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Seit dem Überfall der Türkei auf Nordsyrien wurde von der Bundesregierung gefordert, Stellung zu beziehen. Jetzt hat sie es getan: Waffenbrüder

Union Solidarity International: Erdoğan uses ISIS to attack the KurdsDie Siedlungsprogramme in Nordsyrien unterstützen – das kommt daher, zu tun, als ob es sich um eine humanitäre Absicht handele und ist insofern bundesrepublikanische Tradition. Von den Bomben auf serbische Personenzüge über jene auf afghanische Hochzeitsfeiern wurde jeder Bundeswehr-Einsatz, mit nahezugeschlossener medialer Unterstützung, als Mischung zwischen Roten Kreuz–Aktionen und dem Wirken als eine Art Volkshochschule dargestellt. Also auch die Finanzierung eines Programms der türkischen Regierung, das ohne den militärischen Überfall auf Nordsyrien gar nicht denkbar oder möglich wäre – einschließlich der Mobilisierung fundamentalistischer Milizen durch die AKP. War die Politik der Bundesregierung in Bezug auf den Krieg der Türkei bisher gekennzeichnet durch selbstverständliche Duldung weiterer Waffenlieferungen und der Absicherung der Ruhe an der (deutschen) Heimatfront durch konsequentes Vorgehen der Behörden – vor allem von Polizei und Justiz – gegen jeden kurdischen Protest, so ist jetzt eine neue Dimension der Kriegsunterstützung erreicht.  Die Bildung des Protektorats Nordsyrien wird von der BRD aktiv mit betrieben. Was keineswegs nur Kritik, sondern auch Widerstand hervorruft – der wiederum in der BRD dringendst unterstützt werden sollte. In der Hoffnung, dabei helfen zu können dies voran zu bringen, haben wir die aktuelle Materialsammlung „Bundesregierung beteiligt sich am Krieg in Nordsyrien“ vom 26. Januar 2020 verfasst:

„Bundesregierung beteiligt sich am Krieg in Nordsyrien“

„Merkel-Besuch bei Erdogan: „Eine außenpolitische Bankrotterklärung““am 24. Januar 2020 im Presseportal externer Link ist eine PE von medico international, in der unter anderem unterstrichen wird: „… Bundeskanzlerin Merkel hat nach ihrem Treffen mit dem türkischen Präsidenten Erdogan erklärt, die Türkei bei der Versorgung von Flüchtlingen in Nordsyrien zu unterstützen und darüber hinaus die türkische Küstenwache stärken zu wollen, die erst vor wenigen Tagen mit dem Rammen eines Flüchtlingsbootes für Schlagzeilen sorgte. Anita Starosta, Referentin für Syrien und Türkei bei der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international, bezeichnete Merkels Erklärung als „einen Tabubruch, der sich lange angekündigt hat“. „Sollte die UN – auf Initiative Deutschlands – die Ansiedlung von Flüchtlingen in die türkische Sicherheitszone unterstützen, wäre dies ein Tabubruch, der den Krieg der Türkei in Nordsyrien nicht nur anerkennt, sondern aktiv unterstützt. Es kann und darf nicht sein, dass ein völkerrechtwidriger Angriffskrieg, als den der wissenschaftliche Dienst des Bundestags die türkische Invasion bezeichnet hat, mit internationaler und deutscher Hilfe legitimiert wird. Wenn diese Gelder nach Nordsyrien fließen, macht sich die Bundesregierung mitschuldig…“

