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Putzen als Überlebenskampf: Über 200’000 Menschen in der Schweiz verdienen ihr Leben mit Putzen – meist Migrantinnen

Dossier

Buch von Marianne Pletscher und Marc Bachmann: Wer putzt die Schweiz? Migrationsgeschichten mit Stolz und SprühwischerMarianne Pletscher ist Publizistin und seit den 1980er-Jahren Regisseurin von Dokumentarfilmen, für die sie vielfach ausgezeichnet wurde. Sie ist seit Jahren auf Migrationsthemen spezialisiert. Im Hauptteil ihres Buchs «Wer putzt die Schweiz?» porträtiert die Autorin elf MigrantInnen, die in der Tieflohnbranche der Reinigung tätig sind. Infosperber veröffentlicht zwei leicht gekürzte Kapitel aus dem Buch. Im ersten Teil beschäftigt sich die Autorin mit den wirtschaftlichen und soziokulturellen Aspekten des Reinigungsgewerbes.“ Vorvort der Redaktion zum Artikel von Marianne Pletscher vom 7. August 2022 im Infosperber externer Link, siehe Zitate daraus und Infos zum Buch und zum Thema:

  • [Reinigungsunternehmen Batmaid in der Schweiz] Arbeit auf Abruf: Unterm Glanz der Oberfläche New
    Das Reinigungsunternehmen Batmaid will mit einem Anti-Schwarzmarkt-Image Marktführer werden. Sein Geschäftsmodell basiert jedoch auf ungesicherten Arbeitspensen – zum Teil mit gravierenden Folgen für Beschäftigte. (…)
    Batmaid startete als Techunternehmen, das das schnelle Onlinebooking perfektionierte. In einer Minute eine Putzkraft auswählen und einen konkreten Termin vereinbaren können, das war neu. 2015 legte das Start-up in Lausanne und Genf los, danach eroberte es Stadt für Stadt das ganze Land. Der ehemalige Tennisweltstar Martina Hingis als Werbebotschafterin sorgt für eine frische, sympathische Marke. Die Oberfläche glänzte von Anfang an in dieser Erfolgsstory.
    «Hausreinigung ‹à la Uber›»
    Maria Pereira* bleibt in dieser Geschichte auf der Strecke. Im Mai 2023 wird sie aus der Schweiz weggewiesen, weil sie laut den zuständigen Behörden zu viel Sozialhilfe bezogen habe (vgl. «Wegweisung wegen Sozialhilfebezug» im Anschluss an diesen Text). Sie hatte ab 2019 für Batmaid gearbeitet, und obwohl sie fast immer zur Verfügung stand, kam sie nie über einen Lohn von 1300 Franken. Eine zusätzliche Beschäftigung oder einen besseren Job fand sie nicht. So muss die über fünfzigjährige Portugiesin nach über zehn Jahren in der Schweiz ihre Koffer packen. Ladina Marthaler kennt Pereira aus dem Kafi Klick, einer Anlaufstelle für Armutsbetroffene in Zürich. «Sie ist eine sehr kleine und zierliche Frau, aber rau», erinnert sich die Koleiterin des Kafi Klick. Und sie habe gewirkt, als könnte sie viel aushalten. Das dürfte ihr geholfen haben, mit den Arbeitsbedingungen bei Batmaid klarzukommen.
    Nachdem sich Pereira 2019 dort als Reinigerin beworben hat, werden ihr Kund:innen zugeteilt. Für eine Stunde erhält sie brutto 23.70 Franken inklusive Ferienentschädigung. Die Wege zwischen den in der Stadt Zürich verteilten Haushalten gelten nicht als Arbeitszeit, auch die Transportkosten trägt sie selber. Ihre Einsätze sind zudem nicht garantiert: Die Kundin kann einen gebuchten Termin bis 48 Stunden vorher kostenlos stornieren, dann entfallen Arbeitsstunden und Lohn. Maria Pereira ist zäh und nimmt jeden Auftrag an. In den bestausgelasteten Zeiten wischt, staubsaugt und poliert sie achtzehn verschiedene Wohnungen und Häuser pro Monat – und kommt doch auf weniger als zwanzig Stunden Wochenarbeitszeit. (…)
    Es werden möglichst viele Frauen (und ein paar Männer) rekrutiert, damit für jedes Kund:innenbedürfnis jemand zur Verfügung steht. Aber niemand garantiert den Putzkräften vernünftige Arbeitsschichten oder einen existenzsichernden Lohn. Es ist das Geschäftsmodell, das Schollin-Borg in einem Interview im Westschweizer Branchenmagazin «Monde économique» kurz nach der Lancierung von Batmaid «Hausreinigung ‹à la Uber›, auf Abruf» nennt. (Später wird er den Vergleich mit dem Fahrdienst von sich weisen.) Die Plattform agiert als reine Vermittlerin, die Reinigerinnen und Kund:innen zusammenbringt, an jedem Einsatz mitverdient, aber keine Arbeitgeberpflichten kennt. (…)
    2019 interveniert die Gewerkschaft Unia in der Romandie und erreicht in Einzelfällen, dass die Frauen von Batmaid wie ordentliche Angestellte behandelt werden. «Die Firma lenkte ein, denn so konnte sie sich den Gang vor Gericht sparen, wo vielleicht generell gegen ihre Praktiken entschieden worden wäre», sagt Aldo Ferrari von der Unia. Nachdem sich auch andere Gewerkschaften und das Arbeitsamt der Waadt, wo Batmaid seinen Hauptsitz hat, eingeschaltet haben, ergreift das Start-up schliesslich die Flucht nach vorn.
