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Gewerkschaften in der Türkei nach 10 Jahren AKP-Regierung. LabourNet Germany Inside Report Nr. 1

Ein Beitrag, mit dem versucht wird, eine Bestandsaufnahme der Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung in der Türkei in den Jahren der AKP-Regierung zu machen ist „Gewerkschaften in der Türkei nach 10 Jahren AKP-Regierung“ – LabourNet Germany Inside Report heisst diese neue Reihe von grundlegenden, zumindest der Absicht nach strömungsübergreifenden Untersuchungen.

Vorbemerkung

Es ist nicht überraschend, daß sich zunehmend mehr Menschen für die Gewerkschaftsbewegung in der Türkei interessieren – und fast ebensoviele sich über die “Unübersichtlichkeit” beklagen. Unübersichtlichkeit an sich braucht nichts Negatives zu sein: Ein bißchen weniger übersichtlich könnte beispielsweise die deutsche Gewerkschaftsbewegung schon sein…

Gründe für das wachsende Interesse gibt es mehr als genug: Selbstverständlich die Arbeitsmigration, aber auch der Aufstieg des türkischen Kapitalismus, sowie die schon seit langem große und weiter anwachsende Tätigkeit von Unternehmen aus der BRD in der Türkei.

Gründe für die Unübersichtlichkeit gibt es auch viele: Es beginnt schon mit den Mitgliederzahlen, die ja aufgrund der repressiven Gesetzgebung für die Wirkungsmöglichkeit einer Gewerkschaft entscheidend sind, und geht weiter mit einer politischen Landschaft, die einst nahezu gewerkschaftsfreie Wunschzustände für Unternehmen ebenso umfasst wie die verhältnismäßig starke Organisierung im staatlichen Wirtschaftssektor – ein Erbe der kemalistischen Strategie. Solche realen Unterschiede und die politischen Differenzen zwischen verschiedenen gewerkschaftlichen Strömungen führten und führen auch dazu, dass die jeweiligen Darstellungen der Situation durch die einzelnen Verbände und Föderationen, bescheiden gesagt, verbesserungsbedürftig ist.

Deswegen haben wir für diese kleine Bestandsaufnahme eine Reihe von Arbeitsgesprächen organisiert, zu denen wir ganz bewusst Kolleginnen und Kollegen eingeladen haben, die unterschiedliche (gewerkschafts-)politische Meinungen haben, um wenigstens einigermaßen “über den Strömungen” arbeiten zu können. Was eine ausgesprochen positive Erfahrung war.

Im November 2012 Helmut Weiss

 

INHALT:

1: Ein (sehr) kurzer Abriß der Gewerkschaftsbewegung in der Türkei bis zum ersten Wahlsieg der AKP

Der erste erwähnte Streik aus der Zeit des Osmanischen Reiches passierte 1872 – die Hafenarbeiter von Izmir. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten Versuche, Gewerkschaften zu organisieren – aber erste richtige Gewerkschaften gab es erst gegen Ende des Reichs um 1910. Die Republik Türkei musste, wie jeder zu schaffende Nationalstaat, bestimmte Kriterien erfüllen – eines davon war, wie eigentlich überall, nur in der Türkei militanter, die Auffassung, die Nation stehe über allem – weshalb auch keine Gewerkschaften zugelassen wurden.

Von der Republikgründung 1923 bis zum Ende der Einparteiendiktatur 1945 gab es faktisch weder Organisations- noch Versammlungsfreiheit. Erst 1947 gab es das erste Gesetz, das grundsätzlich Arbeitergewerkschaften ermöglichte.

Danach entstanden einige Gewerkschaften und 1952 der erste landesweite Gewerkschaftsbund Türk-Is.

Entsprechend der politischen Konstellation, dass staatliche Politik die wesentliche Entwicklung der Ökonomie zu betreiben habe, waren private Unternehmen eher handwerklicher Art oder eben aus dem Handelsbereich – was bedeutete, dass die gewerkschaftliche Organisierung eben vor allem in den staatlichen Betrieben stattfand. Dies begann sich erst im Verlaufe der 60er Jahre zu ändern, dann aber immer massiver – die Industrialisierung schritt voran.

