Sonntag, den 07. Juli dazu. Unterdessen versucht die Parteispitze von En-Nahdha allerdings, sich darauf hinauszureden, die Kundgebung sei nur deswegen mehr oder minder ins Wasser gefallen, weil ihre Genehmigung durch den  Innenminister (ein Parteiloser in einer weitgehend durch En-Nahdha dominierten Regierung) ausgeblieben sei. Am kommenden Samstag, den 13. Juli 13 will En-Nahdha deswegen erneut in Tunis für die abgesetzte ägyptische Muslimbrüderregierung demonstrieren – während die neue ägyptische Übergangsregierung sich über ihren Botschafter in Tunis in amtlichem Ton gegen „die Einmischung Tunesiens in die Angelegenheiten und den Willen des ägyptischen Volkes“ verwahrt hat.

Unterdessen gibt es auch in Tunesien eine Bewegung Tamarrod (Rebellion), die nach dem ägyptischen Vorbild benannt wurde, jedoch weniger Unterschriften als diese gegen die amtierende Regierung sammelte – vergangene Woche waren es 182.000. Ex-Premierminister Hamadi Jebali von En-Nahdha giftete am Wochenende gegen sie: „Die Masken der Putschisten sind gefallen!“

Einfluss beibehalten…

François Hollande versuchte, sich tunlichst aus den innenpolitischen Konflikten in Tunesien herauszuhalten und es allen recht zu machen. Angesichts der zugespitzten Machtkämpfe in Ägypten sagte er den tunesischen Politikern mehrmals: „Sie sind zum Erfolg verdammt“, und „Ihr Erfolg ist für die ganze Region von Bedeutung“. Aber er präzisierte auch, seine Unterstützung gelte „nicht den Regierenden von heute oder von morgen, sondern dem tunesischen Volk“, und „dem Transitionsprozess“ an sich. Er hielt sich sowohl bei den laizistischen als auch den islamistischen Parteien alle Türen offen. Von den Gesprächen mit politischen Repräsentanten vor Ort waren sowohl der als Scharfmacher geltende Chef von En-Nahdha, Rached Ghannouchi, als auch der französische Innenminister Manuel Valls – nachdem er im Februar eher undifferenziert vom „islamischen Faschismus“ in Tunesien gesprochen hatte – ausgeschlossen waren. Valls war offiziell allerdings nur aus Termingründen an der Mitreise verhindert. Kann man den Informationen des konservativen Figaro Glauben schenken, der eine ungenannte Quelle im Elysée-Palast zitiert, ist man dort „überzeugt, dass En-Nahdha auch weiterhin eine zentrale Rolle in der tunesischen Politik spielen wird, selbst wenn die Partei geschwächt wird“.

…und Marktanteile zurückgewinnen

Konkret wurde es vor allem bei wirtschaftlichen Kontakten. Frankreich hat in Tunesien seit dem Umbruch rund 30 Prozent seiner Marktanteile eingebüßt – seine damalige Regierung hatte 2011 buchstäblich bis in letzter Minute am alten Regime festgehalten -, während deutsche und britische Wirtschaftsinteressen stärker Fuß fassen konnten. Deutschland investiert seit Ende 2012 in die Solarenergie. Allerdings bleibt Frankreich weiterhin, vor Italien, der erste Handelspartner Tunesiens. François Hollandes Delegation bestand aus fünf Abgeordneten, zehn Ministern und 50 Geschäftsleuten. Am letzten Abend seines Staatsbesuchs fand – „als krönender Abschluss (apothéose) “, so die tunesische Internetzeitung ,Kapitalis‘ – eine gemeinsame Sitzung der beiden Arbeitgeberverbände, des französischen Medef und der tunesischen Utica, statt. An ihr nahmen Hollande und sein tunesischer Amtskollege Moncef Marzouki teil. Wirtschaftsförderung ist offensichtlich alles. Frankreich wird nun verstärkt in erneuerbare Energien, Häfen, eine Bahnlinie und die Ausbildung von Führungskräften im öffentlichen Dienst investieren.

Ferner wird es eine Schuldenumwandlung in Höhe von zunächst 500 Millionen Euro geben. Diese Technik findet in jüngerer Zeit verstärkt in der so genannten Dritten Welt Anwendung. Sie beruht darauf, dass ein Land seine Schulden bezahlt, indem es die entsprechenden Mittel in Investitionen umwandelt – zugunsten von Unternehmen des Gläubigerstaats, die die aufgebaute Infrastruktur dann für sich nutzen. Eine Methode, um wirtschaftliche Abhängigkeiten noch längerfristig zu zementieren. Ein Votum des Europaparlaments vom 10. Mai 2012 erkannte an, dass die tunesischen Auslandsschulden – gegenüber Frankreich sind es z.B. gut drei Milliarden Euro – illegitim seien, da sie von einer Diktatur aufgenommen wurden und der Bevölkerung kaum zugute kamen. Aber weder die tunesischen Regierenden noch die in Europa wollen irgendwelche Schlussfolgerungen daraus ziehen. Im Juni d.J. wurde soeben ein neuer IWF-Kredit über 1,7 Milliarden Euro bewilligt, der das Schulden- und Abhängigkeitsproblem ebenfalls noch vertiefen wird – gegen massive Widerstände auch im tunesischen Parlament, aus dessen Reihen 72 Abgeordnete eine Petition gegen den neuen IWF-Kredit unterschrieben haben.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=40121
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