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Erdogans Überfall auf die HDP: Von der Angst diktiert. Solidaritätsproteste am Samstag, 26. September 2020

„… In der Türkei ist in der Nacht zum Freitag eine der größten Verhaftungswellen gegen Oppositionelle seit Jahren angelaufen. Es gab Haftbefehle der Generalstaatsanwaltschaft in Ankara gegen 82 Personen. Laut der kurdischen Nachrichtenagentur ANF sind insbesondere Politiker der prokurdischen linken Demokratischen Partei der Völker (HDP) betroffen: Darunter der Oberbürgermeister der Stadt Kars, Ayhan Bilgen, der frühere Abgeordnete Sirri Süreyya Önder sowie Mitglieder des HDP-Parteivorstands. Da ein 24stündiges Anwaltsverbot angeordnet und zudem eine viertägige Geheimhaltungsverfügung verhängt wurde, ist noch unklar, wie viele der Gesuchten tatsächlich festgenommen wurden. Fest steht, Tamer Dogan, der frühere Rechtsanwalt des 2018 in der Türkei inhaftierten jW –Autors Max Zirngast, sowie Mitglieder sozialistischer Parteien in der Westtürkei wurden ebenfalls verhaftet. Diesen werden zumeist Äußerungen in »sozialen Netzwerken«, »versuchter Staatsstreich« und »Beleidigung des Staatspräsidenten« vorgeworfen. HDP-Politiker dagegen werden der »Anstachelung zur Gewalt« bezichtigt. Sie hatten im Oktober 2014 zu Solidaritätsbekundungen für die damals von der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS) belagerte syrisch-kurdische Stadt Kobani (arab.isch: Ain Al-Arab) aufgerufen. Nach Massenprotesten gegen die Unterstützung der türkischen Regierung für die Dschihadisten waren bei Straßenschlachten mit Einsatzkräften sowie bewaffneten Anhängern der islamistischen Hür-Dava-Partei bis zu 50 Menschen getötet worden...“ – aus dem Beitrag “Schlag gegen Opposition“ von Nick Brauns am 26. September 2020 in der jungen welt externer Link (der eigentlich nur die Frage offen lässt, wie das denn gehen soll, Erdogan beleidigen?). Siehe dazu vier weitere aktuelle Beiträge, darunter auch den Aufruf zu Solidaritätsprotesten am Samstag, 26. September 2020 – und neu dazu am 27. September: Ein Update mit weiteren Repressionsmaßnahmen, politischen Reaktionen und Berichten über erste Proteste auch in der BRD:

  • „Waffenbrüderschaft hält“ ebenfalls von Nick Brauns am 26. September 2020 in der jungen welt externer Link kommentiert die bundesdeutschen Schützenhilfe für Erdogans Terror-Herrschaft unter anderem so: „… Für die Hochzeitsgeschenke, die ihm der Präsident überreichte, bedankte sich der Staatsanwalt umgehend mit einer großen Festnahmewelle gegen dessen Gegner am Freitag. Betroffen sind Politiker der prokurdischen Oppositionspartei HDP sowie sozialistische Aktivisten. Die HDP-Politiker werden beschuldigt, hinter Massenprotesten im Oktober 2014 gestanden zu haben, die sich gegen die Unterstützung des sogenannten Islamischen Staates (IS) durch die Regierung Erdogan richteten. Während die IS-Kämpfer damals in die syrisch-kurdische Stadt Kobani (arabisch: Ain Al-Arab) eindrangen, wurden