    Grosse Versprechen
    In einer PR-Offensive verkünden Andreas Schollin-Borg und Eric Laudet, dass sie ab dem 1. Januar 2021 zum Arbeitgeber würden, weil Corona gezeigt habe, dass die Frauen und Männer an der Front mehr Schutz bräuchten. Was andere schon seit zwanzig Jahren machen, verkauft Batmaid seither als seine grosse Mission: die «saubere Anstellung» und die Bekämpfung des Schwarzmarkts. Der Neubeginn ist zunächst aber nur ein halber: Die bestehenden Kund:innen dürfen wählen, ob sie zum neuen Batmaid wechseln oder beim bisherigen Modell bleiben wollen. (…) Von den erhofften Verbesserungen wird nur eine für alle wirksam: die Lohnfortzahlung bei Krankheit oder Unfall. Doch in die Pensionskasse (PK) kann Pereira nichts einzahlen, weil sie die dafür massgebliche Lohnschwelle von 22 050 Franken im Jahr nicht erreicht. Das gilt für einen Grossteil der Angestellten. (…)
    Denn Batmaid hat sein ursprüngliches Geschäftsmodell nicht aufgegeben, sondern praktiziert es unter dem Label des verantwortungsbewussten Arbeitgebers weiter. Das zeigt auch ein Blick in die der WOZ vorliegenden Arbeitsverträge, die gemäss GAV die normale Wochenarbeitszeit enthalten müssen. Die meisten Frauen, mit denen die WOZ gesprochen hat, haben Verträge, in denen ihnen nur vier Arbeitsstunden pro Woche garantiert sind, selbst wenn sie zu hundert Prozent einsatzfähig sind, andere solche mit neun oder elf. Alle arbeiten mehr, als im Vertrag steht, und bei allen schwankt das monatliche Einkommen
    …“ Artikel von Marlene Kalt (Text) und Beatrice Geistlich (Foto) in der WoZ vom 15. Februar 2024 externer Link

  • Für Geld putzen in der wohlhabenden Schweiz: Eine Putzfrau, die schreibt
    „Vertraut man nicht viel lieber akademischen Fachleuten, die einem vom Schreibtisch aus erklären, was Ausbeutung ist, ohne sie kaum je am eigenen Leib erfahren zu haben? „Unter uns gesagt, das Dienen – vorzugsweise mit einem Lächeln – ist also unvermeidlich. Aber wir dürfen es nicht zugeben. Wenn einer nicht umhinkann, Sklaven zu halten, ist es dann nicht besser, er nennt sie freie Menschen? Einmal um des Prinzips willen, und zum zweiten, um sie nicht zur Verzweiflung zu treiben.“ (Albert Camus, Der Fall) Es gibt Aktivistinnen und Aktivisten, die sich an Bäume ketten, weil diese für ein ökologisch widersinniges, aber ökonomisch ertragreiches Projekt gefällt werden sollen. Bäume, manchmal ein ganzer Wald, sollen niedergemacht, gefällt werden, weil sie dem System im Weg stehen. Putzleute in aller Welt, oder sollte ich nicht besser sagen Dienstboten und Dienstbotinnen?, werden nicht gefällt, sondern nur verbraucht, gebraucht, sie stehen nicht im Weg, sondern verrichten als zumeist nicht wahrnehmbare Wesen ihre Arbeit. Sie werden nicht gefällt, sondern gebrochen, wenn sie nicht über eine starke innere Natur verfügen, sich von einer Religion, einer Familie oder sonst etwas Stabilisierendem getragen fühlen und gestützt werden. Wer „unten“ ist, schämt sich oft, ich jedenfalls schäme mich jedes Mal, wenn ich bei einem Arztbesuch, einem Behördentermin oder sonst wo meine Berufstätigkeit angeben muss: Putzfrau. Meistens sage ich Haushaltshilfe, das klingt nicht so schrecklich. (…) Gibt es nichts Schlimmeres, als in einem Land wie der Schweiz putzen zu gehen? Ja, es gibt so viel Schlimmeres, dass ich es mir gar nicht vorstellen kann. Ich denke an Sklaverei, die auch heute noch nicht überwunden ist, auch wenn die Menschen keine Ketten tragen. Ich denke an die zumeist weiblichen Hausangestellten, die in libanesischen Haushalten beschäftigt sind. An Bauarbeiter in Katar. An Latrinenreiniger in Indien. An „Zimmermädchen“ in von