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Verfassungsreform in Russland: Heißt ja nicht Gesellschaftsreform…

Solidaritätsaktion gegen die Prozesswelle gegen Anarchisten in Russland, April 2019„… Den Wunsch nach Veränderungen in weiten Teilen der russischen Bevölkerung hat Putin durchaus zur Kenntnis genommen. Wie er darauf eingehen kann, ohne seine eigene Position zu schwächen oder nach dem Ende seiner derzeitigen Amtszeit 2024 gar in den Ruhestand zu gehen, erklärte er am 15. Januar in seiner jährlichen Ansprache vor der Föderalen Versammlung – ohne allerdings schon allzu viel zu verraten. Klar ist nur: Seine Perestroika (politischer Umbau) sieht diverse Verschiebungen der Befugnisse vor und macht auch nicht vor einer Verfassungsänderung halt. Damit es nicht bei leeren Worten bleibt, trat einige Stunden nach Putins Ansprache die komplette Regierung von Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew zurück. Dessen Nachfolger stand da bereits fest: Michail Mischustin, seit Donnerstag vergangener Woche offiziell Ministerpräsident, wurde von den Staatsmedien umgehend als unbescholtener Profi eingeführt und für seine langjährige Arbeit als Leiter der russischen Steuerbehörde gelobt und gerühmt – diese sei durch ihn gar zur besten der Welt avanciert. (…) Putin sprach in seiner Rede jedoch davon, dass die Gesellschaft nicht reif für eine parlamentarische Demokratie sei und Russland ein Präsidialstaat bleibe. Zumindest dürfte das gelten, solange er im Amt ist. Eine weitere Amtszeit bleibt ihm nach geltender Rechtslage, aber auch nach den geplanten Änderungen verwehrt. Als ­alternative Überinstanz brachte er den bislang kaum relevanten Staatsrat ins Gespräch, zu dessen stellvertretenden Vorsitzenden er prompt Medwedjew ernannte. Wie weit die Vollmachten des Staatsrats in Zukunft reichen könn­ten, ist noch unklar…“ – aus dem Artikel „Reform für den Machterhalt“ von Ute Weinmann am 23. Januar 2020 in der jungle world externer Link (Ausgabe 4/2020). Siehe dazu auch zwei weitere Beiträge zu Reaktionen und Bedeutung des Putin-Vorstoßes sowie drei Beiträge zur antifaschistischen, pazifistischen und gewerkschaftlichen Bewegung im heutigen Russland:

„In the Struggle You’ll Earn Your Rights: On the Proposed Constitutional Reforms and the Change of Russian Government“ vom Russia Socialist Movement am 18. Januar 2020 bei Europe Solidaire externer Link dokumentiert, ist eine Stellungnahme der trotzkistisch orientierten Gruppierung zur Putinschen Verfassungsreform, die als Schritt zur Machterhaltung bewertet wird – und dagegen grundsätzlich unterstrichen, dass der antisoziale und antidemokratische Charakter des russischen Staates nur durch den Kampf aller Unterdrückten für ihre Rechte verändert werden könne.

„Wirtschaftsnaher Technokrat“ von Reinhard Lauterbach am 20. Januar 2020 in der jungen welt externer Link zum neuen Ministerpräsidenten und der Frage der Kontinuität unter anderem: „… Nach seinem bisherigen Werdegang und seinen Förderern zu urteilen, ist Mischustin wohl dem wirtschaftsliberalen Flügel der russischen Elite zuzurechnen. Gleich am Tag seiner Ernennung kündigte er an, an der Erhöhung des Rentenalters festzuhalten; Forderungen nach einer Renationalisierung der russischen Bodenschätze – und damit der Enteignung der Oligarchie – erteilte er eine Absage. Insofern steht seine Ernennung zum Regierungschef in der Tradition von Putins Ansage gegenüber den Oligarchen anno 2000: Macht euer Geld, aber zahlt darauf Steuern und haltet euch aus der Politik heraus. Ganz, wie es Mischustin offenbar privat auch gehalten hat. Nach seiner vorgeschriebenen Vermögenserklärung haben er und seine Frau ein – in Euro gerechnet – zweistelliges Millionenvermögen und umfangreichen Immobilienbesitz in Moskau und Umgebung. Medien aus dem Umkreis des exilierten Oligarchen Michail Chodorkowski warfen Mischustin nach seiner Ernennung vor, weitere Grundstücke auf Kinder und Eltern umgeschrieben zu haben, um sie nicht in die Deklaration aufnehmen zu müssen…“