„Türkei: Merkels zivilisatorischer Tabubruch“ von Tomasz Konicz am 25. Januar 2020 bei telepolis externer Link hebt unter anderem hervor: „… Nun weilte Frau Merkel beim türkischen Machthaber und Förderer des Islamischen Staates, um sich mit ihm vor allem in Sachen „Flüchtlingspolitik“ abzustimmen. Die sechs Milliarden Euro, die Berlin via Brüssel dem ökonomisch hart bedrängtem Regime als Flüchtlingshilfe zusagte, sind wohl erst der Anfang. Letztendlich sind dies europäische Reparationszahlungen für einen verlorenen Krieg Erdogans. Erdogan beklagte sich, dass die Gelder nur NGOs zukämen, er dringt offenbar auf Direktzahlungen. Die Türkei hat es trotz jahrelanger massiver Unterstützung dschihadistischer Kräfte nicht vermocht, den anvisierten islamistischen „Regime Change“ in Syrien durchzusetzen. Ankaras Traum vom syrischen Vasallen- und Gottesstaat ist geplatzt. Erdogan will nun schlicht für das Scheitern seiner imperialistischen Eskalationsstrategie im syrischen Bürgerkrieg von der EU mit Milliardenbeträgen kompensiert werden, indem er die Flüchtlinge, die er selbst in seinem ottomanischen Größenwahn produzierte, als geopolitische Waffe einsetzt. Und Berlins Politik wie Leitmedien spielen dieses perverse Spielchen, dem eine orwellisch anmutende, selbst induzierte Amnesie zugrunde liegt, eifrig mit. Es scheint, als sei nichts vorgefallen, die Beteiligten wollen zum geopolitischen business as usual übergehen – und sie hoffen auf das kurze Gedächtnis einer durch Massenmedien und soziale Netzwerke zur Geschichtslosigkeit konditionierten Öffentlichkeit. Reichten drei Monate, um alles vergessen zu machen? Es scheint, als ob ethnische Säuberungen, Kriegsverbrechen, Massenmord und Terror bereits zur neuen Normalität deutsch-türkischer Geopolitik geronnen sind, die von den Massenmedien der Bundesrepublik kaum noch thematisiert werden. Diesem intendierten Vergessen gilt es entgegenzuarbeiten. Gerade weil es kein business as usual gibt, weil der Zug der Zeit in eine barbarische Zukunft strebt, deren sich bereits abzeichnende Umrisse oberflächlich an die finstere imperiale Vergangenheit des Kapitalismus erinnern, die vor wenigen Jahrzehnten noch als überwunden galt. Der türkische Angriffskrieg gegen Rojava ist der vorläufige Endpunkt einer neoimperialistischen, mit dem Ende der Blockkonfrontation einsetzenden Verwilderung der Geopolitik, die mit dem NATO-Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 begann. Das Völkerrecht, das im Zeitalter der Systemkonfrontation zumindest formell weitgehend eingehalten wurde, weicht sukzessive der bloßen Machtpolitik, dem Recht des Stärkeren. Landraub, mit militärischer Gewalt durchgesetzte Grenzverschiebungen sind wieder akzeptiertes Mittel der Politik in einem Spätkapitalismus, in dem der Staatszerfall in der Peripherie immer öfter zu Interventionen und imperialen Abenteuern verleitet…“

„„Hilfe leistet man nicht dem Aggressor, sondern den Opfern“ „ am 25. Januar 2020 bei der ANF externer Link berichtet von ersten Reaktionen der Betroffenen unter anderem: „… Die Bundesregierung prüft finanzielle Hilfen für die Türkei für den Bau von Flüchtlingsunterkünften in Nordsyrien. Das sagte Kanzlerin Merkel dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei ihrem Türkei-Besuch zu. Der kurdische Politiker Salih Muslim findet für die deutsche Unterstützung der türkischen Politik einer demografischen Neuordnung in Nordsyrien klare Worte. „Hilfe leistet man nicht dem Aggressor, sondern den Opfern“, sagte der Sprecher der PYD (Partei der Demokratischen Einheit) gegenüber Civaka Azad. Bei ihrem Besuch in Istanbul erklärte die Bundeskanzlerin, es gehe um Möglichkeiten, die Türkei zu unterstützen bei der Versorgung von Menschen, die auf syrischem Gebiet in Zelten lebten. Hier stehe die Türkei vor einem „Riesenproblem“, wurde Merkel zitiert. Angesichts der Lage der Flüchtlinge im Winter werde die Bundesregierung prüfen, ob man dies finanziell fördern könne. Die Umsiedlungen in der sogenannten „Sicherheitszone“ müssten mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk geklärt werden. Mit keinem Wort ging Merkel allerdings auf den seit dem 9. Oktober 2019 andauernden und von dschihadistischen Milizen unterstützten Angriffskrieg des EU-Partners gegen die selbstverwalteten Gebieten Nord- und Ostsyriens ein, der bisher mindestens 300.000 Menschen aus ihren angestammten Wohngebieten in den besetzten Städten Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) vertrieben hat. Und auch die restlichen Gebiete im Grenzstreifen werden unvermindert – trotz eines mit Russland geschlossenen Waffenstillstandsabkommens – terrorisiert, um die ursprünglichen Einwohner*innen zu vertreiben und Platz für die Angehörigen verbündeter Islamisten zu schaffen. Dazu erklärte Salih Muslim: „Wenn Deutschland Hilfe leisten möchte, dann soll sie den Kindern und Frauen helfen, die Opfer der türkischen Besatzung geworden sind und nun den kalten Winter unter schwierigen Bedingungen in Camps verbringen müssen. Jede Unterstützung an Erdogan fließt an die islamistischen Banden und ihre in Nordsyrien angesiedelten Familien…“