Zu Beginn und in der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts war die Türkei noch wesentlich geprägt von jener Realität, die viele Menschen aus der BRD heute noch für vorherrschend zu halten scheinen: Das anatolische Dorf war da noch die wesentliche Art zu leben. Die wachsende Zahl von (Industrie)Arbeitern führte auch dazu, dass ein Teil dieser Arbeiterschaft nicht mit der braven und national gesinnten Ausrichtung von Türk-Is Gewerkschaften (obwohl diese von Beginn an nicht einheitlich waren, es gab auch damals schon immer wieder kleinere angeschlossene Gewerkschaften, die deutlich radikaler als der Gewerkschaftsbund und die darin besonders wichtige Petrol-Is waren) zufrieden war – und dies, zusammen mit dem Wirken der 1961 gegründeten Türkischen Arbeiterpartei führte 1967 zur Gründung eines zweiten, revolutionären Gewerkschaftsbundes, der DISK.

Türk-Is, der der Demokratischen Partei nahe stand, konnte und kann aber stets für sich in Anspruch nehmen, einige erste grundlegende Errungenschaften der Arbeiter mit erreicht zu haben – Arbeitszeit wurde definiert, Jahresurlaub und Krankenversicherung eingeführt.

Erst recht in den 70er Jahren gab es einen echten Schub der Entwicklung, der auch dazu führte, dass immer mehr politische Strömungen in der Türkei zur Überzeugung kamen, in der Arbeiterschaft verwurzelt sein zu müssen. So wurden 1970 MISK und 1976 Hak-Is gegründet, die im wesentlichen faschistoide bzw religiöse Strömungen in der Arbeiterschaft zum Ausdruck brachten.

Spätestens in den 70er Jahren also hatte die Türkei eine ideologisch gespaltene Gewerkschaftsbewegung, eine weitreichende Fragmentierung, deren Rivalitäten teilweise extrem waren: Mit faschistischen MISK Aktivgruppen gab es regelrechte Schlachten. Eine fragmentierte Gewerkschaftsbewegung also, die aber in den 70er einen gewaltigen Aufschwung nahm, real betrachtet erstmals in der Geschichte des Landes ein gesellschaftlicher Faktor wurde. Ausgangspunkt der Situation der Gewerkschaften in der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nach 67 aber war eindeutig die Spaltung zwischen Türk-Is und DISK, die man auch als Abspaltung von der Türk-Is begreifen konnte: Speziell nach den spontanen Streiks der Bergarbeiter, sowie einer Reihe von Streiks in der Privatindustrie Mitte der 60er Jahre, infolge derer die Türk-IS Führung einzelne Gewerkschaften ausschloss, war diese Trennung angelegt.

Kulminationspunkt war ein Streik der Glasarbeiter von Kristal-Is, bei dem Türk-Is über die Köpfe der Arbeiter und der Einzelgewerkschaft hinweg einen Tarifvertrag abschloss. In den 70er Jahren profilierte sich die DISK als ein Gewerkschaftsbund, der für Antifaschismus und Demokratie stand und zeigte sich sehr mobilisierungsfähig – wobei auch in dieser Zeit immer wieder Belegschaften oder Gewerkschaften, die Türk-Is angehörten, mobilisiert werden konnten.

Das Massaker von Kahramanmaras, der Überfall auf die Maikundgebung 1977 mit 35 Todesopfern, die Ausnahmegesetzgebung, die immer weiter ausgedehnt wurde – das war das Vorspiel zum Militärputsch vom 12. September 1980, der ein inhaltliches Programm hatte, die Verwirklichung des “Forderungskatalogs” vom Januar 1980 zu ökonomischen Reformen. 1980 war aber das Jahr mit der grössten Anzahl von Streiks, die Gewerkschaftsbewegung war ein Haupthindernis zur Verwirklichung des Katalogs (der sich ihnhaltlich, in der BRD, etwa mit dem sogenannten Lambsdorff – Papier vergleichen lässt, trotz sehr unterschiedlicher Ausgangsbedingungen). Ein Katalog also, der ganz im Stile von Pinochet in Chile, Thatcher in England und Reagan in den USA verfasst war: Ein neoliberales Kampfprogramm, das gegen die politischen Linke, gegen soziale Bewegungen und gegen den am meisten mobilisierungsfähigen der bestehenden Gewerkschaftsbünde, eben die DISK durchgesetzt werden musste.