in der Osttürkei Dutzende Menschen bei Zusammenstößen von Demonstranten mit der Polizisten und islamistischen Paramilitärs getötet. Sechs Jahre nach der Schlacht um Kobani ist es den syrischen Kurden gelungen, den IS weitgehend zu zerschlagen und ihre Autonomieregion Rojava zu halten. Und in der Türkei verfügt die HDP laut jüngster Umfragen trotz aller Repression weiterhin über eine konstante Unterstützung von mehr als zehn Prozent der Wähler. Für die übrige, von den Kemalisten dominierte Opposition spielen kurdische Stimmberechtigten eine Schlüsselrolle. (…) Dagegen schweigt Bundesaußenminister Maas, wenn in der Türkei um die hundert Oppositionelle von der Polizei aus ihren Wohnungen geholt oder kurdische Bauern aus Militärhubschraubern geworfen werden. Während sich die Bundesregierung und ein Großteil der sogenannten Leitmedien längst im Kalten Krieg gegen die geopolitischen Rivalen Russland und China befinden, wird in unverbrüchlicher Treue an der bis in die Zeiten des Bagdadbahnbaus im 19. Jahrhundert zurückreichenden Waffenbrüderschaft mit der Türkei festgehalten...“
  • „Unerwarteter Schlag gegen die HDP“ von Jürgen Gottschlich am 25. September 2020 in der taz online externer Link zur neuerlichen antidemokratischen Offensive des Berliner Partners in Ankara: „…Warum ausgerechnet jetzt die Regierung den damaligen Konflikt wieder aufgegriffen hat, obwohl in den kurdischen Gebieten seit einem Jahr eine weitgehende Friedhofsruhe herrscht, wird vom Innen- oder Justizministerium nicht kommentiert. Mithat Sancer, einer der beiden aktuellen Co-Vorsitzenden der HDP meint, Erdoğan brauche angesichts fallender Umfragewerte einen neuen Aufreger, „deshalb haben sie diese alten Geschichten wieder ausgegraben“. Andere HDP Mitglieder beklagen die anhaltende Repression gegen die Bürgermeister der Partei. Von den 64 Bürgermeistern der HDP, die bei der Kommunalwahl im März 2019 in Städten und Gemeinden im Osten ihren Posten gewinnen konnten, sind die meisten bereits des Amtes enthoben und durch Zwangsverwalter aus Ankara ersetzt worden. Als Begründung musste jedes Mal eine angebliche Unterstützung der PKK herhalten“.
  • „„Kobanê ist nicht gefallen, auch die HDP wird nicht fallen“ „ am 25. September 2020 bei der ANF externer Link meldet zu ersten Reaktionen auf die neuerliche Offensive: „…Hintergrund ist ihre vermeintliche Beteiligung an Demonstrationen im Oktober 2014, als die HDP anlässlich des IS-Angriffs auf die Stadt Kobanê in Westkurdistan/Nordsyrien auch gegen die Unterstützung der türkischen Regierung für die dschihadistische Terrormiliz protestierte und Erdogan Kobanê bereits als gefallen erklärte. Gegen diesen Repressionsschlag haben die kurdischen Dachverbände KCDK-E, KON-MED und TJK-E zu spontanen Protesten in Europa aufgerufen externer Link. Zahlreiche Menschen gingen auf die Straßen und machten dabei deutlich: „Kobanê ist nicht gefallen, auch die HDP wird nicht fallen.“ Für Samstag sind weitere Aktionen geplant“.