„Finanziert Deutschland Erdogans Umsiedelungspolitik in Nord- und Ostsyrien?“ von Elke Dangeleit am 24. Januar 2020 bei telepolis externer Link (ein Beitrag, auf den wir auch in unserem Dossier zum Flüchtlingsdeal verlinkt haben, hier aber mit anderer Passage) zur „konkreten Geographie“ des Vorgangs: „… Bei aufmerksamen Journalisten mit Kenntnis der Lage in Nordsyrien müssten spätestens hier die Alarmglocken klingeln. Kein Wort verlor Merkel hingegen über die Hunderttausenden an Flüchtlingen, die die Türkei in Nordsyrien zu verantworten hat und die nun in der Sheba-Region in Zelten leben. Ob der Winter dort weniger hart als im nicht allzu weit entfernten Idlib ist, dass die von der Türkei Vertriebenen keine Hilfe benötigen und keiner Erwähnung wert sind? In unmittelbarer Nachbarschaft von der Provinz Idlib befindet sich das seit 2018 von der Türkei besetzte Afrin, aus dem 300.000 Zivilisten von der Türkei vertrieben wurden. Möglich, dass Erdogan dieses Gebiet für die „festen Unterkünfte“ im Auge hat um einen demographischen Wandel in Afrin zu vollziehen. Erdogan stellte zudem klar, dass er in der sogenannten „Sicherheitszone“ – also dem seit Oktober 2019 von der Türkei völkerrechtswidrig besetzten Gebiet – eine Stadt bauen lässt. Dort möchte er syrische Geflüchtete unterbringen, die jetzt noch in der Türkei leben. Da der Unmut der türkischen Bevölkerung gegen die syrischen Flüchtlinge angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage in der Türkei wächst, sucht Erdogan nach Möglichkeiten, diese wieder loszuwerden. Auf die Frage eines deutschen Journalisten auf der Pressekonferenz nach Umsiedlungsplänen in der sogenannten Sicherheitszone sagte die Bundeskanzlerin, man könne sich in Absprache mit dem UNHCR vorstellen, die Ansiedlung der arabischen Geflüchteten in der „Sicherheitszone“ finanziell zu unterstützen. Was nichts anderes bedeutet, als dass Deutschland den von Erdogan erzwungenen Bevölkerungsaustausch in Nordsyrien finanziert. Das heißt ebenfalls als Konsequenz, dass Deutschland mithilft, den Geflüchteten aus Afrin, die ebenso in Zelten leben wie die Geflüchteten aus Idlib, eine Rückkehr in ihre Heimatregion Afrin endgültig unmöglich zu machen...“

„Und Merkel lächelt ihn an…“ am 25. Januar 2020 bei der ANF externer Link hält zu den besonderen Beziehungen der beiden Kriegspartner fest: „… Das verzückte Lächeln von Merkel beim Anblick des Geschenks in Erdoğans Händen war bemerkenswert. Merkel hat Glück, denn keine europäische Führungsperson ist in den letzten Jahren den Machthabenden eines repressiven Regimes so nahe gekommen wie sie. Es ist noch gar nicht lange her, dass Erdoğan in Bezug auf die Bundeskanzlerin und ihr Land von einer „Nazipraxis“ und „Terroruntersstüzern“ gesprochen hat. So gesehen, läuft es gut für Merkel. Die Türkei Erdoğans hat nach den Wahlen von 2002 mit seiner Übernahme des Ministerpräsidentenamtes 2003 begonnen. Merkel war in jenen Jahren die Vorsitzende der damaligen Oppositionspartei CDU und als Gegnerin der Türkei bekannt. Als sie 2005 an die Regierungsmacht kam, wurde die Idee einer „privilegierten Partnerschaft“ anstelle der EU-Mitgliedschaft für die Türkei aufgeworfen. Dem Aufbau des Ein-Mann-Regimes Erdoğans wurde in den folgenden Jahren gewissermaßen Zement geliefert…“