Sauftouristen bevölkerten Hotels in Spanien oder anderswo. Etc.! Ich putze „nur“ für meinen Krankenkassenbeitrag, für Bücher, eine Stehplatzkarte in der Oper, Kleinigkeiten – das Geld ist schnell weg, und manchmal mehr als weg, dann schenkt oder leiht mir mein Partner was. In der mir zugewiesenen Bedeutungslosigkeit schreibe ich nun als „Aktivistin“ meiner selbst an gegen die Drecksarbeit, die ich verrichten muss. Ich will mich nicht aufgeben. Ein symbolischer Akt, der „nichts bringt“. Mein Vorteil gegenüber den Bäumen – ich kann reden, schreiben. Mein Vorteil gegenüber denen, die so viel arbeiten müssen, um sich oder ihre Familie am Leben zu erhalten (und vielleicht auch Lesen und Schreiben nicht richtig lernen durften), so dass sie nur noch müde sind und kaum genug Ressourcen für die einfachsten Freuden des Lebens haben, ist, dass ich nur wenige Stunden putze und Bildung genossen habe, vor langer Zeit. (Ja, ein Genuss war es zum Teil wirklich.) (…) Es geht um Freiheit. Nicht die Freiheit, wie sie in der Zigarettenwerbung vorkommt, die Freiheit der nur noch grossartigen Momente, die Sonnenseite des Lebens ohne Staub am Boden und verkalkte Duschen, die Freiheit, sich bedienen lassen zu können und den Bediener, die Bedienstete zu Funktionen des eigenen Selbstgenusses und der Selbststeigerung zu degradieren – Freiheit ist vor allem die Freiheit, Dinge, die man nicht tun will, nicht tun zu müssen. Eine Wahl zwischen dem Schlechten und dem Noch-Schlechteren ist keine Wahl, wer das so sieht, hat ein zynisches Menschenbild und zu viel Glück im Leben gehabt, bei gleichzeitiger Phantasiearmut. In meiner Vision von einem besseren Leben für all jene, für die die „freie Entfaltung“ ihrer Persönlichkeit nur ein fadenscheiniges Versprechen ist und die Achtung vor ihrer Menschenwürde nur bedeutet, dass man sie nicht umbringt oder verhungern lässt, muss das System des Arbeitszwanges überwunden werden, baldmöglichst.“ Bericht von Christine Frey vom 25. März 2023 beim untergrundblättle externer Link
  • „… Als Witwe vom Land, mit drei Kindern im Zürcher Industriequartier wohnhaft, reinigte meine Grossmutter vor rund hundert Jahren «vornehme Häuser», wie sie das nannte, vorwiegend an der Zürcher Goldküste. Viel erzählte sie nicht, nur dass vom Putzen ihre späteren Knie- und Fingerschmerzen stammten. Damals wurde diese Arbeit fast ausschliesslich von Schweizerinnen erledigt. Meine Grossmutter fand sie noch auf direktem Weg, indem sie «an die Haustüren klopfen ging». Es soll schon einige wenige Reinigungsfirmen gegeben haben. Zahlen habe ich keine gefunden. Für damals. Heute gibt es nachweislich rund 5500 Firmen in der Branche, Zehntausende von privaten Arbeitgebenden, mehr als 200’000 Menschen, die mit Putzen ihr Leben verdienen: legal Angestellte oder Halblegale mit Arbeitserlaubnis und eine grosse Anzahl illegal in der Schweiz lebender Sans-Papiers, von denen wiederum rund die Hälfte in Privathaushalten putzt. Viele arbeiten nur Teilzeit, weil sie Kinder haben und alleinerziehend sind – oder weil sie schlicht und einfach nicht mehr Arbeit finden. Eine Tieflohnbranche mit Löhnen, die kaum zum Leben reichen, ist die Reinigungsarbeit, seit dafür bezahlt wird. Aber Putzen bot Menschen, die mit sehr wenig Schulbildung und ohne Sprachkenntnisse in die Schweiz kamen, immer auch Möglichkeiten, schnell Geld zu verdienen. Viele arbeiteten von Beginn an schwarz, und der schlechte Ruf, den die Branche und die Arbeit selbst haben, stammen sicher auch aus der Anfangszeit. «Putzen kann jede und jeder, Putzen ist einfach, Putzen ist billig», so die allgemeine Meinung. Doch ganz langsam ändert sich das Bild: Eine