  • „Kurdische Verbände rufen zur Solidarität mit der HDP auf „ ebenfalls am 25. September 2020 bei der ANF externer Link zu den Aufrufen für den 26. September: „… In sieben Provinzen der Türkei sind Dutzende Oppositionelle festgenommen worden. Insgesamt 82 Personen sind zur Fahndung ausgeschrieben. Den Betroffenen, darunter amtierende und ehemalige Parlamentsabgeordnete sowie Bürgermeister der Demokratischen Partei der Völker (HDP), wird im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten im Oktober 2014 die versuchte „Zerstörung der Einheit und Integrität des Staates“, „Mord“, „Plünderung“, „Anstachelung zur Gewalt“ und „Freiheitsberaubung“ vorgeworfen. Der Europadachverband KCDK-E, der bundesweite Dachverband KON-MED und der Frauendachverband TJK-E haben zu sofortigen Protestaktionen gegen den jüngsten Repressionsschlag gegen die Opposition in der Türkei aufgerufen. In zahlreichen Städten finden heute und morgen Spontanaktionen statt, mit denen Solidarität mit der HDP eingefordert wird. In einem Mobilisierungsaufruf des KCDK-E heißt es: „Wir rufen dazu auf, überall auf die Straßen zu gehen und den Diktator Erdogan samt seiner faschistischen Allianz aus AKP, MHP und Ergenekon anzuprangern.“...“

Update vom 27. September 2020:

  • „Politischer Vernichtungsfeldzug geht weiter: Sieben Festnahmen“ am 26. September 2020 bei der ANF externer Link meldet: „… Das Regime in der Türkei setzt seinen politischen Vernichtungsfeldzug gegen die Opposition in der Türkei fort. Nach der Repressionswelle gegen die HDP und die „Bewegung der Namenlosen“ am Freitag sind am Samstagmorgen mehrere Wohnungen in den Istanbuler Stadtteilen Fatih, Gaziosmanpaşa und Maltepe von Polizisten der Antiterrorabteilung (TEM) gestürmt worden. An den Razzien waren auch Angehörige von Sonderoperationseinheiten beteiligt. Die Wohnungstüren wurden aufgebrochen und die Inneneinrichtung verwüstet. Sieben Personen wurden als vermeintliche Mitglieder einer Terrororganisation festgenommen und in die Polizeizentrale gebracht“.
  • „HDP-Abgeordneten droht Immunitätsverlust am 26. September 2020 bei Civaka Azad externer Link dazu: „… Die türkische AKP-Regierung hat ihre Angriffe auf die Oppositionspartei HDP ausgeweitet. Nach der Festnahmewelle vom 25. September soll nun sieben HDP-Abgeordneten die Immunität abgesprochen werden. Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat angekündigt, die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von mehreren Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zu beantragen. Wie es in einer Mitteilung der Behörde heißt, wird der Immunitätsverlust von insgesamt sieben Parlamentarier*innen gefordert, die zur Zeit der sogenannten Kobanê-Proteste im Oktober 2014 Mitglied des zentralen Exekutivrates der HDP waren. Namen nannte die Staatsanwaltschaft nicht, vermutlich geht es aber unter anderem um Garo Paylan, Hüda Kaya, Meral Danış Beştaş, Saruhan Oluç, Serpil Kemalbay und Sezai Temelli. Wann die Anträge zum Entzug der politischen Immunität der Abgeordneten bei der Verfassungskommission und dem Vorsitz des Parlaments eingereicht werden sollen, ist unklar. Wie die Staatsanwaltschaft außerdem verlautbaren ließ, sollen im Rahmen der Festnahmewelle gegen die HDP bereits 20 Personen bei landesweiten Razzien festgenommen worden sein. Zur Fahndung ausgeschrieben sind insgesamt 82 Personen, 61 von ihnen befinden sich laut der Behörde im Ausland und sollen daher bei der internationalen kriminalpolizeilichen Organisation Interpol auf die Fahndungsliste gesetzt werden. Ob das Justizministerium die „Red Notice“ bei Interpol absegnen wird, bleibt abzuwarten…“
  • „Solidaritätsaktionen für die HDP in Deutschland“ am 26. September 2020 bei der ANF externer Link zu den ersten Protesten auch in der BRD unter anderem: „… In zahlreichen Ländern haben an diesem Samstag wieder Protestaktionen gegen den Repressionsschlag der AKP/MHP-Regierung gegen die HDP stattgefunden, auch in Deutschland. Wir berichten aus Berlin, Stuttgart, Hamburg, Heilbronn und Kiel. Weltweit haben an diesem Samstag wieder Demonstrationen gegen den Repressionsschlag gegen die demokratische Opposition in der Türkei stattgefunden. Auch im deutschen Bundesgebiet wurde gegen den politischen Vernichtungsfeldzug protestiert und Solidarität mit der HDP bekundet. Die Aktionen fanden im Rahmen der von der KCK gestarteten Offensive „Schluss mit Isolation, Faschismus und Besatzung – Zeit für Freiheit“ statt, die sich gegen das Regime in der Türkei richtet und rund um den Globus geführt wird…“