„Differenzen bleiben – trotz Annäherung“ von Miriam Staber am 24. Januar 2020 bei tagesschau.de externer Link ist keine Regierungserklärung, wohl eher Vorgabe für journalistische Aufbereitung (kritisch! Und wie!), etwa so – aus einem offensichtlich belauschten Vier Augen Gespräch: „… Beim Vier-Augen-Gespräch danach kamen dann aber gleich mehrere Streitthemen auf den Tisch. Zum Beispiel der Konflikt in Libyen. Erdogan sagte dazu: „Dass sich die Angriffe des Putschisten-Generals Chalifa Haftar und seiner Unterstützer in den letzten Tagen vermehrt haben, ist ein Zeichen dafür, dass er nicht für eine Einigung ist. Wir sind auf jeden Fall entschlossen, unsere libyschen Geschwister in diesen schwierigen Zeiten nicht alleine zu lassen.“ Merkel hielt dagegen: „Es hat einzelne Verletzungen dieser Waffenruhe gegeben. Das ist unstrittig, aber insgesamt ist die Intensität der militärischen Aktion seit der Konferenz und auch schon vorher, als Russland und die Türkei diesen Waffenstillstand vereinbart haben, doch deutlich zurückgegangen.“ Der Schlagabtausch ging mehrmals hin und her…“ – Notabene: Dies ist ein Schlagabtausch, ungefähr wie Muhammad Ali gegen George Foreman. Mindestens…

„Rüstungspolitische und ökonomische Voraussetzungen der türkischen Invasion“  von Axel Gehring im Januar 2020 bei der Zeitschrift Luxemburg externer Link zu den Grundlagen gemeinsamer Kriegsführung unter anderem: „… Weitere wichtige rüstungspolitische Weichenstellungen, die den jüngsten Krieg ermöglicht haben, erfolgten bereits in den 1980er und 1990er. Damals wurden mit Deutschland umfangreiche Lieferungen von Leopard-1- und Leopard-2-Panzern vereinbart. Bei diesen wie auch bei anderen Rüstungsprojekten achtete die Türkei auf einen umfangreichen Know-how-Transfer, inklusive der Beteiligung lokaler Firmen an der Produktion. Zudem wurden Artilleriesysteme aus Deutschland testweise angeschafft. Auch hier fand bereits in den 1990er Jahren ein Transfer von Wissen und Technikexpertise statt, der zur Entwicklung der T155-Haubitze beitrug. Trotz der gestiegenen Bedeutung von Drohnenangriffen und drohnengelenktem präzisen Artilleriefeuer spielten während des Afrin-Krieges und der jüngsten Invasion F-16-Mehrzweckkampfflugzeuge eine wichtige Rolle. Aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit und großen Flughöhe, in Kombination mit präziser Munition, gab es für die SDF keine Möglichkeiten zur Flugabwehr. Im Gegensatz zu anderen Systemen findet hier in der Türkei keine lokale Entwicklung des Gesamtsystems, wohl aber dessen lokale Lizenzproduktion und sogar ein Export ins Ausland statt. Auch beim Erwerb dieses komplexen Systems in den 1980er Jahren kam es also zu einem Wissenstransfer, der über die reine Befähigung zur lokalen Wartung hinausging…“

„Repression gegen Kriegsgegner“ bereits am 18. November 2019 bei medico international externer Link ist ein Interview mit einem Vertreter der Konföderation der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes in der Türkei KESK zur Reaktion der Waffenbrüder in Ankara auf Proteste gegen ihren Feldzug. Hätte die Kanzlerin einen Koalitionspartner, der – und dies ist nur eine der Überlegungen, die dieses Gespräch hervorruft – sich irgendwie für Demokratie und Gewerkschaften interessieren würde (aber deren Außenminister teilt ja die werte eines Herrn Modi und schüttelt Bolsonazi als erster die Hand), bekäme sie vielleicht Problemchen… In dem Gespräch wurde unter anderem berichtet: „… Die demokratischen und linken Gewerkschaften in der Konföderation der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes (KESK) haben sich von Anfang kritisch gegen die Militäroperation geäußert. Das tun sie nach wie vor. Die Einzelgewerkschaften der KESK haben sich an der oben genannten Erklärung beteiligt. In den kurdischen Provinzen haben wir uns an den wenigen Kundgebungen beteiligt. Auch die Zentrale der Gewerkschaft der Konföderation der Revolutionären Arbeiter*innen (DISK) hat sich kritisch zum Einmarsch mehrmals geäußert. DISK ist die linke Konföderation der Industriearbeiter*innen, aber kleiner als die anderen beiden Konföderationen, die dem Staat nahe stehen. DISK hat mit KESK und der Union der Kammer der Ingenieur*innen und Architekt*innen (TMMOB) gemeinsam eine Erklärung veröffentlicht. Wir als KESK sind stets bemüht, sowohl mit DISK und TMMOB als auch mit anderen demokratischen Organisationen gegen das Unrecht und Repression Stellung zu beziehen. Uns ist der allgemeine Einsatz für Demokratie und Menschenrechte wichtig, denn die Probleme der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sind nicht von Repression, Nationalismus und Krieg zu trennen...“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=161854
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