»
Türkei »
»
»
Türkei »
»

Trotz aller Polizei-Repression: Die Proteste der Studierenden in Istanbul gehen weiter – Solidaritätsaktionen an anderen Universitäten wachsen

Dossier

Erdogan: not welcome„… Wenn ich mich recht erinnere muss das 2013 gewesen sein, als die Gezi-Proteste gerade abgeklungen waren, in der Stadt aber noch eine angespannte Stimmung herrschte und an jeder Ecke Polizei stand. Viele der Studierenden hatten an den Demos teilgenommen. Die Unis, die jungen Gebildeten, sind traditionell nicht im Erdogan-Lager verortet, und das sieht der türkische Staatschef auch deshalb als Problem, weil dort längst nicht nur Kinder der bildungsbürgerlichen Mittel- und Oberschicht ausgebildet werden. Viele haben es aus der anatolischen Pampa an die Elite-Uni mit Bosporusblick geschafft, und wenn sie einmal diese Luft der Welt, des Internationalen, geschnüffelt haben, sind die meisten für den kleinbürgerlich-autoritären Mief der AKP verloren. Damals waren immer wieder renommierte Schriftsteller und Intellektuelle an der Uni zu Gast, nicht wenige von ihnen hatten selbst dort studiert. Die von Studierenden organisierten Gesprächsrunden waren meist bis auf den letzten Platz besetzt, zogen sich bisweilen über mehrere Stunden, und oft waren Studentinnen im Publikum in der Mehrheit, Studentinnen moderierten und organisierten die Gespräche. Es war offensichtlich, wie groß der Drang – und auch der Erfolg! – der jungen Frauen darin war, sich in einer männerdominierten Welt durchzusetzen. Viele der Studierenden hatten bereits Auslandserfahrung oder planten ein Auslandssemester oder gar nach dem Studium, im Ausland zu arbeiten. Heute ist die Situation insofern anders, als dass sich die Gründe geändert haben: Ein Großteil der intellektuellen Elite der Türkei ist längst im Exil, viele im Gefängnis. Der freie Geist, der an der Bosporus Universität und an anderen Unis herrscht, läuft dem System Erdogan diametral entgegen…“ – aus dem Beitrag „Erdogans Krieg gegen die Bildung von  Gerrit Wustmann am 10. Januar 2021 bei telepolis externer Link über den Versuch, eine Institution selbstständigen Denkens in der Türkei endgültig zu „schleifen“… Siehe dazu auch eine weitere aktuelle Meldungen, Meldungen über Solidaritätsaktionen im In- und Ausland, den Hashtag zu den Protesten und den Hinweis auf unseren ersten Beitrag zum Kampf gegen die Gleichschaltung der Universitäten:

