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Während der Demokratiemarsch in der Türkei erfolgreich beendet wird – schafft sich das AKP-Regime eine größere Blockwart-Armee

Der Demokratiemarsch der HDP in der Türkei Juni 2020„… In Ankara hat das Finale des am Montag in Edirne und Colemêrg (türk. Hakkari) gestarteten „Demokratiemarsches“ der HDP stattgefunden. Die HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar erklärten im Parlamentspark, dass im Verlauf der Woche ihre Entschlossenheit und die Hoffnung auf ein Demokratiebündnis größer geworden sind. Die HDP war in zwei Gruppen aus dem äußersten Westen und Osten der Türkei über Istanbul, Wan, Êlih (Batman), Amed (Diyarbakir), Dîlok (Antep), Riha (Urfa) und Adana gefahren und in den Städten mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und anderen Parteien zusammengetroffen, um sich über die bestehenden Probleme und Lösungsansätze auszutauschen. Die Ergebnisse der Gespräche und die gewonnenen Eindrücke wurden auf einer Pressekonferenz im Parlamentspark vorgestellt. An der Pressekonferenz nahmen neben HDP-Mitgliedern Vertreterinnen und Vertreter vom HDK, dem Menschenrechtsverein IHD, der Ärztevereinigung TTB, des Gewerkschaftsverbands KESK, des alevitischen Kulturvereins PSAKD, des DTK und vieler weiterer Organisationen teil. Die Polizei begrenzte die Teilnehmerzahl auf 120 Personen und war mit einem großen Aufgebot vor Ort. Pervin Buldan und Mithat Sancar erklärten auf der Pressekonferenz, dass die Menschen großes Interesse an dem Demokratiemarsch gezeigt hätten. Dieser habe stattgefunden für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte von Millionen Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr aufbringen können, für eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage, für ein Ende des Krieges, für die verfassungsrechtliche Anerkennung aller Identitäten sowie für die „Frauen, Jugend, Werktätigen, Armen und Arbeitslosen“. „Wir sind für Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit marschiert. Wir sind marschiert, um die Rechte und den Willen von 82 Millionen Menschen zu verteidigen. Und wir sind nicht alleine gelaufen...“ – aus dem Bericht „Demokratiemarsch-Finale in Ankara“ am 20. Juni 2020 bei der ANF externer Link über den Abschluss der wochenlangen Aktion. Siehe dazu einen weiteren aktuellen Beitrag zur Bewertung des Demokratie-Marsches und zwei Beiträge zu einer (nicht direkten) Reaktion des AKP-Regimes auf wachsende Kritik: Eine neue Blockwart-Truppe…

