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Zugeständnisse an die massenhaften Proteste: Russische Rentenreform abgemildert. Proteste sollen fortgesetzt werden

Unter der Lupe: RentenarmutEs ist selten, dass Wladimir Putin sich mit einer Fernsehansprache direkt ans Volk wendet. Üblicherweise tut der russische Präsident das nur in der Neujahrsnacht, wenn es vom Spasski-Turm des Kreml Mitternacht läutet. Aber an diesem Mittwoch ging es nicht um freundliche Glückwünsche, sondern um die harte Realität der russischen Sozialpolitik. (…) Der Vorgang zeigt beispielhaft, wie Sozialpolitik in Russland funktioniert. Aus deutscher Perspektive sehen die Reformpläne vertraut aus: Gesunkene Geburtenzahlen und steigende Lebenserwartung sorgen dafür, dass immer mehr Rentner von immer weniger Beitragszahlern versorgt werden müssen. Warum also nicht das sagenhaft niedrige russische Renteneintrittsalter – bisher 55 Jahre für Frauen, 60 Jahre für Männer – schrittweise anheben? Ist der sportlich-rüstige Putin mit seinem kosmetisch geglätteten Gesicht nicht das beste Beispiel, dass ein Russe auch mit 65 Jahren noch ordentlich ackern kann? (…)Aber für den Großteil der Bevölkerung sieht das alles anders aus. Die durchschnittliche Lebenserwartung der russischen Männer liegt derzeit bei 66 Jahren, eine beträchtliche Minderheit russischer Männer wird damit das neue Renteneintrittsalter von 65 Jahren gar nicht erreichen. Frauen leben in Russland mit durchschnittlich 77 Jahren zwar deutlich länger – aber ihre Rentenjahre verbringen sie keineswegs im Ruhestand. Die russische Babuschka wird von ihrer Familie selbstverständlich eingespannt als Betreuerin der Enkelkinder oder als Einkommensquelle…“ – aus dem nahezu exemplarischen Beitrag „Putins Befreiungsschlag“ von Christian Esch am 30. August 2018 bei Spiegel Online externer Link – der nicht nur „übersieht“, dass auch in Berlin jede Menge geschminkter Gesichter herum laufen, sondern auch das „Problem“ umkreist, dass all zu viel und konkrete Kritik an dieser Rentenreform den Vergleich zur BRD nahe legen könnte, was vermieden werden muss. Dass dies in Russland anders ist, wird dann bezeichnenderweise mit „Fachleuten“ belegt… Zu Protest und Zugeständnissen siehe drei aktuelle Beiträge und den Verweis auf den bisher letzten unserer Berichte über diese (zumeist gewerkschaftlichen) Proteste:

  • „Putin stellt sich hinter die Rentenreform“ von Alex Eichholz am 30. August in neues deutschland externer Link unterstreicht zu Putins Zugeständnissen: „Gleichzeitig regte er Maßnahmen an, die die Auswirkungen der Reform «weitgehend abmildern» sollen. So wird das Rentenalter bei Frauen von derzeit 55 Jahren nicht wie ursprünglich geplant auf 63, sondern «nur» auf 60 erhöht. Kinderreiche Mütter sollen das Recht bekommen, vorgezogen in den Rentenstand einzutreten. Bei Männern wird das Rentenalter wie geplant stufenweise von derzeit 60 auf 65 Jahre heraufgesetzt. Weniger bedeutende Linderungen sollen dem Gros der Bürger die Reform schmackhaft machen. Diejenigen, die in den nächsten zwei Jahren in den Rentenstand wechseln sollen, können es ein halbes Jahr vor Erreichen des neuen Rentenalters tun. Die Zeit von fünf Jahren vor dem Rentenalter wird als «Vorrentezeit» betrachtet. In dieser Zeit dürfen betroffene Mitarbeiter nicht gekündigt werden. Auch darf ihnen der Arbeitgeber eine Neuanstellung aus Altersgründen nicht verweigern. Die Arbeitslosenunterstützung wird ab Januar 2019 von derzeit 4900 Rubel auf 11 280 Rubel verdoppelt. Für kleine Völker des Hohen Nordens bleibt die Rentenregelung beim Alten. In ländlichen Gegenden bekommen Rentner, die keine Nebenverdienste haben, einen 25-prozentigen Aufschlag auf die Grundrente…
