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Die Terror-Urteile gegen die „Netzwerk-Anarchisten“ in Petersburg: Sieben und fünfeinhalb Jahre. Wegen einer nicht bewiesenen Verschwörung – und (unter anderem) dem Besitz von „Das Kapital“…

Solidaritätsaktion gegen die Prozesswelle gegen Anarchisten in Russland, April 2019„… Politische Strafjustiz richtet weniger über begangene Taten als über die Gesinnung. Am Montag fiel in St. Petersburg das Urteil gegen zwei Antifaschisten im »Netzwerk«-Fall. Sieben und fünfeinhalb Jahre Freiheitsentzug verhängte das zuständige Militärgericht gegen Viktor Filinkow und Julij Bojarschinow bei einer möglichen Höchststrafe von zehn Jahren. Beide sollen einer terroristischen Zelle angehört haben, die in Verbindung zu zwei Gruppen in der Stadt Pensa stand. Dort endete im Februar der Prozess gegen sieben Angeklagte, darunter auch die vermeintlichen Anführer, mit drakonischen Haftstrafen zwischen sechs und 18 Jahren. Im Januar 2019 war in St. Petersburg das erste Urteil in dem Fall verhängt worden: Igor Schischkin, der seit Ermittlungsbeginn mit dem für Terrorismusdelikte zuständigen Inlandsgeheimdienst FSB kooperierte, erhielt dreieinhalb Jahre. Bojarschinow legte erst nach längerer Untersuchungshaft unter absolut unzulässigen Bedingungen ein Geständnis ab. (…) Als zentrale Beweismittel für die Existenz des »Netzwerks« dienten zwei Dokumente: Ein programmatischer Text, der eine Beschreibung der Zielsetzung und Gruppenstruktur enthält, und das Protokoll eines Treffens vom Februar 2017. Beide Dateien fanden sich auf Computern der Marke Toshiba, die bei Hausdurchsuchungen bei in Pensa verurteilten Antifaschisten sichergestellt worden waren. Allerdings wies die Verteidigung auf zahlreiche Ungereimtheiten in den Gerichtsakten hin. So taucht in den Durchsuchungsprotokollen als Fundort ein Notebook einer anderen Marke auf, das allerdings keine Festplatte enthalten haben soll. Laut einem Gutachten wurden die Dateien nach der Festnahme des Besitzers manipuliert. Nicht durchsetzen konnte sich die Verteidigung mit ihrem Antrag auf Vorladung eines aus ihrer Perspektive zentralen Zeugen…“ – aus dem Bericht „Urteil im Fall »Netzwerk«“ von Ute Weinmann am 23. Juni 2020 in neues deutschland online externer Link zu den beiden neuerlichen Urteilen. Siehe dazu auch vier weitere aktuelle Beiträge zu diesem Schauprozess – vor allem über Solidaritätsaktivitäten (darunter auch einer kleinen Aktion in Berlin) – und den Hinweis auf unseren Bericht zu den Urteilen im Februar, sowie zu früheren Beiträgen zur Anarchisten-Verfolgung in Russland:

  • „Straflager für Aktivisten“ von Klaus-Hlge Donath am 22. Juni 2020 in der taz online externer Link unter anderem auch zu den Protesten gegen dieses und das vorhergehende Urteil: „… Dem Verfahren in Petersburg war bereits im Februar ein längerer Prozess vor einem Militärgericht in der zentralrussischen Stadt Pensa vorausgegangen. Dort waren gegen sieben Männer im Alter zwischen 23 und 31 Jahren Haftstrafen von sechs bis 18 Jahren verhängt worden. Die Ermittler behaupteten damals, über ausreichend Beweise zu verfügen, dass die Gruppe einen Umsturzversuch gegen die Regierung geplant habe. Keiner der Männer bekannte sich jedoch für schuldig. Auch bei der Höhe des Strafmaßes folgte das Petersburger Militärgericht den Urteilen aus Pensa. Das Strafmaß in Pensa hatte im Februar landesweit eine Welle der Empörung in Gang gesetzt. „Wir Ärzte wollen uns nicht damit anfreunden, dass Menschen gefoltert und erniedrigt werden“, forderten Mediziner. (…) Daneben meldeten sich auch 3.000 Wissenschaftler*innen mit einer Petition zu Wort: Im Gegensatz zu den „fiktiven Terrorakten“ der Verurteilten seien „der wirkliche Terror die Strafen“ meinten sie hinsichtlich des drakonischen Strafmaßes. Bereits Ende 2017 waren die jungen Männer festgenommen worden. Sie teilten damals linke Einstellungen und hegten Sympathien für Antifaschisten und Anarchisten. Einige arbeiteten in sozialen Projekten, andere kümmerten sich um Hilfe für Obdachlose. Nebenher verband sie jedoch noch ein Interesse für Paintball, das für die Anklage die Rolle eines zentralen Indizes erfüllte. Zum Paintball-Training traf man sich im Wald. Das wurde als Vorbereitung auf einen bewaffneten Kampf ausgelegt. Auch im ersten Verfahren konnte keiner der Anklagepunkte – ob Terrorismus oder Umsturzabsicht – am Prozessende nachgewiesen werden. Selbst der Nachweis über die Existenz des „Netzwerkes“ als Organisation konnte nicht erbracht werden. Einem Angeklagten wurde überdies noch der Besitz eines Bandes des „Kapitals“ von Karl Marx zur Last gelegt. Was früher als Pflichtlektüre galt, jedoch nicht geschätzt wurde, untermauert jetzt den Terrorverdacht. So warnte der Chef der KPRF, Gennadij Sjuganow, davor, „in jeder Gruppe von Jugendlichen Verschwörer zu wittern, die das Regime umstürzen wollen“…“
  • Etwa 20 Menschen stehen vor der Russischen Botschaft, protestieren gegen die Urteile gegen Julij Bojarshinov und Viktor Filinkov und zeigen Solidarität mit russischen Antifaschist*innenam 22. Juni 2020 im Twitter-Kanal Wer das liest ist externer Link – über einen kleinen, aber schnellen Solidaritätsprotest in Berlin
  • „The Network Trial against anti-fascists in Petersburg: Closing Statements by Defendants“ am 21. Juni 2020 bei libcom.org externer Link informiert sowohl darüber, dass die Staatsanwaltschaft 9 und 6 Jahre Haft gefordert hatte und über den Verlauf der Urteilsverkündung, als auch die abschließenden Erklärungen beider Angeklagter dokumentiert werden. Darin weisen sie die unbewiesenen Behauptungen der Staatsanwaltschaft zurück – und ihre Verteidiger weisen darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft sich in ihrem Schlussplädoyer (gesetzlich unzulässig) auf Dokumente berufen habe, die während des Prozesses niemals Thema gewesen seien…
  • „We Can Dance If We Want To“ von Jenia Kulakova am 22. Juni 2020beim Russian Reader externer Link in englischer Übersetzung (eines Facebook-Beitrags) geht davon aus, dass der 22. Juni in Russland „kein Tag wie jeder andere“ ist: Der Tag des Überfalls des Deutschen Reichs auf die UdSSR. Weswegen die Menschen, die in Solidarität mit den Angeklagten beim Prozess anwesend waren im Gericht getanzt haben – aus Freude über das Scheitern der verbrecherischen „Operation Barbarossa“ der Wehrmacht und – der Verteidigung der Freiheit…
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=174446
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