  • „Schluss mit den Repressionen gegen Oppositionelle!“ am 26. September 2020 bei der DIDF externer Link steht hier als Beispiel für zahlreiche Aufrufe und Erklärungen linker und demokratischer Organisationen  gegen die erneute Repressionswelle in der Türkei und hält dazu unter anderem zur Bedeutung der Vorgehensweise und der bundesdeutschen „ständigen Hilfe“ für das Regime fest: „… Jetzt, am 25. September wurden 82 linke und kurdische Mitglieder der HDP aus insgesamt sieben Provinzen der Türkei wieder mit der gleichen Begründung festgenommen. Den Betroffenen, darunter viele amtierende und ehemalige Parlamentsabgeordnete sowie Oberbürgermeister, ist ein 24-stündiges Anwaltsverbot angeordnet worden. Einen Tag lang wird den Festgenommenen somit der Zugang zu einem Rechtsbeistand verwehrt. Begründet wird die Maßnahme mit Verdunkelungsgefahr. Unter den zur Fahndung ausgeschriebenen Politikerinnen und Politikern befinden sich u.a. 24 Mitglieder des HDP-Exekutivrates, die 2014 im Amt waren. In ihrem Fall wurde zusätzlich eine viertägige Geheimhaltungsverfügung verhängt. Unter den Festgenommenen befinden sich sowohl der frühere HDP Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder als auch der Bürgermeister von Kars, Ayhan Bilgen sowie der HDP-Vorstandsmitglied Alp Altınörs. Die Neuaufnahme der Anklage nach sechs Jahren und die früheren und aktuellen Verhaftungen sind kein Akt eines Rechtsstaates, einer Gewaltenteilung und unabhängigen Justiz, sondern ein Ausdruck der Willkür und politischer Machtkalkül des Erdogan-Regimes. Mit dieser Verhaftungswelle versucht die türkische Regierung nur von ihren aktuellen Krisen abzulenken. Zum einen durchlebt die Türkei eine große Wirtschaftskrise, die mit den Bedingungen der Pandemie zusätzlich verstärkt wurde. Innenpolitisch haben Arbeitslosigkeit, Armut, Gesundheitsversorgung und massive Probleme in der Bildung in den letzten Jahren zu großer sozialer Unzufriedenheit geführt. Zum anderen befindet sich die Türkei außenpolitisch in Syrien, Libyen und in den Ägäis/Mittelmeer in einer Sackgasse und ist stark isoliert. Mit diesen aktuellen Repressionen gegen die Opposition versucht die Erdogan-Administration, die Kritiker zu kriminalisieren, die Opposition generell zu schwächen und die Bürgerrechte völlig außer Kraft zu setzen. Aus diesem Grund stellt diese Verhaftungswelle einen Angriff auf alle gesellschaftlichen Bewegungen und Kräfte dar. In einer Zeit in der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht mehr existiert und das türkische Regime immer autoritärer wird, genießt sie weiterhin die uneingeschränkte politische sowie militärische Unterstützung Deutschlands. Die Türkei kaufte in den letzten zwei Jahren die meisten Kriegswaffen aus Deutschland und führt nach außen- wie innen eine aggressive Politik. Trotz dieser Tatsache stärkt Deutschland aus eigenen Interessen Erdogan den Rücken. In einer Zeit in der der türkische Geheimdienst in Österreich und in Deutschland oppositionelle türkischer Herkunft bedroht und dabei entlarvt wird, 70 deutsche StaatsbürgerInnen in türkischen Gefängnissen sitzen oder ihnen die Ausreise verwehrt wird, spart sich Deutschland keine Mühe, wenn es um die volle Unterstützung Erdogans geht...“
  • „HDP diz çökmedi, çökmeyecek, bu da size dert olsun“ am 26. September 2020 bei Sendika.org externer Link dokumentiert die Stellungnahme (und Aufruf zum Widerstand) der HDP-Sprecherin Buldan, die unterstreicht, dass es dem Erdogan-Regime in der Vergangenheit nicht gelungen sei, die HDP zu zerschlagen – und dass dies auch in Zukunft nicht gelingen werde…
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=178659
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