Neben Mord, Folter und Verfolgung war eine der zentralen Repressionsmaßnahmen die befohlene Auflösung der DISK, die zu jenem Zeitpunkt über eine halbe Million Mitglieder hatte. Faktisch blieb die DISK – als einzige, andere Gewerkschaftsföderationen hatten kurzfristige Tätigkeitsverbote – bis 1992 verboten und musste sich danach reorganisieren.

Türk-Is dagegen unterstützte die Diktatur – einschliesslich des Vorgehens gegen die DISK. Die zumindest stark behinderte Arbeit der DISK war auch einer der Faktoren dafür, dass bei den Streikwellen der zweiten Hälfte der 80er Jahre, die sich vor allem gegen die Privatisierungspolitik der Özal-Regierung richteten, oftmals kämpferische Belegschaften und Einzelgewerkschaften alleine da standen und verloren, obwohl sich eine deutlich sichtbare Radikalisierung innerhalb Türk-Is abzeichnete.

Die faktische Niederlage der Gewerkschaftsbewegung gegen die erste Privatisierungswelle war ein Ergebnis, das die weitere Entwicklung innerhalb der Türkei wesentlich mit prägte: Die Gewerkschaften verloren an Einfluss sowohl in den Betrieben, als auch in der Öffentlichkeit, die letzte große Streikbewegung war 1995.

Hinzu kam, dass in der ganzen Zeit, bis Herbst 2012, das Gewerkschaftsgesetz der Putschisten von 1980 weiterhin Gültigkeit besaß, das massive Einschränkungen bedeutete. Auch wenn die Spaltung zwischen Türk-Is und DISK nicht mehr so extrem war, wie in den 70er Jahren, so war die Gewerkschaftsbewegung bei Regierungsantritt der AKP gespalten – auch durch die Tätigkeit der AKP selbst, die ihren Einfluss in der Gewerkschaftsbewegung steigern konnte, in dem sie ihre Verbindungen zu Hak – Is systematisch ausbaute.

Diese drei Faktoren: Repression, Spaltung und die politische Niederlage Ende der 80er, bis Mitte der 90er Jahre, führten dazu, dass der AKP bei Regierungsantritt keine starke Gewerkschaftsbewegung gegenüber stand. Gegenüberstand – nicht wegen der ideologischen Ausrichtung der AKP, sondern wegen der neoliberalen Programmatik, mit der sie an die Regierung kam.

2: Eine moderne konservative Regierung: Neoliberal und repressiv. Oder: Die Gewerkschaftsbewegung, die Privatisierung und die politischen Begrenzungen

Um zu einem besseren Verständnis der aktuelleren Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung in der Türkei kommen zu können, muss man neben der zunächst sehr kurz zusammengefassten Ausgangslage auch den wesentlichen politischen Gegenspieler betrachten, zumal die AKP in verschiedener Hinsicht ein verändernder Faktor im Vergleich zu anderen politischen Formationen ist. Diese versuchte Analyse in Grundzügen ist von daher besonders schwierig, weil es darüber sehr unterschiedliche Auffassungen gab und gibt. So kann man auf der einen Seite durchaus Argumente dafür finden, dass die AKP nicht sehr viel anderes sei, als eine Art islamische CDU. Andrerseits hat sie durchaus zahlreiche Schritte der kontinuierlichen Repression ebenso fortgesetzt, wie sich gegen eine Normalisierung der Gewerkschaftsgesetzgebung verhalten. Schliesslich vertritt sie auch sehr massiv die Interessen solcher Kreise, die auf die eine oder andere Weise an der Privatisierungspolitik verdienen.

Zwischen dem Start des Privatisierungsprogramms 1986 und dem Jahr 2011, also in 25 Jahren lagen die gesamten Einnahmen der Staatskasse der Türkei aus Privatisierungen bei etwas über 40 Milliarden Dollar – als ein Jahresdurchschnitt von etwa 1,5 Milliarden im gesamten Zeitraum – allerdings ragt das Rekordjahr 2008 mit alleine über 6 Milliarden deutlich heraus, und auch die Jahre davor und danach lagen deutlich über dem Durchschnitt, so dass man durchaus sagen kann, dass die AKP Regierung die Privatisierung nicht nur ganz massiv vorangetrieben hat, sondern eigentlich erst recht in Gang gesetzt hat, da weit über die Hälfte der Erlöse aus ihrer Regierungszeit sind. Und auch das weitere Privatisierungsprogramm, wie etwa Häfen, Brücken oder Autobahnen ist gewaltig.