  • „Putin mildert Rentenreform“ von Reinhard Lauterbach am 30. August 2018 in der jungen welt externer Link zu der Reaktion auf die Proteste: „Russlands Präsident Wladimir Putin hält an der von der Regierung beschlossenen Erhöhung des Renteneintrittsalters fest. In einer Fernsehansprache an die Bürger des Landes bat er am Mittwoch um Verständnis für diese Entscheidung. Sie sei durch die demographische Entwicklung erzwungen, das heißt, dass im Verhältnis weniger Menschen ins Arbeitsleben eintreten, als in den Ruhestand gehen. Alternativen, etwa die Zuschüsse aus dem Staatshaushalt an den Pensionsfonds zu erhöhen, Sondersteuern für Reiche oder auf die Energiewirtschaft zu erheben, seien durchgerechnet worden – sie reichten aber nicht aus. Seine eigene Zusage von 2005, solange er Präsident sei, werde am Rentensystem nichts verändert, relativierte Putin: Sie sei für die damalige Zeit angemessen und richtig gewesen. Doch hätten sich die Verhältnisse geändert…
  • „Putin unterstützt umstrittene Erhöhung des Rentenalters“ von Ulrich Heyden am 30. August 2018 bei telepolis externer Link zu weiteren Protesten: „Unmittelbar nach der Verkündigung der Regierungspläne Mitte Juli begannen Proteste gegen die Erhöhung des Rentenalters. Nach Berechnung des linken Duma-Abgeordneten Oleg Shein, der für die Partei „Gerechtes Russland“ im russischen Unterhaus sitzt, beteiligten sich im ganzen Land über 200.000 Menschen an Protestkundgebungen. Organisiert wurden die Proteste vor allem von der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), der Partei „Gerechtes Russland“, der unabhängigen Gewerkschaft Konföderation der Arbeit und unabhängigen Linken. Der Direktor des Instituts zur Globalisierung und sozialen Bewegungen, Boris Kagarlitsky, gehörte zu denjenigen, die in Internet-Interviews gegen die Rentenreform auftraten und damit mehrere hunderttausend Menschen erreichten. Der Politologe erklärte, „in Russland ist genug Geld da“. Das Loch in der Rentenkasse von 2,2 Milliarden Euro sei keine „kritische Größe“. Der Politologe wies auch darauf hin, dass der russische Haushalt in diesem Jahr ein Plus von 18 Milliarden Euro habe. Im nationalen Wohlstandsfond seien 45 Milliarden Euro angespart. Dieser staatliche Fond habe laut seinem Statut die Aufgabe, Löcher in der Rentenkasse zu stopfen. Die in den Medien verbreitete Behauptung, zwei Arbeitende müssten einen Rentner ernähren, stimme nicht, so Kagarlitsky. Denn von 42 Millionen Rentner seien offiziell 14 Millionen noch berufstätig und leisteten selbst noch Rentenabgaben. Bei sieben Millionen Rentner handele es sich um Schwerbehinderte. Faktisch gäbe es in Russland also nur 21 Millionen Rentner (bei einer Gesamtbevölkerung von 146 Millionen), die nicht arbeiten. (…) Harte Kritik kam nach Putins gestriger Fernsehansprache auch von KPRF-Chef Gennadi Sjuganow, dessen Partei am 19. Juli, bei der ersten Lesung des Gesetzprojektes, gegen die Rentenreform stimmte, zusammen mit der Fraktion von „Gerechtes Russland“ und Schirinowskis „Liberaldemokraten“. Sjuganow erklärte, der Präsident müsse die 200 Oligarchen des Landes in die Pflicht nehmen und – wie in Deutschland, den USA und China – progressive Steuern einführen, von der man dann die Renten zahlen könne. Die 200 russischen Oligarchen besäßen 90 Prozent des nationalen Reichtums. Geld sei also da…
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=136850
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