  • „Gestärkte Hoffnungen“ von Dilan Karacadag am 22. Juni 2020 in der jungen welt externer Link zur Bewertung der Aktion unter anderem: „… Die Hoffnung, dass dieses Vorhaben gelinge, und ihre Entschlossenheit sei im Verlauf der Woche größer geworden, konnten Buldan und Sancar den Teilnehmern des auf 120 Personen beschränkten und von einem großen Polizeiaufgebot begleiteten Empfangs mitteilen, wie die kurdische Nachrichtenagentur ANF berichtete. Vor Ort waren neben HDP-Mitgliedern, Vertreter des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK), des Menschenrechtsvereins IDH, der Ärztevereinigung TTB, des Gewerkschaftsverbands KESK, des alevitischen Kulturvereins PSAKD und vieler weiterer Organisationen. Der Demokratiemarsch habe stattgefunden »für die wirtschaftlichen und sozialen Rechte von Millionen Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr aufbringen können, für ein Ende des Krieges, für eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage, für die verfassungsrechtliche Anerkennung aller Identitäten sowie für die Frauen, die Jugend, die Werktätigen, Armen und Arbeitslosen«. (…) Die Gesellschaft wolle sich von der türkischen Regierung und ihrer Mentalität befreien: »Das auf Gewalt, Lügen und Ausbeutung basierende System ist am Ende. Und die Menschen haben ihre Hoffnung auf Veränderung noch nicht verloren.« Repressionen gab es auch gegen den »Demokratiemarsch«. Im Vorfeld waren mehrere Provinzen abgeriegelt worden, Einsatzkräfte versuchten Abgeordnete und Parteimitglieder unter anderem mit Tränengas und Gummigeschossen aufzuhalten. Am 15. Juni waren mindestens zehn Aktivisten festgenommen worden. Im Ergebnis sei es jedoch gelungen, »mit über 30 Institutionen, darunter Anwaltskammern, Menschenrechtsgruppen, Vereinigungen von Müttern für den Frieden, Handelskammern, Fachgesellschaften und zivilen Initiativen« zusammenzutreffen…“
  • „Türkei: Weiter auf dem Weg zum Polizeistaat?“ von Elke Dangeleit am 20. Juni 2020 bei telepolis externer Link zu Erdogans neuer Truppe und, unter anderem, ihrer Vorgeschichte: „… Mitte Juli verabschiedete das türkische Parlament mit den Stimmen der regierenden Allianz aus AKP und MHP ein Gesetz, das künftig die sogenannten Nachbarschaftswächter (türk.: Bekciler) mit Befugnissen von Hilfspolizisten ausstattet und sie bewaffnet. Dies sei ein direkter Wunsch des türkischen Präsidenten gewesen, bestätigte Innenminister Süleyman Soylu. Anfang Januar erklärte Erdogan, sie könnten die Ordnung in den Städten nicht länger nur mit den traditionellen Sicherheitskräften gewährleisten, sie bräuchten neue Methoden. Die Opposition kritisiert, damit würde man eine parallele Erdogan-treue Polizeitruppe schaffen und einem Polizeistaat wieder ein Stück näherkommen. „Ein Nacht-Beobachtungshorror hat begonnen“, twitterte Lütfü Türkkan, Abgeordneter der oppositionellen nationalistischen IYI-Parti. Die ca. 30.000 Nachbarschaftswächter rekrutieren sich meist aus jungen Männern mit Verbindung zu den Jugendverbänden der AKP und MHP. Sie kommen in Großstädten wie Istanbul, Ankara, Izmir und im kurdischen Südosten, wie z.B. in Diyarbakır und Mardin zum Einsatz. In den kurdischen Städten hat die Bevölkerung bereits schlechte Erfahrungen mit den Bekcis gemacht. Die Taz berichtet, es gebe „mehrfach Berichte, wonach Leute zusammengeschlagen oder unberechtigt festgehalten wurden“. Erst im November 2019 entschied zuletzt ein Gericht in Izmir, dass die Nachbarschaftswächter nicht das Recht haben, Ausweiskontrollen durchzuführen. Das Gericht bezog sich auf einen Vorfall in einem Park in Izmir, bei dem Wächter zwei junge Leute festgehalten und ihre Ausweise verlangt hatten. Nachbarschafts- oder Nachtwächter gibt es schon lange. Bereits im Osmanischen Reich engagierten Gewerbetreibende meist ältere Männer ‚Amcas‘ (dt. Onkel), die nachts unbewaffnet mit Trillerpfeifen ausgestattet in ihren Vierteln durch die Straßen patrouillierten und Einbrüche verhindern sollten. In türkischen Romanen fanden sie Erwähnung wie z.B. in der historischen Volkserzählung über den Istanbuler Nachtwächter Bekci Bâbâ von 1875. In Filmen der 1950er und 1960er Jahre firmierten sie als Statisten. 2008 wurden die ca. 8000 Bekciler auf Weisung von Erdogan als antiquiert abgeschafft und in den Polizeidienst übernommen. Nach dem Putsch 2016 wurden sie vom AKP-Regime wieder eingeführt und mit wesentlich mehr Rechten ausgestattet. Erdogan sagte damals, er wolle „die Trillerpfeifen der Nachbarschaftswache nachts wieder hören,“ und führte sie per Dekret wieder ein. 2017 wurden 9.000 Wächter rekrutiert, 2018 und 2019 je weitere 10.000. 2020 sollen sie um weitere 20.000 Mitglieder aufgestockt werden…“
  • „Mit Trillerpfeifen und Schusswaffen“ von Jan Keetman am 18. Juni 2020 in der jungle world externer Link (Ausgabe 25/2020) zur selben Neuerung noch: „… Türkische Oppositionelle fühlen sich an die iranische freiwillige Hilfspolizei Basij-e Mostaz’afin (Mobilisierte der Unterdrückten) erinnert. Die meist kurz Basij genannte Truppe wurde in den vergangenen Jahren immer wieder zur Unterdrückung der Opposition eingesetzt. Der Verdacht, dass die Nachtwächterstellen mit Anhängern von Erdo­ğans Partei AKP besetzt werden könnten, die sich in ihrem Viertel gut auskennen und die Menschen auch politisch überwachen, liegt nicht allzu fern. »Wird eine paramilitärische Organisation gebildet oder wird das Wächtertum als lokales Denunziantentum begründet?« fragte rhetorisch der Abgeordnete Behiç Çelik von der einer strengen law and order-Politik eigentlich nicht abgeneigten İyi Parti. Der parteilose Abgeordnete Cihangir İslam sagte in einem Interview, er befürchte in erster Linie, dass der Zweck der Truppe weniger sei, den Bürgern Sicherheit zu geben, als sie unter Kontrolle zu halten. Die Abgeordnete Dirayet Dilan Taşdemir von der prokurdischen HDP stellte die Frage, ob die Wächter überhaupt nötig seien und man das Geld nicht besser für Bildung und Gesundheit ausgeben sollte. Tatsächlich ist es kaum plausibel zu machen, dass es in der Türkei an Polizisten mangeln soll. Soylus Ministerium antwortete auf eine parlamentarische Anfrage, im Jahr 2019 sei ein Polizist auf 211 Einwohner gekommen. 2018 lag das Verhältnis noch bei eins zu 247. Wenn man die Einsatzkräfte der Gendarmerie hinzurechnet, ergibt sich ein Verhältnis von eins zu 185. In Deutschland kommt ein Polizist auf 336 Einwohner. Hinzu kommen in der Türkei noch die Wächter sowie im Osten die lokale Hilfstruppe gegen die PKK, die sogenannten Dorfschützer, die inzwischen offiziell »Sicherheitsschützer« heißen – rund 80 000 Mann unter Waffen (Stand 2016). Erdoğan hat jedoch allen Grund, sein Regime gegen den Unmut der Bürger abzusichern. Zum Jahreswechsel gab es leichte Hoffnungen, die Türkei könnte aus der anhaltenden Wirtschaftskrise herauskommen. Dann kam die Pandemie…“

Siehe zum Demokratiemarsch im LabourNet:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=174340
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