Erst im Juli 2012 wurde ein neuer Privatisierungsplan vorgestellt, der ausser der Post (nachdem die Telekommunikation schon längst privatisiert ist) auch eine Reihe großer Projekte aus dem Energiesektor umfasst. Insgesamt wurden bis 2011 etwa 200 Betriebe und Einrichtungen in der Türkei privatisiert, für manche fand sich einstweilen kein Käufer. Die am meisten verbreitete Form der Kritik an der Privatisierung ist eher in dem Bereich zu finden, dass die Regierung viel zu billig verkauft habe, und so Käufern große und schnelle Profite ermöglicht.

Eines der grössten Projekte war die Privatisierung des staatlichen Genußmittelproduzenten Tekel – bekannt geworden vor allem durch den grossen Widerstand der Belegschaft, der auch in der Lage war, breitere Teile der Öffentlichkeit in der Türkei auf seine Seite zu ziehen und auch international, nicht zuletzt aus der BRD, viel Solidarität erfuhr.

Spätestens 2003, mit den Großkundgebungen von Türk-Is, wurde von Seiten der Gewerkschaften versucht, dieser Radikalisierung der Privatisierungspolitik durch die AKP auch entschiedener zu begegnen – hierfür sind auch verschiedene Plattformen oder andere Zusammenschlüsse initiiert worden. Dabei wurde auch immer wieder versucht – und dies durchaus mit Fortschritten, über die Gewerkschaftsbewegung hinaus Bündnisse zu schliessen, etwa mit der Plattform gegen Privatisierung von 2008, die neben den entsprechenden Einzelgewerkschaften von DISK, Türk-Is und KESK auch die Kammern verschiedener Ingenierusberufe und Verbraucherverbände umfasste. Auch gegen die Privatisierung der Wasserversorgung wurde ein breites Bündnis organisiert.

Es zeigt sich aber immer wieder, dass sowohl politische Erklärungen, als auch Mobilisierungsversuche weitgehend auf dem Papier bleiben. Ausserdem – wie in anderen Ländern auch – bleiben meist die einzelnen Widerstandskämpfe von Belegschaften räumlich und zeitlich voneinander isoliert Ausserdem geht es den Gewerkschaften, als lange Zeit bestehende Organisationen, auch oft eher darum, die eigene Rolle als Ansprech- oder Verhandlungspartner zu verteidigen, denn darum, für Interessen der Mitgliedschaft einigermassen konsequent zu kämpfen.

Wenn sich etwa beim Kampf der Tekel-Belegschaft die Gewerkschaft bewegte, dann entweder weil der Druck der Belegschaft gross war, oder aber weil sie Druck von der Regierung bekam (die die Auseinandersetzung zum Anlass nahm “ihre” Einzelgewerkschaft von Hak-Is als Konkurrenzorganisation zu stärken) in dem sie die reaktionäre Gewerkschaftsgesetzgebung nicht nur weiter in Geltung beliess, sondern für ihre Zwecke ausnutzte.

Dies hat sich bis in die jüngste Zeit fortgesetzt: Die AKP hat auch in ihren jüngsten Maßnahmen zur Reform der Arbeitsgesetzgebung keine wesentliche Veränderung der reaktionären Gewerkschaftsgesetze vollzogen: Sie bleiben deutlich unter internationalen Standards, wie sie etwa von der ILO gesetzt werden.

Wäre der Tekel-Kampf wohl derjenige gewesen, der am ehesten die Möglichkeit geschaffen hatte, die Gesellschaft in größerem Maaße zu beeinflussen, so muss festgestellt werden, dass die Niederlage dabei naheliegenderweise das gegenteilige Ergebnis brachte – die Gewerkschaften wieder ein Stück unsichtbarer machte.

Dabei ist hervorzuheben, dass die Gewerkschaft selbst – und durchaus gegen den Willen eines guten Teils der Belegschaft – den Kampf faktisch eingestellt hat. Wobei man schon auch unterstreichen sollte, dass die einzige Alternative, die die politische und gewerkschaftliche Linke hatte, der Generalstreik war.

Dahingestellt, ob das damals machbar gewesen wäre, ob Tekel also der Punkt gewesen wäre, an dem die Arbeiterschaft dazu bereit gewesen wäre, zeigt dies doch auch, dass das politische und taktische Arsenal der Gewerkschaftsbewegung in der Türkei reduziert ist.