gute Putzkraft wird nicht nur körperlich extrem gefordert, sie muss auch planen und rechnen können, sie muss sozial kompetent sein. (…) Immerhin gibt es in der Reinigungsbranche der Deutschschweiz seit 2004 einen Gesamtarbeitsvertrag GAV. (…) Der GAV führt aber auch dazu, dass Betriebe kontrolliert und Verstösse bestraft werden können. So wurden im Jahr 2020 in der deutschen Schweiz 194 Betriebe kontrolliert. Bei rund 58 Prozent wurden Verstösse gegen Lohnbestimmungen festgestellt. Dies ist im Vergleich zu anderen Branchen eine extrem hohe Zahl. (…) Personen, die auf eigene Rechnung in Privathaushalten arbeiten, unterstehen den GAV-Regelungen nicht. Sie gelten als Selbständigerwerbende. Sie müssen meist auch auf viele andere Sozialleistungen, zum Beispiel gute Krankentaggelder und eine Pensionskasse, verzichten. Letztere ist erst ab einem Jahreseinkommen von 21’510 Franken obligatorisch (Stand 2021). Selbständige könnten sich allerdings freiwillig versichern. Meist wissen sie jedoch schlecht Bescheid über ihre Rechte und haben noch nie über ihr Leben im Alter nachgedacht. Bleiben sie in der Schweiz, werden sie von Altersarmut betroffen sein. (…) Plädieren möchte ich hier aber nicht für eine Anstellung von illegal Arbeitenden, sondern für eine andere Migrationspolitik. Wenn schweizweit mehr langjährige Sans-Papiers regularisiert würden, wie dies im Kanton Genf vor einigen Jahren geschah, wenn vor allem Migrantinnen und Migranten mit B-Bewilligungen keine Angst haben müssten, ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren, wenn sie Sozialhilfe benötigen, wäre schon viel erreicht. Unser Land wäre ohne die zahlreichen Migrantinnen und Migranten, die es sauber halten, ein anderes. Sie verdienen unsere Wertschätzung und Löhne, von denen sie leben können. Alle, legal oder illegal Arbeitende. Sie sind genauso ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft, wie es meine Grossmutter vor hundert Jahren war.“
  • Marianne Pletscher, Marc Bachmann: Wer putzt die Schweiz? Migrationsgeschichten mit Stolz und Sprühwischer, 256 Seiten, 131 Fotografien, Limmat Verlag 2022,  CHF 38.–, siehe Infos beim Verlag externer Link und dort der Umschlagtext:
    Buch von Marianne Pletscher und Marc Bachmann: Wer putzt die Schweiz? Migrationsgeschichten mit Stolz und SprühwischerVon den über 200 000 Menschen, die in der Schweiz Reinigungsarbeiten verrichten, sind die meisten Migrantinnen und Migranten. Oft nehmen wir sie nicht wahr, sondern stellen höchstens fest, dass unsere Büros am nächsten Morgen wieder sauber, die Restauranttoiletten geputzt sind oder im Spital alles frisch desinfiziert wurde. Falls jemand unsere Wohnung putzt, kennen wir sie oder ihn zwar persönlich, doch oft nicht viel persönlicher.
    Mit ihren Reportagen porträtieren Marianne Pletscher und Marc Bachmann neun Personen und ein Ehepaar, die in der Tieflohnbranche der Reinigung tätig sind oder waren – permanent unter Druck, die gesetzlichen Integrationsanforderungen zu erfüllen, keine Schulden anzuhäufen und möglichst keine Sozialhilfe zu beziehen. Dragica Rajčić Holzner erzählt zudem in einem poetischen Text aus ihrem Leben als einstige Putzfrau, in dem jeden Tag alles immer wieder schmutzig und ihr Schreiben nur als «Unterbruch des Putzens» möglich war.
    Wer sich auf dieses Buch einlässt, erhält nicht einfach eine statistisch richtige Antwort auf die Frage, wer die Schweiz putzt, sondern begegnet geflüchteten und immigrierten Menschen mit überwältigenden Erfahrungsschätzen, Schicksalen und Stolz.“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=203702
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