  • [Türkei] An der Bosporus-Universität in Istanbul gehen die Proteste weiter: Diplom in Widerstand New
    „Seit Januar gibt es an der Bosporus-Universität in Istanbul Proteste gegen den von Präsident Erdoğan ernannten Rektor und das autoritäre Regime in der Türkei. Mehrere die Proteste unterstützende Dozierende wurden entlassen, darunter der Filmemacher Can Candan. Mehr als 260 Tage lang und kein Ende in Sicht. Seit dem 4. Januar protestieren Dozierende und Studierende an der renommierten Boğaziçi Üniversitesi (Bosporus-Universität) in Istanbul. Auslöser war die Ernennung Melih Bulus von der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zum Rektor durch ein Präsidialdekret Recep Tayyip Erdoğans (Protest gleich Blasphemie). Trotz der langen Dauer der Proteste fällt den Protestierenden immer wieder etwas Neues ein. Am 8. September feierten sie ihre eigene, mit über 1 000 Menschen bestens besuchte Abschlussfeier als Alternative zur von der Universitätsleitung offiziell organisierten. Auf der alternativen Feier wurden den Studierenden »Widerstandsdiplome« überreicht, die freilich nicht vom Rektor unterzeichnet worden waren, und man zelebrierte den andauernden Protest. Dieser geht weit über Kritik an der Besetzung des Rektorpostens hinaus. Ein erster Erfolg war, dass Erdoğan Bulu am 15. Juli abberief, sein bisheriger Stellvertreter Mehmet Naci İnci rückte nach. Doch auch dieser vertritt eine autoritäre und islamisch-konservative Linie. Das harte Vorgehen der Regierung gegen die Protestierenden, die zahlreichen Festnahmen und andere Repressalien zeigen, dass der Kampf noch lange nicht zu Ende ist. Es ist ein Kampf gegen das ultrareligiöse, rassistische, autokratische und homophobe System in der Türkei. Von vielen türkischen Prominenten und Politikern, darunter die Journalisten Ahmet Şık und Can Dündar sowie der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu (Republikanische Volkspartei, CHP), haben die Protestierenden mittlerweile Zuspruch erhalten, und auch von Dozierenden und Studierenden anderer Universitäten der Türkei, die ihrerseits Missstände anklagen. Beispielsweise initiierten im Frühjahr Studierende der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul, die auch mit deutschen Steuergeldern unterstützt wird, den Hashtag »Kein Platz für Homophobie an der Uni« und forderten die Kündigung des Politikwissenschaftlers Muhammet Tacettin Kutay, der neben seiner Lehrtätigkeit als Journalist AKP-Positionen vertritt. Er hatte mit mehreren homophoben und rassistischen Tweets für Empörung gesorgt…“ Artikel von Deniz Şimşek vom 30. September 2021 in der Jungle World 2021/39 externer Link
  • „Studierende freigelassen: Der Kampf geht weiter“ am 08. Januar 2021 bei der ANF externer Link meldet: „… 21 in Istanbul festgenommene Studierende sind heute der Staatsanwaltschaft vorgeführt und gegen Meldeauflagen freigelassen worden. Vor dem Justizgebäude in Çağlayan wurden sie von Freund*innen und Angehörigen mit Jubel in Empfang genommen. Die Freigelassenen kündigten an, den Kampf gegen den von Staatschef Recep Tayyip Erdogan eingesetzten „Zwangsverwalter-Rektor“ der Boğaziçi-Universität fortzusetzen. Die Studierenden ergriffen nacheinander das Wort und berichteten von ihren Erlebnissen. Einer der Betroffenen erklärte, dass die Jugend die dynamischste Kraft des gesellschaftlichen Kampfes ist. Seine Wohnung wurde von einer polizeilichen Sondereinheit überfallen, er wurde zusammen mit anderen auf dem Rücken in Handschellen gelegt, auf den Boden geworfen und geschlagen. Wie viele weitere wurde er von der Polizei dazu gezwungen, sich nackt durchsuchen zu lassen: „Bis gestern wurde noch behauptet, dass es keine Nacktdurchsuchungen gibt. Einschließlich meiner Person sind viele von uns gegen unseren Willen nackt durchsucht und bedroht worden. Sie mögen uns festnehmen und terrorisieren, aber wir wissen, dass wir das aufgeklärte und revolutionäre Gesicht dieser Gesellschaft darstellen.“ Auch ein weiterer Student berichtete, im Morgengrauen mit Staatsterror konfrontiert gewesen zu sein: „Wir wissen, dass es sich bei den erfundenen Anschuldigungen und Prozessen um inszeniertes Theater handelt, um uns Revolutionäre vor Gericht zu stellen. Wir gehen mit weißer Weste aus diesen Verfahren hervor. Für alle, die glauben, uns mit lächerlichen Anschuldigungen, Festnahmen und Hausdurchsuchungen einschüchtern zu können, erkläre ich es an dieser Stelle noch einmal: Revolutionäre Menschen haben sich noch nie dem Verhaftungsterror gebeugt, und das wird auch weiterhin so sein.“ Rechtsanwältin Ezgi Önalan hat die staatsanwaltschaftlichen Anhörungen der festgenommenen Studierenden begleitet. Vor dem Gerichtsgebäude erklärte sie, immer an der Seite der Studierenden zu stehen, die ihr Recht auf demokratischen Protesten wahrnehmen...“
  • „Frankfurt: Solidarität mit den Studierenden in Istanbul“ am 09. Januar 2021 ebenfalls bei der ANF externer Link zu einer der zahlreichen Solidaritätsaktionen mit dem Protest der Studierenden in Istanbul: „… Seit Montag protestieren Studierende der Boğaziçi-Universität in Istanbul gegen den staatlich eingesetzten Rektor. Gleich am ersten Tag kam es zu massiver Polizeigewalt auf dem Campus, am Dienstag und Mittwoch folgten martialische Hausdurchsuchungen an diversen Adressen, bei denen mehrere Dutzend Studierende festgenommen wurden. Aktivistinnen des Studierendenverbands JXK haben sich in Frankfurt a.M. mit den Protesten in Istanbul solidarisiert und ein Transparent an der Universität aufhängt. Der von Staatschef Recep Tayyip Erdogan ernannte Rektor Melih Bulu ist langjähriges AKP-Mitglied. Erstmals seit 40 Jahren wurde mit Bulu ein Staatskommissar als Hochschulrektor per Dekret eingesetzt. Kritiker*innen sehen darin eine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit. Die Istanbuler Studierenden fordern einen Rücktritt und demokratische Wahlen...“
  • Karadeniz Technical University students in Artvin’s Hopa held a solidarity protest in support of Boğaziçi Universityam 08. Januar 2021 im Twitter—Kanal der dokuz8News externer Link ist ein Thread, in dem über zahlreiche Solidaritätsaktionen, sowohl in Istanbul, als auch in anderen Städten – vor allem in Ankara – berichtet wird, die ebenfalls von der Polizei niedergeschlagen werden sollen. Und von einem nicht sehr hellen Innenminister, der weiterhin an der Propagandafigur „alles Terroristen“ festhalten möchte.
  • #BoğaziçiDireniyor externer Link ist der Twitter-Hashtag, unter dem viele Meldungen über Protestaktionen und Solidaritätsbekundungen dokumentiert werden
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=184799
nach oben