Aber auch in einem anderen Zusammenhang zeigt sich eine grundlegende Kontinuität der heutigen Regierungspolitik zur traditionellen militaristischen und nationalistischen Politik. Wenn es um die “Sicherheit” geht, mit anderen Worten um die Nationalitätenfrage, vor allem: Um die Kurdenfrage, dann greift auch diese Regierung ganz schnell auf den mächtigen Repressionsapparat zurück – davon zeugt, neben den direkten Kriegshandlungen, etwa im Sommer 2012 die Verhaftungswelle gegen die KESK, die progressive Föderation im öffentlichen Dienst, davon zeugen auch die immer wieder wiederholten Attacken insbesondere gegen die Lehrergewerkschaft Egitim-Sen, die zu den ersten Gewerkschaften gehörte, die sich der Nationalitätenproblematik in der Türkei gestellt haben.

Für deutsche LeserInnen sei an dieser Stelle unterstrichen, dass im ureigentlichen Sinne eine islamisch orientierte Partei keine nationalistische Partei sein könnte – was die AKP im Zuge ihrer Modernisierung allerdings geschafft hat zu werden.

Fasst man diese sehr kurzen Darlegungen zusammen – und es soll hier betont werden, dass sie wirklich sehr kurz sind, was naheliegenderweise die Gefahr inhaltlicher Verkürzungen umso stärker macht, dann kann man folgendes sagen:

1. Die Schwächung der Gewerkschaften in der ersten Welle der Privatisierung nach dem allmählichen Ende der Militärdiktatur hat zwar auch in der Regierungszeit der AKP angedauert, es haben sich aber immer wieder Tendenzen und Möglichkeiten ergeben, dies zu überwinden.

2. Die Politik der AKP Regierung, beschleunigte Privatisierung zu betreiben und den Gewerkschaften im wesentlichen mit der Perpetuierung reaktionärer Gesetze und immer wieder auch mit dem Einsatz des Repressionsapparates zu begegnen, hat die Gewerkschaftsbewegung vor riesige Herausforderungen gestellt. Zumal diese grundsätzliche Haltung von Schritten der AKP begleitet war, den eigenen Einfluss in der Arbeiterschaft zu erhöhen – sei es über den Versuch regierungsnahe Gewerkschaften zu stärken, oder aber auch über eine paternalistische Sozialpolitik.

3. Dies hat auch dazu geführt, dass die Gewerkschaften zumindest etwas enger zusammenrücken mussten, die traditionelle Spaltung, die wie erwähnt des öfteren zu regelrechter Konfrontation führte, ist heute weniger wirksam, gemeinsame Aktionen haben zugenommen. Dennoch bleibt die Grundkonstellation leider bestehen.

4. Einige Zahlen zur Situation der Gewerkschaften in der Türkei zeigen aber die deutliche Schwäche: Die Zahl der Beschäftigten, die unter den Bedingungen eines Tarifvertrages arbeiten, war schon immer relativ niedrig – und sie liegt seit fast 20 Jahren unter der Millionengrenze, bleibt in den letzten Jahren auf niederigem Niveau stabil.

5. Auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt niedrig. In der Regel werden bei statistischen Angaben – die natürlich durch die repressive Gewerkschaftsgesetzgebung in verschiedener Weise beeinflusst werden – bereits jene Regionen als stärker angegeben, die einen Organisationsgrad von über 5% haben.

3: Prekär, entgrenzt und migriert – neue und alte Herausforderungen für Gewerkschaften in der Türkei

Obwohl etwa der Automobil- und der gesamte Metallsektor stark gewachsen sind, sind die Branchen, die traditionell von privaten Unternehmen bestimmt sind, wie der Textilbereich, der Einzelhandel und die Bauindustrie immer noch zentrale Bestandteile der Wirtschaft in der Türkei.

So beläuft sich die Schätzung darauf, dass immer noch etwa 10 Prozent aller Beschäftigten im Textilbereich arbeiten. Zahlen sind wenig ergiebig, denn alle diese Branchen sind durch einen völlig unübersichtlichen, aber sehr großen informellen Bereich gekennzeichnet.