„Antifademo für und gegen Verfassung“ von Ute Weinmann am 20. Jannuar 2020 in neues deutschland online externer Link zur alljährlichen Moskauer Demonstration gegen Nazimorde im Jahr 2009 und ihren aktuellen bedingungen unter anderem: „… Anlass für die alljährlich stattfindende antifaschistische Demonstration ist der Jahrestag der Ermordung von Stanislaw Markelow und Anastasia Baburowa durch Neonazis am 19. Januar 2009. Dabei wird nicht nur an den Anwalt und die Journalistin erinnert, sondern auch an andere Antifaschisten, die Opfer des über Jahre andauernden rechten Terrors auf russischen Straßen wurden. Daneben greift die Veranstaltung auch andere aktuelle Themen auf. Dass in diesem Jahr der Fokus auf Repression und Folter gegen politische Aktivistinnen und Aktivisten lag, hat handfeste Gründe. Wo vor noch nicht allzu langer Zeit die größte Gefahr von teils gut bewaffneten Nazibanden ausging, sehen sich heute nicht nur Angehörige der Antifaszene vermehrt staatlicher Verfolgung ausgesetzt. So geht in Pensa ein Prozess gegen sieben des Terrorismus beschuldigte junge Antifaschisten zu Ende. Für den 10. Februar kündigte das zuständige Militärgericht die Urteilsverkündung gegen das sogenannte Netzwerk an, nachdem die Anklage Haftstrafen zwischen sechs und 18 Jahren gefordert hatte. Familienangehörige und Solidaritätsgruppen forderten auf zahlreichen Plakaten die Freilassung der jungen Männer. Zu hören waren auch antirassistische Losungen oder Sprechchöre wie »Gegen Homophobie, gegen Faschismus, gegen Sexismus«. Die Veranstalter sprachen von zehn Festnahmen durch die Polizei, darunter auch einige Minderjährige, die sich in den LGBT-Block eingereiht hatten. Die Demonstration am Sonntag war von linken Gruppen dominiert. Aus dem liberalen Spektrum schließen sich immer weniger Leute an. Die einen stören sich an linken Inhalten und roten Fahnen, andere halten das Neonaziproblem für erledigt. Dieses Mal gingen der Demonstration hitzigere Debatten als sonst voraus. Grund dafür war ein Aufruf des Verbands unabhängiger Abgeordneter auf Initiative der Moskauer Bezirksabgeordneten Julia Galjamina. Nachdem Präsident Wladimir Putin Mitte vergangener Woche eine Verfassungsänderung angekündigt hatte, die unter anderem die Sonderstellung der lokalen Selbstverwaltungsstrukturen aufheben soll, rief Galjamina zu einem »Marsch für die Verfassung« auf…“

„To remember is to fight: the legacy of Russian activist lawyer Stanislav Markelov“ von Thomas Rowley und Giuliano Vivaldi am 18. Januar 2020 bei LeftEast externer Link ist ein Artikel über eines der Mordopfer von 2009, den Anwalt Markelov, von dem in diesem Beitrag zahlreiche Dokumente seines Wirkens verlinkt werden, die aktiven Antifaschismus ebenso umfassten, wie den Kampf der Gewerkschaftsbewegung oder gegen Kriegspolitik.

„Stanislav Markelov: Russia’s Trade Union Movement, 1990s-2000s“ am 19. Januar 2019 bei Open Democracy externer Link war ein Beitrag zum (letztjährigen) 10. Jahrestag von Markelovs Ermordung, eine Dokumentation seiner Bewertung der Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung seit dem Ende der UdSSR.

„Picketing in Petersburg for the People of Idlib“ am 10. Januar 2020 bei The Russian Reader externer Link dokumentiert einen Bericht der Kriegsdienstverweigerer über eine Protestaktion aus Petersburg gegen die russische Kriegsführung in Syrien – hier als ein Beispiel für zahlreiche oppositionelle Aktivitäten der letzten Monate auch gegen die Kriegspolitik der Herrschenden in Russland.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=161863
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