Diese Bereiche waren auch schon immer von Arbeitsmigration geprägt, einst innertürkisch, heute auch auf den Balkan und nach Zentralasien hineinwirkend – ein Ergebnis des wirtschaftlichen Aufschwungs den es gibt, auch wenn die Armut in der Türkei immer noch gut und gerne jeden sechsten Einwohner trifft.

Die gewerkschaftliche Organisierung dieser Branchen war schon immer eine Herausforderung für die Verbände, der sie schon immer nicht besonders gut entsprachen: Umso weniger heutezutage, da längst mehr Arbeitsmigration in die Türkei als aus der Türkei stattfindet.

Hier sei auch festgehalten, dass die Arbeitsmigration einen wesentlichen Faktor der Veränderung der Nationalitätenfrage darstellt: Istanbul ist, was Bevölkerungszahlen betrifft, unter anderem und zunächst explodiert durch kurdische Menschen, die da prekäre Jobs übernahmen. Aber auch in der Textilindustrie ist der grösste einzelne Bevölkerungsblock zumindest lange Zeit, vermutlich auch noch heute, von meist jüngeren kurdischen Frauen gestellt.

Nicht nur zur Ergänzung sei erwähnt, dass prekäre Beschäftigung auch im öffentlichen Dienst weit verbreitet ist – die dafür angegebenen Zahlen bewegen sich rund um eine halbe Million Menschen. Insgesamt kann und muss gesagt werden, dass – etwa im Vergleich zu einem anderen wirtschaftlich aufstrebenden Land wie Brasilien – die informelle (und damit auch ein guter Teil der prekären) Beschäftigung in der Regierungszeit der AKP nicht wie dort abgenommen, sondern zugenommen hat.

Was die Arbeitsbedingungen betrifft, so gab es ja in der BRD sogar eine kleine Solidaritätskampagne für die Opfer der Sandstrahlung im Textilbereich.

Im Bausektor starben in den Boomjahren immer ungefähr 500 Arbeiter im Jahr – ein Drittel etwa aller Todesopfer durch Arbeitsunfälle – darin ist die Türkei Nummer 1 in Europa.

Theoretisch gibt es in diesen Sektoren Gewerkschaften, praktisch spielen sie kaum eine Rolle und zumindest die TeilnehmerInnen der Arbeitsgespräche für diesen Überblick sahen auch keine großen Anstrengungen, dies zu ändern.

Erst im Sommer 2012 hat die Türkei die Visabedingungen verschärft – eine Drohgebärde vor allem, aber nicht nur, für die (geschätzte) eine Million Menschen, die ohne Papiere in der Türkei arbeiten, oftmals in Haushalten, auch als Pflegerinnen – aber natürlich auch im Einzelhandel. Meist sind diese Menschen aus Gegenden, die auf verschiedene Art besondere Beziehungen zur Türkei haben, wie die rund 70.000 aus Armenien, die – wie jede Migration – auf Netzwerke mit türkischen Staatsbürgern der entsprechenden Nationalität aufbauen oder aber wie Menschen aus sonstigen zentralasiatischen Staaten, aber auch vom Balkan, die kulturelle Verbindungen zur Türkei haben.

Auf diese Entwicklungen haben die Gewerkschaften lange kaum reagiert – erst in letzter Zeit gibt es erste Versuche, darauf zu reagieren. In den letzten Jahren haben zunehmend mehr kurdische innere Arbeitsmigranten und MigrantInnen den Weg zu den Gewerkschaften gefunden, ohne dass dies auch für andere Menschen geschieht, wird dies zu einem weiteren wesentlichen Schwachpunkt der türkischen Gewerkschaftsbewegung werden.

4: Sehr kurz – einstweilen – zur Rolle bundesdeutscher Unternehmen in der Türkei

Wie überall, so spielen Unternehmen aus der BRD auch in der Türkei keineswegs eine soziale Vorreiterrolle: Warum sollten sie auch, die billigen und schlechten Arbeitsbedingungen sind schliesslich einer der Gründe, weswegen sie in der Türkei investiert haben. Die Deutsch-Türkische IHK hat rund 750 Mitgliedsfirmen. Die sich in ihrer Haltung zu Gewerkschaften nicht wesentlich von anderen ausländischen Unternehmen unterscheiden: Die auch im LabourNet Germany recht ausführlich dargestellte (und mitbetriebene) Kampagne, um Druck auf UPS – natürlich kein BRD Unternehmen, aber trotzdem, wegen des Geshäftsumfangs, auch von hier zu beeinflussen – zu entfalten kann da ebenso erwähnt werden, wie in diesen Tagen die Entlassungen bei Renault wegen gewerkschaftlicher Aktivität.

Gerade in letzter Zeit haben sich zwei BRD Unternehmen besonders negativ hervorgetan: Die DHL und Hugo Boss.

“In der Türkei protestieren gerade entlassene Beschäftigte vor DHL-Lagerhäusern gegen ihre ungerechtfertigten Kündigungen. Laut Berichten der Betroffenen wurden mehr als 20 von ihnen im vergangenen Jahr aufgrund ihrer Bemühungen um gewerkschaftliche Organisierung entlassen. Auch würden die Beschäftigten weiterhin vom örtlichen DHL-Management einzeln angesprochen und vor die Wahl gestellt, entweder aus der Gewerkschaft auszutreten oder ihren Job zu verlieren” – diesem ITF Text, der zur Solidarität aufruft, ist nichts hinzuzufügen.

Hugo Boss ist vornehmer: Es geht die Firma nur nichts an, wenn ihr Zulieferer Texim Gewerkschafter entlässt oder die Polizei Streikposten attackiert. Insgesamt muss man aber festhalten, dass, obwohl es verschiedentlich gute und wirksame Solidaritätsaktionen aus der BRD gab, diese eher individuellen Initiativen zuzuschreiben sind und keinesfalls einer systematischen Politik – von keiner Seite. Systematisch arbeiten, organisiert und dauerhaft – das tun, einmal mehr die Unternehmen, nicht aber die Gewerkschaften.

5: Was tun?

1. Wir haben versucht, mit diesem kurzen Papier einen Überblick über die jüngere Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung in der Türkei zu geben, der umfasst, was zumindest für mehrere politische Strömungen die gemeinsame Sichtweise ist.Wir danken der Rosa-Luxemburg-Stiftung

2. Wir denken, dass sich aus diesen Ergebnissen einige Schritte ableiten lassen, die unternommen werden sollten, um gemeinsames Verständnis als Grundlage für gemeinsame Diskussionen und gemeinsame Praxis zu entwickeln.

3. Es käme zum einen darauf an, die Aussagen, die wir hier getroffen haben, mit den Sicht- und Erfahrungsweisen aktiver GewerkschafterInnen aus der Türkei zu vergleichen, am besten in einer Reihe von Interviews und Stellungnahmen dazu, sowohl von Funktionären und AktivistInnen, als auch von Menschen, die aus verschiedenen Gründen der Gewerkschaftsbewegung eher fern stehen. Wir denken, dass dies dann eine gute Grundlage für gemeinsame, länderübergreifende Diskussionen darstellen würde.

4. Es käme zweitens darauf an, insbesondere die Situation und das Wirken deutscher Unternehmen in der Türkei zumindest einigermassen systematisch zu erfassen, in Kooperation mit GewerkschafterInnen, die dort tätig sind oder versuchen, es zu werden. Wir denken, dass das dann eine gute Grundlage für gemeinsame, länderübergreifende Praxis darstellen würde.

5. Es wäre ausserdem zu überlegen, bzw zu diskutieren, auf welche Art man sowohl gemeinsame Diskussionen als auch gemeinsame Aktivitäten insofern besser organisieren könnte – und, vielleicht sogar dauerhafter, bessere Ergebnisse erzielen, als heute und bisher, da Aktionen und Solidarität dann doch oftmals von der Initiative einzelner KollegInnen oder lokaler Einheiten ausgehen und real gesehen auch abhängig sind. Irgendeine genau heute vielleicht nicht festzulegende dauerhafte Fort von Verbindungskomitee wäre eine uns möglich erscheinende Form.

6. Wir denken schliesslich auch, dass LabourNet Germany dabei eine wichtige Rolle spielen kann, indem es Beiträge dazu leistet, die internationalistische Strömung in den Gewerkschaften zu stärken – sowohl durch geregeltere Berichterstattung inklusive des Ausbaus von Grundlagentexten wie dem vorliegenden, als auch als potenzielles Hilfsmittel für ein basisiorientiertes Verbindungskomitee.

Siehe dazu auch: „Kleine Linksammlung zu Gewerkschaften in der Türkei“ für weitere Grundinformationen, erstellt im November 2012.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=18018
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